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E-Book

Kein Heimspiel

AutorFredrik Ekelund, Karl Ove Knausgård
Verlagbtb
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl640 Seiten
ISBN9783641174392
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Karl Ove Knausgård sitzt mit Frau, vier Kindern und Hund zu Hause in Schonen. Er schaut Fußball im Fernsehen und schläft vor dem Bildschirm ein. Er mag Spiele, die Unentschieden ausgehn, Zigaretten, Kaffee und Argentinien.

Fredrik Ekelund ist nicht zu Hause. Er ist in Brasilien, wo er am Strand Fußball spielt und Public Viewing betreibt. Er liebt Spiele, die 4:3 ausgehen, Caipirinha und Brasilien.

'Kein Heimspiel' ist ein ungewöhnliches Fußballbuch, in dem zwei Autoren die WM in Brasilien und den Fußball als Ausgangspunkt für Reflexionen über Leben und Tod, Kunst und Politik, Klasse und Literatur nutzen. 'Faszinierend, fesselnd, aufschlussreich.' Sunday Times



Karl Ove Knausgård wurde 1968 geboren und gilt als wichtigster norwegischer Autor der Gegenwart. Die Romane seines sechsbändigen, autobiographischen Projektes wurden weltweit zur Sensation. Sie sind in 35 Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt. 2015 erhielt Karl Ove Knausgård den WELT-Literaturpreis, 2017 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur, 2022 nahm er in Kopenhagen den Hans-Christan-Andersen-Literaturpreis entgegen. Er lebt in London.

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Leseprobe

Glemmingebro, 11. Juni

Lieber Fredrik,

du hast recht: die Kontraste könnten nicht größer sein. Ungefähr zu der Zeit, als du in Rio de Janeiro aus dem Flugzeug gestiegen bist, war ich auf einem Klassenfest meiner ältesten Tochter, am Strand, einige Kilometer von hier, wir haben zuerst Würstchen gegrillt und dann Schlagball gespielt: dritte Klasse gegen Eltern, mit langen Schatten im Licht der untergehenden Sonne. Ich wollte dir eigentlich schreiben, sobald die Kinder im Bett liegen, gegen neun, aber ich war vor wenigen Tagen in den USA und habe immer noch Probleme mit dem Jetlag: Um halb neun schlief ich deshalb in voller Montur ein, mit allen Kindern um mich herum, und wachte erst um halb zwei in der Nacht wieder auf, umgeben von Stille. Der Reserveplan war, heute Vormittag zu schreiben, ich hatte eine Nanny bestellt, so heißen die jetzt, die sich um unsere vier Monate alte Tochter kümmern sollte, während ich schreibe. Anne, das ist der Name unserer kleinen Tochter, ist für gewöhnlich sanft und fröhlich und macht nie Probleme – sie schläft um halb neun und wacht morgens um sechs oder halb sieben wieder auf –, aber ausgerechnet heute schrie sie wie besessen. Das Kindermädchen kam nicht mir ihr zurecht, ich musste ihr Anne abnehmen, sie zunächst beruhigen, ihr danach etwas zu essen geben und die Windeln wechseln. Und als ich sie dann aus der Hand gab, was passierte? Ein neuer Anfall, sie brüllte, bis ihr Gesicht rot angelaufen war und die Tränen aus den Augen sprangen. Ich übernahm wieder, und als sie sich beruhigt hatte, nahm die Nanny sie im Kinderwagen mit. Sie sind noch immer draußen und gehen im nieselnden Sommerregen spazieren. Und ich kann endlich schreiben.

Aus dem reichen, dichten und großzügigen Brief, den du gestern geschrieben hast, ziehe ich den offensichtlichen Schluss, dass du ein Romantiker bist. Habe ich recht damit? Auf jeden Fall war das, was du geschrieben hast, für mich romantisch. Studium in Paris, Foucault und Derrida, die Begegnung mit jungen Menschen aus Südamerika – ich denke daran, was Paris für die lateinamerikanischen Schriftsteller bedeutet hat, vor allem für Cortázar, der viele Jahre in Paris im Exil lebte und dort einige der fantastischsten Geschichten schrieb, die ich je gelesen habe. Was du schreibst, erzeugt einen Sog bei mir, dort sein zu wollen, und ein Gefühl, dass es zu spät ist, dass sämtliche Züge abgefahren sind. Aber du warst dort. Und man hatte gerade dein erstes Buch angenommen – auch das ist romantisch, der junge Schriftsteller in Paris. Und auf einen letzten romantischen Punkt in deinem Brief möchte ich auch noch hinweisen, bevor ich damit aufhöre, und der hat mit der Arbeiterbewegung zu tun, sowohl die Beschreibungen der manuellen Arbeit, die sich in einigen deiner Bücher finden, als auch die Solidarität mit der arbeitenden Klasse. Als du mich einen Tag, bevor du aufgebrochen bist, hier im Garten besucht hast, haben wir über einen Aspekt gesprochen, über deine Faszination für die norwegische Kommunistische Arbeiterpartei AKP und nicht zuletzt für ihre vielen guten Autoren. Vor allem Dag Solstad, aber auch der Gentleman am Rande, der einzigartige Kjartan Fløgstad, der eine Sonderstellung genießt (auch in dem Sinne, dass er immer allein dasteht). Er war nie AKP-Mitglied, aber links, und sein Werk hat eine starke und nachhaltige Unterströmung. Von Schweden aus gesehen haben die siebziger Jahre in Norwegen und wie sie in der Literatur verarbeitet wurden etwas Exotisches. Wenn man aber wie ich in Norwegen aufgewachsen ist, war es weder romantische noch exotische Literatur, es war ganz einfach die absolut dominierende Literatur. Ich glaube, man darf die Bedeutung der dominierenden Literatur in der Zeit, in der man aufwächst, gar nicht unterschätzen, der Literatur, die einem so nahe ist, dass man sie im Vergleich zu den Büchern, die man später selbst schreibt, gar nicht erkennt. Dag Solstad, das war die europäische, vielleicht besonders die deutsche Literatur – obwohl ich das damals nicht wusste –, das waren Peter Handke, Robert Musil, Hermann Broch: die Moderne und die Nachbeben der Moderne. Streng, lakonisch, konzentriert, avanciert. Kjartan Fløgstad, das war die lateinamerikanische und spanische Literatur, das waren das Sprudelnde, der Überfluss, die Wortspiele und der Witz, aber auch das volkstümliche Leben, was dem rein literarischen Verständnis von Literatur am meisten fernliegt. Wenn jemand mir folgende Frage gestellt hätte: »In welchem Roman möchtest du am liebsten leben?«, hätte ich in zehn von zehn Fällen Fløgstads Bücher gewählt. Aber wenn die Frage gelautet hätte: »In welchem Roman fühlst du dich zu Hause?«, hätte ich leider Solstad sagen müssen. Ich bin Protestant bis in die Knochen. Ich bin jemand, der sich Dinge versagt, der nein zu Dingen sagt, und wenn ich auch gern über das quirlige, dampfende, extrovertierte und lebhafte Treiben auf der Welt lese, in dem es eine Fülle an Menschlichem, nicht aber an Materiellem oder Ökonomischem gibt, so ist es doch keine Welt, in der ich leben könnte; ich kann mich darin kaum aufhalten, ich wende mich ab, sehne mich danach, allein zu sein, ich schaffe es nicht, mich zu all dieser Großzügigkeit und Wärme zu verhalten.

Warum schreibe ich das?

Du weißt es wahrscheinlich schon. Brasilien, das ist nichts für mich. Nicht das brasilianische Leben, das ich tatsächlich nie erlebt habe und nur aus Beschreibungen kenne, und auch nicht der brasilianische Fußball. Während der WM 2002 in Korea und Japan, als Deutschland auf Brasilien traf, hielt ich zu Deutschland. Das hatte ich vorher nie getan, und vermutlich werde ich es auch nie wieder tun. Aber es ging um das kleinere Übel. Ich sah das Spiel mit meinem Bruder in einer Bar in Stockholm, und als Brasilien ein Tor schoss, beugte er sich vor und klatschte demonstrativ und direkt vor meiner Nase, als wollte er mir sagen: Du liegst dermaßen falsch, verstehst du das nicht?

Nicht zu Brasilien zu halten, auf Distanz zum brasilianischen Fußball zu gehen, ist ein wenig so, als würde ich sagen, ich ziehe hässliche Frauen hübschen vor, wenn ich wählen kann, entscheide ich mich immer für das hässliche Mädchen. Oder, um ein anderes Beispiel zu nehmen, das nicht sofort als sexistisch gelesen wird (das Buch soll ja auch in Schweden erscheinen), es ist, als würde ich sagen, ich lese lieber schlechte Bücher als gute.

Das war nicht immer so. Als ich jung war, wollte ich hinaus in die Welt, ich wolle alles sehen, riechen, hören und schmecken. Ich wollte das Leben. Ich wollte raus, hatte Pläne, durch Europa zu reisen, unterwegs zu arbeiten, mehrere Jahre fort zu sein und unterdessen an dem großen Roman zu schreiben. Ich wollte Menschen begegnen, Abenteuer erleben, mich verlieben, mich betrinken, die Welt bejahen. Dazu kam es jedoch nicht, ich bin nie losgefahren, stattdessen blieb ich in Bergen hocken – niemals Paris wie du, niemals Lateinamerika – und leitete einen langsamen, das Leben verneinenden Prozess ein, der jetzt seinen Höhepunkt erreicht hat; ich bin in einem winzig kleinen Dorf auf dem Land in Schweden gelandet, wo ich kaum einen Menschen kenne und überhaupt keine Sozialkontakte habe (gestern, beim Grillen mit den Eltern, habe ich tatsächlich mit niemandem geredet). Ich trinke so gut wie nichts, ich esse wenig, ich mache mir überhaupt nichts aus Essen. Ich habe ein permanent schlechtes Gewissen, weil ich zu wenig arbeite – denn nichts zu tun, ist nicht gut, das ist herumlungern.

Deshalb löst dein Brief, der von Jugend und Leben handelt, eine so starke Sehnsucht in mir aus. Aber der Zug ist abgefahren, und wenn morgen die Weltmeisterschaft beginnt, sympathisiere ich wie immer mit zwei Mannschaften: Argentinien und Italien. Wie du weißt, sind beide traditionell zynische Teams, die zu ihren besten Zeiten defensiv immer extrem gut organisiert waren und eher mit den Schwächen der Gegner als mit ihren eigenen Stärken gespielt haben. Sie haben immer über extreme Fähigkeiten verfügt, aber aus irgendeinem Grund setzten sie sie nie auf eine exzessive Art und Weise ein, niemals tun sie etwas Schönes um der Schönheit willen, sondern nur, wenn es in ein Ergebnis mündet. Und die Tatsache, dass sie es könnten, es aber zurückhalten, appelliert an etwas tief in mir Sitzendes.

Die ersten Fernsehbilder, an die ich mich erinnere, stammen aus dem Sommer 1978, der Weltmeisterschaft in Argentinien. Die Menschenmenge auf den Tribünen, die konfettiübersäten Grasplätze. Ricardo Villa, Osvaldo Ardiles, Mario Kempes. Ich wusste natürlich nichts von der politischen Situation, ich war neun Jahre alt, aber ich war verzaubert. Argentinien, die Mannschaft wie das Land, standen für etwas Abenteuerliches. Später wuchs das Abenteuerliche, denn ich las Borges, ich las Cortázar – ich lese jetzt Cesar Aires –, und ich las den polnischen Exilschriftsteller Witold Gombrowicz. (Seine Tagebücher sind fantastisch, sie wurden in Argentinien geschrieben, und wenn er gegen Ende nach Paris zieht, in die alte Welt, scheint es, als würden die Tagebücher sterben, sie verlieren ihre ganze Vitalität, ihre ganze Kraft – entsprang sie seinem Exildasein in Buenos Aires?) Darin steckt viel Romantik, aber eine andere Form der Romantik als die, die ich bei dir und in deinem Brief finde – aus dem einfachen Grund, dass dieses Brasilien, das du bejahst, eine physische Größe in deinem Leben ist, du bist dort unzählige Male gewesen, du hast Freunde dort, und du verfügst über handfeste Kenntnisse der Kultur – du sprichst die Sprache und hast brasilianische Literatur ins Schwedische übersetzt –, und du spielst Fußball wie ein Brasilianer. Das kommt noch dazu! Brasilien ist für dich gelebtes Leben, es...

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