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E-Book

Galizien

Eine Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina

AutorMartin Pollack
VerlagInsel Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl236 Seiten
ISBN9783458732679
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR

Wer kennt heute noch Galizien? Wer weiß noch, wo es liegt - oder besser, wo es lag? Denn Galizien gibt es nicht mehr. Es ist von der Landkarte verschwunden. Sein westlicher Teil gehört heute zu Polen, sein östlicher zur Ukraine.
Joseph Roth, der vielleicht beste Kenner dieser Welt, aber auch viele andere Schriftsteller entstammen jener Gegend. Der jüdische Witz war hier zu Hause und die chassidischen Wunderrabbis, die im »Städtel« die uneingeschränkte Macht darstellten.
Martin Pollack lädt den Leser ein zu einer Reise in diese faszinierende und verlorengegangene Welt, beginnend im jüdisch-ukrainisch-polnisch-deutsch besiedelten Ostgalizien über die Bukowina - der Heimat Paul Celans und Rose Ausländers -, wo noch Rumänen, Ungarn, Slowaken, Armenier, vor allem aber Zigeuner sich unter das Völkergewirr mengten, bis nach Lemberg, der Hauptstadt des Kronlandes Galizien.
Zeitgenössische Photographien ergänzen dieses Reisebuch in die Vergangenheit.



<p>Martin Pollack, geboren 1944 in Bad Hall (&Ouml;sterreich), studierte Slawistik und Osteurop&auml;ische Geschichte in Wien und Warschau. Bereits w&auml;hrend des Studiums begann er seine T&auml;tigkeit als &Uuml;bersetzer und Journalist, der er bis heute nachgeht. Martin Pollack lebt in Wien.</p>

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Leseprobe

Przemy?l–Drohobycz


In Przemy?l konnte der Reisende die Karl-Ludwig-Bahn verlassen und auf die Erste ungarisch-galizische Eisenbahn umsteigen, die direkte Wagen I. und II. Klasse bis Budapest führte. Die Trasse durchschnitt die sanft gewellten Hügel um Przemy?l und folgte dann in südlicher Richtung dem Verlauf des Wiar in die Vorberge der Karpaten; bei Ni?ankowice zweigte die Eisenbahn in das Nebental der Wyrwa ab und erreichte nach knapp dreißig Kilometern die Bezirksstadt Dobromil, bekannt wegen der heilkräftigen Salzquellen in den umgebenden Bergen.

Dobromil war in früheren Jahrhunderten im Besitz der Grafen Herburt gewesen, die in dem Städtchen eine Druckerei gegründet hatten, in der die ersten sechs Bücher der Chronik des Jan D?ugosz (1415-1480) – Annales seu cronice inclyti Regni Poloniae; Annalen oder Chroniken des berühmten polnischen Königreiches –, eines der schönsten Dokumente der mittelalterlichen lateinischen Literatur in Polen, gedruckt worden waren. Die Ruine des Schlosses lag auf einem kegelförmigen Hügel südlich der Stadt.

Mehr als die Hälfte der 4000 Einwohner Dobromils waren Juden, die von der österreichischen Statistik nicht als eigene Nationalität geführt wurden, denn diese wurde allein durch die »Umgangssprache« definiert; die überwiegende Mehrheit der 600 000 Juden, die um 1900 in Ostgalizien lebten, sprach zwar Jiddisch, aber dieses galt von Amts wegen nicht als Sprache, die es lohnte, in eine Statistik zu schreiben; selbst assimilierte Juden waren nur selten geneigt, Jiddisch als eigene Sprache gelten zu lassen – Karl Emil Franzos zum Beispiel nannte es einen häßlichen, die Ohren beleidigenden »deutschen Jargon«, und als ?argon bezeichneten es auch die »Polen mosaischen Glaubens« voll Verachtung. Auf diese Weise wurden die galizischen Juden von der österreichischen Bürokratie den Polen, Deutschen oder, seltener, Ruthenen zugeschlagen, ein Irrtum, der die Betroffenen selbst freilich nicht besonders zu stören schien: sie hatten andere Sorgen. Sie waren voll und ganz damit beschäftigt, in einer rückständigen und verelendeten Agrargesellschaft, die sich in kleinen Trippelschritten auf das industrielle Zeitalter zubewegte, zu überleben. Viele Juden lebten vom Handel, speziell mit Getreide und anderen landwirtschaftlichen Produkten, als kleine Zwischenhändler, Hausierer, deren wöchentlicher »Umsatz« oft nur ein Schock Eier und ein paar Hühner betrug; als Handwerker, Schneider, Schuster, Bäcker, Tallesweber; als Pächter der Branntweinschenken, die den polnischen Grundbesitzern gehörten und von denen es in Galizien in jedem Dorf mindestens eine gab; als Lohnarbeiter. Nach einer inoffiziellen Statistik waren um 1900 von den insgesamt 810 000 Juden in Galizien: 150 000 Schankwirte, 100 000 waren in einem »nicht näher bestimmten Handel« beschäftigt, also Hausierer, 400 000 waren »Händler« und 10 000 Handwerker und Lohnarbeiter. Die polnische Bürokratie versperrte den Juden den Weg in die Ämter, die wachsende Genossenschaftsbewegung der ruthenischen Bauern verdrängte sie aus dem Dorfhandel und aus den Schenken. Das Leben der galizischen Juden war unsagbar elend.

Abb.?4: Juden in einem galizischen Schtetl

 

Gall-izia, pflegte Reuben Mehler, ein kleiner Handwerker aus Dobromil, zu sagen, Gall-izia hat seinen Namen bekommen, weil das Leben hier so bitter ist. Bitter wie ein Gallapfel.

Zehntausende suchten ihr Heil in der Emigration: in den Zeitungen lockten die Inserate von Schiffsagenturen, und redegewandte Agenten zogen von Schtetl zu Schtetl und rühmten den Glanz der goldenen Berge im Land der Verheißung über dem Ozean: Amerika. Die Agenten standen im Dienst der Schiffsagenturen, die Menschenfracht für ihre Dampfer suchten, und bekamen für jede Passage eine Kopfprämie; mancher schrieb aus Amerika, auch dort sei nicht alles aus Gold und man müsse hart arbeiten, um am Leben zu bleiben; aber Amerika lockte.

Auch der Sohn von Reuben Mehler aus Dobromil, ein besitzloser Hausierer, packte zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts seine Familie und die wenigen Habseligkeiten zusammen und machte sich auf die Reise nach Amerika; drüben angekommen, nannten sich die Mehlers bald Miller, aber sie sprachen immer noch Jiddisch, wenn sie auch zunehmend Ausdrücke aus der neuen Heimat daruntermischten. Der Enkel von Reuben Mehler, Saul Miller, schrieb für seine Kinder die Erinnerungen an das Schtetl an der Wyrwa nieder. Sie sollten erfahren, wie schwer es die Alten »drüben« gehabt hatten und wie rückständig und klein alles gewesen war. Wer konnte sich das in Amerika schon vorstellen?

 

Gewen is dos schtetl in a tol, arumgeringlt mit schene hojche grine berg, mit fruchtn un blumen gertner, a schmekende gute frische luft. Nor ejn sach hot gefelt: parnose.

Dos schtetl hot gehot a schenes skwer. Gerufen hot men es ringplaz. In mitn fun skwer hot a hojche schtodt-zejger ojsgeklingen jeder fertl schu, holbe, drej-fertl un ganze schu'n, asoj as jeder hot gewist di richtige zejt. Un dort, in jener hojcher gebejde is ojch gewen dos »rat-hojs« fun di schtodtischer-ferwalterschaft, der biro fun dem burgermejster, der polizej-agentur, der arestplaz, wen emezer hot sich epes fersindigt entgegn die ongenumene schtodtische gesezn, un die militerische komisie, geschikt fun der estrejcher regirung, un die fejerlescher, wos baschtanen fun asa pomp-maschin un zwej ferd, ejngeschpant far jeder sekund, zum lojfn leschn. Dobromil hot ch'mat jedn tog in woch gebrent.

?Nischt wejt fun'm plaz senen geschtonen die jidische balagules gewart ojf emezn zu firn zum bahn-schtanzie far funf grejzer. Arum dem ring-plaz senen gewen schene brejte schtejnerne trotuarn (sejd-woks), fun drej sejtn senen gewen jidische storikes, kremer, gewelber, welche hobn gewart ojf ejn tog in woch, a montog, far konis, wejl der tog hot gedarft gebn parnose far der ganzer woch, nebich. Montag ?egn dos bojerntum fun arum der gegend kumen, far sich ejnkojfn farschidene nojtige hojsbaderfenischn far der woch. In der selber zejt ?egn sej brengen zum farkojfn in schtodt arejn gens, katschkes, hiner, kelber, chusrim,ferd, kih, wegner mit holz un asoj wejter. /?…?/ In di ferte sejt is gewen a schene aptejk, der post-ofis, dos gericht-hojs un arejnfir-hojs (di schtodtische kretschma). Nit wejt fun der aptejk is gewen a weg zum brik, wo a schmol, klejn weserl hot geschtromt, un jidn ?egn sumer sich mechaje sejn. Is gekumen ejner, wos hot gehot a woser-mil un durch ferschidene politische kunzn (triks) opgeschnitn dem tejl fun woser far sejn mil, un dan is gewen ojs mitn sumerdign bodn sich. /?…?/ Arum 1905 hot Dobromil schtark progresirt in bezug zum balejchtn dos schtetl, ser grojser forschrit gemacht. Men hot nebn dem rat-hojs awekgeschtelt a gas-lamp, welche men hot gedarft jedn farnocht arunterlosn mit a schtrik, anfiln mit gas un antun a wejse mentele. Ojb m'hot es ongezundn hot es gegebn a blojlechn kolir fun licht un a polizej-man hot gehot dem grojsn kibud sich esk zu sejn mitn dem nejen lamp. Bejm mejn ferlosn Dobromil senen schojn gewen zwej aselche lampn.

(Saul Miller, Dobromil)

 

Um parnose drehte sich das ganze Leben im jüdischen Schtetl, es bedeutet Erwerb oder Lebensunterhalt, der so schwer zu verdienen war; skwer ist der amerikanische square, in Dobromil war das, wie in den meisten galizischen Orten, der Ringplatz in der Mitte des Städtchens; der schtodt-zejger ist die Uhr am Rathausturm und schu das galizisch-jiddisch ausgesprochene hebräische Wort für Stunde. Emezer heißt jemand, epes etwas und die fejerlescher sind die Feuerlöscher oder Feuerwehrmänner, die im Falle eines Brandes mit der von zwei Pferden gezogenen Pumpe ausrückten, um zu retten, was zu retten war. Gebrannt hat es in den galizischen Schtetln und Dörfern, in denen die meisten Häuser aus Holz gebaut und mit Schindeln oder Stroh gedeckt waren, vor allem im Winter, wenn geheizt wurde, ch'mat, fast, jede Woche. Balagules sind die jüdischen Droschkenkutscher oder Fuhrleute, die einen guten Teil des Personen- und Warentransportes in den Dörfern, abseits von den Bahnlinien, besorgten (nach den balagules wurden die balaguli benannt, aus dem kleinen polnischen Landadel in der Ukraine stammende Volkssänger, die nach dem Scheitern des polnischen Novemberaufstandes 1831 gegen Rußland alle nationalen Hoffnungen begruben, sich wie ukrainische Bauern kleideten und mit Pferd und Wagen von Gutshof zu Gutshof zogen, um in einfachen Liedern das Schicksal der Heimat zu beklagen). Bahnschtanzie ist die Bahnstation, storikes sind die stores, die Geschäfte, und konis die Kunden; hojsbaderfenischn ist der Bedarf, den die Bauern für ihren bescheidenen Haushalt beim jüdischen Krämer im Schtetl einkaufen; katschkes sind Enten und chusrim Schweine, die natürlich nur der polnische oder ruthenische Fleischer verarbeiten durfte. Kretschma ist eine Verballhornung des polnischen Wortes karczma und bedeutet Schenke, eine der wichtigsten Institutionen in jedem galizischen Dorf, in der die Bauern den Großteil des Erlöses ihrer mageren Ernte vertranken. Die Schankpächter waren fast durchwegs Juden, und daher wurde...

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