2. Das Leben und Wirken Mohammeds (um 570 bis 632)
Hauptquelle der Ausführungen ist das Buch über Mohammed von Bobzin [2011]. Darin werden unter vielen anderen folgende arabische Quellen genannt: die erste Niederschrift des Koran unter dem dritten Kalifen ´Utmân Ibn ´Affân (reg. 644-656), die Prophetenbiografie von Ibn Ishâq (~704-767), die Geschichtswerke von At-Tabarî (839-923) und Al-Wâquidî (747-823) sowie die Biografiensammlung von Ibn Sa’d (784-845)[4].
2.1. Die Zeit in Mekka
Mohammed wird in Mekka als Halbwaise (Vater vor Geburt gestorben) geboren, und zwar in der Sippe Haschim, die zum angesehenen Stamm der Quraisch gehört. Mit sechs Jahren verliert er seine Mutter und kommt in die Obhut seines Großvaters. Dieser verstirbt bereits nach zwei Jahren. Der nunmehr Achtjährige wird von seinem Onkel Abu Talib aufgenommen. Mohammed begleitet diesen später auf seinen Handelsreisen nach Nordsyrien, das damals zum Oströmischen Reich gehört.
Um 595
Im Auftrag der reichen Witwe Chadidscha führt Mohammed Handelskarawanen so erfolgreich nach Syrien, dass die fünfzehn Jahre ältere und zweimal verwitwete Frau dem Fünfundzwanzigjährigen die Heirat anbietet. Durch diese Ehe erlangt Mohammed als mekkanischer Kaufmann soziale Sicherheit und die finanzielle Unabhängigkeit. Chadidscha gebärt ihm vier Töchter und zwei Söhne. Letztere sterben schon im Kindesalter. Von den Töchtern wird Fatima die bedeutendste. Sie heiratet später den Sohn Ali von Mohammeds Onkel Abu Talib und wird so zur vielverehrten Ahnherrin der schiitischen Imame.
Um 610
Im Alter von vierzig Jahren gerät Mohammed in eine Phase des religiösen Umbruchs. Er verlässt zwischendurch immer wieder seine Familie und zieht sich zu asketischen Gebetsübungen auf den in der Nähe von Mekka gelegenen Berg Hira zurück. Dort erfährt er eine ihn erschütternde Gottesvision mit der Botschaft „Mohammed! Du bist der Gesandte Gottes!“
Der Empfang der ersten Gottesoffenbarung sowie der folgenden spielt sich so ab, dass der Erzengel Gabriel erscheint, die jeweiligen Botschaften Gottes in Form bestimmter Texte vorträgt, die Mohammed nachsprechen muss, auf diese Weise behält und als Gesandter Gottes an die Seinen weitergeben soll, weiter vortragen soll. Dieses Vortragen heißt auf Arabisch qur’an. Der Koran wird also nicht als ganzes Buch offenbart, sondern er entsteht als Summe von Einzeloffenbarungen.
Die Offenbarungserfahrungen führen Mohammed in eine persönliche Krise. Er zweifelt und verzweifelt, bis hin zu Selbstmordgedanken. Doch seine Frau Chadidscha glaubt an seine Berufung, richtet ihn immer wieder auf und bestärkt ihn darin, seinen Offenbarungsauftrag als Gesandter Gottes (rasûl Allâh) bzw. als Prophet Gottes anzunehmen.
Bis 614
Die traditionellen Berichte sprechen davon, dass Mohammed etwa drei Jahre lang seine Offenbarungen nur seiner Familie und einigen auserwählten Freunden mitteilt. Erst ab 613 beginnt er auch öffentlich zu predigen[5]. Er verkündet in Mekka seine Überzeugung vom einzig wahren Gott, von der Gleichheit aller Menschen vor Gott und er will seinen Stamm (später sein arabisches Volk) angesichts des bevorstehenden Endgerichts Gottes zur Umkehr, das heißt zur Abkehr von der Vielgötterei bewegen.
Als Gesandter Gottes und als von Gott erwählter Prophet sieht sich Mohammed in der Nachfolge der biblischen Propheten, zu denen auch Jesus gezählt wird. Er will die Offenbarungen Gottes, wie sie von früheren Propheten in anderen Sprachen über die Heiligen Schriften (wie Thora, Psalmen und Evangelien) anderen Völkern zuteil wurden, seinem arabischen Volk verkünden. Entsprechend lässt der Koran an verschiedenen Stellen Gott sprechen: „Dies sind die Verse der deutlichen Schrift. Wir haben sie als einen arabischen Koran herabgesandt“ (Sure 12,1 f.; ähnlich 41,1 und 43,1)“ [Halm 2010, 24].
Mohammed will also keine neue Religion stiften. Er empfängt die gleichen Gottesoffenbarungen für sein Volk wie sie Juden und Christen ursprünglich auch empfangen haben. Daher hofft er anfangs, dass sich diese ihm anschließen werden, zumal die damaligen Judenchristen mit ihm die Auffassung teilen, dass Jesus nichtgöttlicher Natur sei. Allerdings will Mohammed zum reinen Monotheismus zurück, wie er ihn in Abraham verkörpert sieht. „Abraham war weder Jude noch Christ; sondern er war ein wahrer Gläubiger, ein Gottergebener. Und er war keiner von den Beigesellern“ [Sure 3/67, nach Bobzin 2014,55].
Das heißt, dem einen und einzigen Gott andere Teilhaber, wie zum Beispiel einen Sohn oder einen Heiligen Geist, an die Seite zu stellen, ist für Mohammed Götzendienst. Darin können bzw. wollen ihm die Christen und Juden natürlich nicht folgen. Damit werden sie zu Gegnern, die zu unterwerfen sind, aber nicht zu bekehren; denn als Buchbesitzer zählen sie zu den tolerierten Religionsangehörigen, die als sog. Schutzbefohlene (dimmî) durch Zahlung einer Kopfsteuer in der islamischen Gesellschaft nach ihrem Glauben leben dürfen.
Aus der jüngeren Generation der Clans und aus den unteren Sozialschichten, den sog. Schwachen, kommen die ersten Anhänger, die sich selbst als (Gott-)Ergebene (muslimûn) und ihren Glauben als Ergebung (islâm) - nämlich als Unterwerfung unter den Willen Gottes – bezeichnen. Die ersten Bekehrten aus seinem Stamm sind Alî, der Sohn seines Onkels Abû Tâlib, sein Adoptivsohn Zaid Ibn Hârita und Abû Bakr aus der Sippe Taim.
Die Mehrheit der Stammesangehörigen lehnen Mohammeds Lehren ab. Sie halten ihn für einen Spinner, für einen von Geistern Besessenen. Sie lassen ihn aber gewähren, weil er anfangs eher als Warner im Hinblick auf das nahende Endgericht Gottes auftritt. Eine immer feindseliger werdende Opposition entsteht ab dem Zeitpunkt, ab dem er und seine Anhänger den Polytheismus offen zu bekämpfen beginnen. Denn mit letzterem sind nicht nur ideelle Werte, sondern auch materielle Interessen verbunden. Für die Mitglieder einiger Sippen ist die Betreuung der jährlichen Wallfahrt zu den einheimischen Göttern zu einem wichtigen Wirtschaftszweig geworden. Die Bedrohungen nehmen zu; aber die Loyalität seines Clans schützt ihn.
Der Widerstand schlägt in Verfolgung um, als den Gegnern Mohammeds bewusst wird, dass dem traditionellen Wertesystem des Stammes die Legitimationsgrundlage entzogen wird. Diese ruht auf den ungeschriebenen Gesetzen der Stammesaristokratie, wie z.B. den Verwandtschaftsbeziehungen, der Loyalität zum Stamm oder dem Vorrang des Alters vor der Jugend, usw. Alle von den Ahnen und Vätern tradierten Lebens-, Rechts- und Glaubensnormen stehen zur Disposition. An die Stelle der Stammesgemeinschaft tritt die Gemeinschaft der Gläubigen (umma), mit ihrem Bekenntnis zu Gott und ihrer Loyalität zu seinem Propheten, der seine Legitimität und Autorität über die Offenbarungen direkt von Gott ableitet. Muslim und damit Mitglied der Umma kann jeder Mensch werden, unabhängig von Alter und Geschlecht, von höherem oder niederem sozialen Status, aus jedem Stamm oder Clan. Leute aus der Unterschicht als Gläubige sind höher geschätzt als die ungläubigen Mitglieder der herrschenden Klasse. Damit wird die Mohammed-Gruppe zu einer Bedrohung für die Machthaber der Stämme.
Um 615
Mohammed sieht, dass er seinen verfolgten Anhängern keinen Schutz mehr bieten kann. Auf seinen Befehl hin wandert eine Gruppe nach Abessinien (dem heutigen Äthiopien) aus, denn mit dem dort herrschenden christlichen König (negus) bestehen Handelsbeziehungen und er hat den Ruf, gerecht und tolerant zu sein.
Die Zurückgebliebenen werden weiter in vielerlei Hinsicht boykottiert. Muslime der Unterschicht stehen außerhalb der Stammesnormen und werden sogar gefoltert. Obwohl Mohammeds Onkel Abû Tâlib selbst nicht den Islam annimmt, beschützt er im Sinne der traditionellen Sippenloyalität die Boykottierten so lange, bis der Boykott offiziell zurückgenommen wird. Die Umma-Mitglieder dürfen unter anderem wieder an der Kaaba ihre Gebete verrichten; denn Mohammed behält diese vorislamischen religiösen Riten bei, bettet sie aber in islamische bzw. koranische Sinnhorizonte ein.
Die Kunde vom Islam verbreitet sich immer mehr unter den arabischen Stämmen. Dies ist sicherlich auch eine Folge der Werbung, die Mohammed für seine neue Lehre während der jährlichen Wallfahrt unter den nach Mekka kommenden Pilgern betreibt.
619 bis 621
Mohammeds engste Stützen, seine Ehefrau Chadidscha und sein Onkel Abû Tâlib, sterben im Jahr 619. Oberhaupt der Sippe Haschim wird Mohammeds Erzfeind Abû Lahab. Damit verliert Mohammed den Schutz seines Stammes. Als er von einem drohenden Mordkomplott hört, sieht er sich gezwungen, nun außerhalb seines Stammes und das heißt zugleich außerhalb Mekkas nach Verbündeten zu suchen, die ihn als Stammesfremden im Sinne des altarabischen Gewohnheitsrechts schützen, und zwar im Rahmen eines kurzfristigen sog. Nachbarschaftsverhältnisses oder eines langfristigen förmlichen Bündnisses.
2.2. Die Zeit in Medina
621/622
Beim benachbarten Stamm der Thaquîf findet er kein Gehör. Da kommen ihm Stammeszwistigkeiten in der weiter nördlich gelegenen Oasensiedlung Yathrib (dem heutigen Medina) zugute. Zwischen den arabischen Stämmen der Aus und der Chazradsch herrscht Streit, und der Status der drei dort ebenfalls ansässigen jüdischen Stämme der Banû Qainuqâ, der Banû Nadîr und der Banû Quraiza ist ungeklärt. In solchen Situationen ist es Sitte, nach einem Schlichter Ausschau zu halten. Und die Wahl fällt auf den für seine Standhaftigkeit gegenüber dem eigenen Stamm und seine Führungsqualitäten schon bekannten Mohammed.
Zweimal kommen heimlich Delegationen nach Mekka...