2. Einleitung
In einem Buch dieses Umfangs eine Religion und die aus ihr entstandene Kultur zu beschreiben kann zu Recht zumindest als kühn bezeichnet werden. Schließlich bestimmt sie das Leben von mehr als einer Milliarde Menschen. Sie existiert seit über 1400 Jahren und erstreckt sich über einen geographischen Raum zwischen dem westafrikanischen Senegal im Westen und der indonesisch-malayischen Inselwelt im Osten, zwischen der Insel Sansibar im Süden und den zentralasiatischen Republiken im Norden. Zudem behauptet sie sich als Minderheitenreligion in weiten Teilen der westlichen Welt.1 Die religiöse Praxis von Muslimen der Oberschicht in Kairo z.B. unterscheidet sich beträchtlich von der der ländlichen Bevölkerung in Bangladesch. Das, was von türkischen Arbeitsmigranten im Berliner Stadtteil Kreuzberg unter Islam verstanden wird, hat mit den Gedanken eines muslimischen Theologen an der Pariser Sorbonne wohl kaum etwas gemein. Gewiss, solche Dissonanzen treten auch bei der Beschreibung des Christentums auf. Wenn eine derartige Darstellung von einem christlichen Autor für ein Publikum verfasst wird, das selbst dieser Religionsgemeinschaft angehört oder zumindest aus einem christlich geprägten geistig-historischen Kontext stammt, kann die Kenntnis einer gemeinsamen Begrifflichkeit vorausgesetzt werden. Die notwendigerweise essenzialistische Beschreibung des Christentums wird durch die Lebenswelt des Lesers differenziert. Wenn ein nichtmuslimischer Autor für eine nichtmuslimische Leserschaft den Islam darstellt, kann bei den Adressaten die notwendige Differenzierungskompetenz nicht gegeben sein. Zwar haben heute die meisten Menschen in Deutschland eine gewisse Vorstellung vom Islam und den Muslimen, sei es aufgrund persönlicher Kontakte mit muslimischen Nachbarn, Arbeitskollegen oder Kommilitonen, sei es aufgrund von Urlaubs- oder Geschäftsreisen, sei es aufgrund von Medienberichten u.ä. Doch solche Kenntnisse sind zufällig, unsystematisch und beruhen nicht selten auf falschen oder verfälschten Informationen.
Verfälschungen hinsichtlich der Dogmen, der rituellen und gesellschaftlichen Praktiken des Islams sind kein Phänomen einer modernen antiislamischen Haltung westlicher Gesellschaften nach Terroranschlägen. Seit das Abendland die Existenz einer anderen, einer jüngeren monotheistischen Religion neben dem Christentum und dem Judentum zur Kenntnis nehmen musste, hat es auch immer Missverständnisse, Fehleinschätzungen und ganz bewusst falsche Darstellungen des Islams von westlicher Seite gegeben. (Gleiches muss natürlich auch für das Bild des Westens aus muslimischer Sicht gesagt werden.) Diese Haltung hing zunächst damit zusammen, dass die Einordnung des Islams für christliche Theologen des Mittelalters nicht einfach war. Angesichts der zahlreich vorhandenen Parallelen in den religiösen Traditionen und theologischen Meinungen konnte man Muslime nicht als Heiden betrachten, aber wegen der offenkundigen Unterschiede auch nicht als Christen. Man sah die Muslime daher als eine Art von Häretikern an, die es zum wahren christlichen Glauben zu bekehren galt.2 Gleichzeitig stellten muslimische Reiche über viele Jahrhunderte einen wichtigen politisch-militärischen Faktor im internationalen Kräftespiel der europäischen Staaten dar. Bei einem flüchtigen Blick erhält man den Eindruck, dass sich die Beziehungen zwischen muslimischem Morgenland und christlichem Abendland auf einen simplen Antagonismus reduzieren lassen. Die politische Praxis war aber stets eine sehr viel kompliziertere. Häufig handelten muslimische wie christliche Herrscher nach dem alten orientalischen Prinzip: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Die Entwicklung großräumiger strategischer Konzepte gab es auch schon im frühen Mittelalter. Karl der Große und der Abbasidenkalif Harun al-Raschid hatten mit dem Omayyadenkalifat von Cordoba einen gemeinsamen Gegner3 und das Frankreich Ludwigs XIV. hatte mit dem Osmanischen Reich gemeinsame Interessen im Mittelmeer und gegen die Habsburgische Monarchie.4 Dennoch blieb der Eindruck bestehen, dass der Islam eine ständige Gefahr für die abendländische Lebensweise darstellte. Es gibt die Auffassung, dass die Existenz des Islams eine wichtige Funktion für die Herausbildung einer abendländischen Identität übernahm. Das Interesse des Westens am Islam war in jedem Fall lebhafter als das der Muslime am Abendland. Da man sich unter christlichen Missionaren Gedanken darüber machte, auf welche Weise man die »Häretiker« auf der anderen Seite der Pyrenäen in den Schoß der Mutter Kirche führen könnte, wurden relativ früh Bemühungen unternommen, die wichtigen religiösen Quellen des Islams, vor allem natürlich den Koran, als das heilige Buch der Muslime, ins Lateinische zu übersetzen.5 Später waren es dann die Vertreter der Wissenschaft vom Alten Testament, die sich intensiv mit dem Islam und der Kultur vor allem der Araber beschäftigten. Sie glaubten, dass sich aus den sozialen, rechtlichen, religiösen und auch aus den technischen Verhältnissen insbesondere der beduinischen Gesellschaften der Arabischen Halbinsel Rückschlüsse auf die Situation der jüdischen Stämme des Alten Testaments ziehen ließen. Sie hofften, durch einen Vergleich mit modernen Beduinenstämmen zu einem größeren Verständnis des Altes Testaments zu gelangen.6 Dies war eine der Wurzeln für die Entstehung der Wissenschaft vom Orient, der Orientalistik.7 Das Interesse am Koran ging mit einem lebhaften Interesse für die mathematischen, naturwissenschaftlichen, technischen, medizinischen und philosophischen Errungenschaften der Muslime einher.
In der frühen Abbasidenzeit (750-1258) hatte vor allem in Bagdad eine lebhafte Übersetzungstätigkeit von griechischen und aramäischen Texten ins Arabische begonnen. Zahlreiche Zeugnisse der griechischen und hellenistischen Literatur, die in ihren Originalsprachen verloren gegangen sind, blieben in ihrer arabischen Version erhalten. Von dort gelangten sie dann wieder in den Westen. Die Muslime hatten in diesem Vermittlungsvorgang aber mehr als eine »Briefträgerfunktion« inne. Viele der aus den antiken Texten gewonnenen Erkenntnisse haben sie weiterentwickelt. Dies gilt für die Medizin wie für die Astronomie, aber auch und vor allem für die Philosophie. Ibn Sîna (Avicenna), der in der muslimischen Tradition eher als Augenarzt bekannt ist, oder Ibn Rushd (Averroes) waren auch für die abendländische Scholastik die wichtigsten Kommentatoren der Werke des Aristoteles.8 Eine Vielzahl von aus dem Arabischen stammenden Fremdwörtern in den europäischen Sprachen wie »Algebra«, »Giro«, »Alkohol« legen davon Zeugnis ab, in wie zahlreichen unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, aber auch ganz alltäglichen Lebensbereichen muslimischer Einfluss prägend war.9
Schließlich gab es ein ökonomisch-politisch-militärisches Interesse, das zur Beschäftigung mit dem Orient motivierte. Zunächst setzten sich vor allem die See- und Handelsmächte, für die das Mittelmeer eine entscheidende Rolle spielte, also die italienischen Stadtrepubliken sowie die Königreiche Spanien und Portugal, mit der geistigen und gesellschaftlichen Herausforderung, die der Islam für sie darstellte, auseinander. Später bemühte sich dann auch das seefahrende England um den direkten Zugang zu den Regionen, in denen Gewürze und andere kostbare Handelsgüter vermutet wurden. Man versuchte, die von Muslimen kontrollierten Seewege nach Indien zu umgehen oder die muslimische Konkurrenz auszuschalten.10 Dazu benötigte man u.a. auch Kenntnisse der muslimischen See- und Landkarten. Je stärker die europäischen Mächte wurden, desto größer wurde ihr Interesse an den islamischen Regionen des südlichen und östlichen Mittelmeers. Mit der Expedition Napoleon Bonapartes nach Ägypten im Jahr 1798 fand dieses Interesse seinen ersten praktischen Ausfluss. Die militärische Unternehmung war intensiv wissenschaftlich vorbereitet worden. Die französischen Truppen wurden von der »Mission de l’Égypt« begleitet, einer interdisziplinär zusammengesetzten Wissenschaftlergruppe, die später in einer berühmten und umfänglichen »Description de l’Égypt« die Ergebnisse ihrer Recherchen zusammenstellte.11 Die wachsenden Interessen der europäischen Kolonialmächte in verschiedenen Teilen der Welt, in denen Muslime lebten, verstärkten die wissenschaftlich-orientalistischen Bemühungen. In London, Paris oder dem niederländischen Leiden entstanden praxisorientierte wissenschaftliche Einrichtungen zur Ausbildung von Verwaltungspersonal, das für die Kolonien vorgesehen war.12 Eine gewisse Ausnahme bildete Deutschland, dessen koloniale Interessen sich erst spät artikulieren konnten. Zeitlich versetzt entstanden dann aber auch in Berlin und Hamburg vergleichbare Einrichtungen.13 In Deutschland stand eine romantische Orientbegeisterung im Vordergrund. Bedeutende Vertreter der deutschen Literatur wie Goethe, Rückert, Heine setzten sich intensiv mit dem Orient und seinen...