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Konflikt und soziale Identität

Soziale Werte, Exklusion und Inklusion in einer heutigen Kirchengemeinde und im Matthäusevangelium

AutorNadja Boeck
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl504 Seiten
ISBN9783170263161
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis44,99 EUR
Diese interdisziplinäre Untersuchung verbindet eine empirische Studie zu einer heutigen Kirchengemeinde, die vor 20 Jahren einen Trennungskonflikt durchlebte, und exegetische Untersuchungen zum Matthäusevangelium. Die Rahmentheorie bildet der Social Identity Approach (SIA). Die explorative Studie zeigt auf, inwiefern Einsichten und Fragestellungen einer empirischen Untersuchung für das Verständnis des im Matthäusevangelium sichtbar werdenden Trennungskonflikts zwischen christusgläubigen Jüdinnen und Juden und der von Pharisäern geleiteten Synagoge fruchtbar gemacht werden können. Umgekehrt eröffnen sich von den gewonnenen exegetischen Einblicken aus auch neue Zugänge zu Konflikten in heutigen Kirchen bzw. Kirchengemeinden.

Dr. Nadja Troi-Boeck ist Lehrbeauftragte an der Theologischen Fakultät der Universität Bern und Pfarrerin in Buchs ZH.

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Leseprobe

1.         Der Social Identity Approach (SIA)


In einem ersten Schritt wird der Denkansatz, der dieser Untersuchung zugrunde liegt, vorgestellt: der Social Identity Approach (SIA).6 Diese Betrachtungsweise7 schaut aus einer bestimmten Perspektive auf Gruppenprozesse. Er setzt sich aus der „Social Identity Theory“ (SIT) und der „Self-Categorization Theory“ (SCT) zusammen, die oft miteinander verwechselt wurden. Die SIT fragt vorrangig nach den Auswirkungen von Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auf das soziale Verhalten gegenüber Nichtmitgliedern dieser Gruppe.8 In der Self-Categorization Theory wird dargelegt, warum Menschen sich überhaupt sozialen Kategorien9 und damit Gruppen zuordnen und wie diese Zuordnung zu bestimmten Kategorien geschieht.10

Der SIA bildet den hermeneutischen Rahmen der vorliegenden Studie und die Grundlage für die Fragestellungen. Der theoretische Ansatz wird nicht nur offengelegt, sondern es wird auch die Möglichkeit für die kritische Auseinandersetzung mit dieser Theorie gegeben. Die kritische Reflexion des Theorieansatzes fließt dort ein, wo Defizite sichtbar werden.

Die Entscheidung für den „Social Identity Approach“ erfolgte sowohl aufgrund der breit abgesicherten Feldstudien, die die Theorie bestätigen11, als auch aufgrund der Tatsache, dass er in den skandinavischen Ländern und Großbritannien bereits Eingang in die neutestamentliche Wissenschaft gefunden hat.12 Zusätzlich sprechen pragmatische Gründe für den Approach: Der SIA bietet eine Definition von Identität, die einerseits die Suchrichtung festlegt und andererseits offen genug für die Ergänzung durch weitere Konzepte und Fragestellungen ist.13 Da „Identität“ ein sehr schwammiges, kaum greifbares Konzept ist, häufig sehr inflationär gebraucht und kein stabiles und beschreibbares Produkt14, verspricht eine basale Arbeitsdefinition besonders hilfreich zu sein. Der SIA mit den zwei theoretischen Ansätzen der SIT und der SCT sowie die Definition von Identität innerhalb dieses Denkansatzes werden im Folgenden vorgestellt.

1.1        Die Social Identity Theory (SIT)


Die SIT wurde in den frühen Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts entwickelt. Entscheidend beteiligt waren Henri Tajfel (1919–1982) und John C. Turner (1947–2011). In seinem Buch „Gruppenkonflikt und Vorurteil. Entstehung und Funktion sozialer Stereotypen“ führt Tajfel die SIT ein und gibt Auskunft über sein persönliches Interesse an dieser Forschung.15 Seine furchtbaren Erfahrungen als polnischer Jude in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts hatten in ihm die Frage nach den Gründen der Diskriminierung von Menschen nur aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe erwachsen lassen. Durch Gruppenexperimente versuchte er herauszufinden, welche minimalen Gruppenbedingungen zur Diskriminierung zwischen Gruppen führen, mit dem Ziel, Vorurteile und soziale Konflikte zu verstehen.16 Leitende Fragestellungen waren u. a.: Warum benachteiligen Gruppenmitglieder einer Gruppe die Mitglieder einer anderen Gruppe? Was bringt Menschen zu der Ansicht, dass die eigene Gruppe besser sei als die der anderen?

1.1.1      Minimal Group Experimente


Das erste Experiment war ein einfaches Gruppenexperiment, das mit Jungen in einer Schule durchgeführt wurde.17 Es wurden zwei Gruppen erstellt, scheinbar aufgeteilt nach ihren Vorlieben für die Maler Kandinsky oder Klee. So wurde es den Teilnehmenden mitgeteilt. Tatsächlich aber war die Verteilung zufällig. Die Aufgabe war, dass die Jungen Punkte, die jeweils für einen kleinen Geldbetrag standen, an ein anonymes Mitglied sowohl ihrer eigenen, als auch der anderen Gruppe zuordnen mussten. Die Punkte waren jeweils auf einer Skala in Paaren angegeben.

Abbildung 1: Matrix eines Minimal Group Experiments18

Auf der linken Seite der Skala finden sich kleine Punktzahlen. Die Differenz zwischen den Punkten ist relativ groß zugunsten der eigenen Gruppen. Punktepaare aus diesem Skalenbereich bedeuteten also Maximalgewinn der eigenen Gruppe im Verhältnis zur anderen Gruppe (MD=Maximum Difference). In der Mitte der Skala gleicht sich diese Differenz aus bis hin zum Punktegleichstand. Hier wäre ein höherer Gesamtpunktegewinn für die eigene Gruppe möglich, aber die andere Gruppe erhält ebensoviel (F=Strategie der Fairness). Am rechten Ende der Skala finden sich die höchsten Punktezahlen. Die Differenz zwischen den Punkten ist relativ gering, allerdings zugunsten der anderen Gruppe. Trotzdem wäre an diesem Skalenende absolut gesehen der Maximumgewinn für die eigene Gruppe möglich (MIP=Maximum Ingroup Profit). Das bedeutete ebenso den größtmöglichen Gewinn für beide Gruppen (MJP=Maximum Joint Profit).

Aus dieser Skala konnten die Jungen jeweils ein Punktepaar auswählen. Dieser einfache Versuchsaufbau zeigte im Verlauf des Experimentes deutlich, dass Gruppenmitglieder bevorzugt eine Strategie wählten, die die eigene Gruppe favorisierte (IF=Ingroup Favoritism). Das heißt, sie entschieden sich gegen eine Strategie der Fairness (F). Allerdings ging die Strategie des Ingroup Favoritism auf Kosten der besten Ergebnisse, die nur durch eine Strategie der Fairness oder durch Maximum Joint Profit möglich gewesen wären. Gruppenziel war nicht, gute Ergebnisse an sich zu bringen, sondern wichtiger war es, besser zu sein als die andere Gruppe.19 Die Ergebnisse dieser Laborstudie wurden in verschiedensten Feldstudien getestet und bestätigt. Als Erkenntnis wurde festgehalten, dass die einzig notwendige und ausreichende Voraussetzung für die Diskriminierung zwischen Gruppen die Existenz von zwei Gruppen ist, also die Unterteilung in eine In-Group und eine Out-Group. Unter Diskriminierung ist anfänglich erst einmal eine Bevorzugung der eigenen und Benachteiligung der anderen Gruppe bzw. deren Mitglieder zu verstehen. Tajfel nahm daraufhin als erstes Prinzip an, dass Menschen, durch das Bedürfnis nach einer positiven sozialen Identität angetrieben, eine positiv gewertete Unterscheidung zwischen ihrer Gruppe und anderen konstruieren.20 Wenn Studien-Teilnehmende sich selbst als Mitglieder einer Gruppe einordneten, gab das ihrem Verhalten eine klare Bedeutung (distinct meaning).21

„This meaning was found by them in the adoption of a strategy for action based on the establishment, through action, of a distinctiveness between their own ‚group‘ and the other, between two social categories in a truly minimal ‚social system‘. Distinction from the ‚other‘ category provided … an identity for their own group, and thus some kind of meaning to an otherwise empty situation.“22

In Situationen, in denen zwischen der eigenen Gruppe und einer Fremdgruppe unterschieden wird, finden immer Vergleiche zwischen diesen Gruppen statt. Deshalb sieht Tajfel die Handlungsweise einer Person, die Teil einer dieser sozialen Gruppe ist, durch diese Mitgliedschaft bestimmt, da die Gruppenmitgliedschaft Einfluss auf die soziale Identität der Person hat. Das Bewusstsein der Gruppenmitgliedschaft kann sich positiv oder negativ auf das Selbstbild des Individuums auswirken23, wobei das Ziel der Vergleiche ein positive sense of belonging ist. Dabei betont Tajfel, dass ein Individuum immer Mitglied in einer Vielzahl von sozialen Gruppen ist. Bestimmte Mitgliedschaften sind zu bestimmten Zeitpunkten aber von besonderer Bedeutung.24

1.1.2      Definition der sozialen Identität


Aus ihren Studien heraus entwickelten Tajfel und Turner folgende Definition von sozialer Identität, die für die vorliegende Arbeit übernommen wird: „… social identity will be understood as that part of the individuals’ self-concept which derives from their knowledge of their membership of a social group (or groups) together with the value and emotional significance attached to that membership.“25

Die soziale Identität kann unterschieden werden von der personalen oder individuellen Identität26, die aus dem Wissen um die individuellen, jede Person einzigartig machenden Attribute erwächst, z. B. Können, körperliche Attribute, die Art, sich anderen gegenüber zu verhalten, psychologische Charakteristika, intellektuelle Qualitäten, persönlicher Geschmack.27 Beide, sowohl die personale als auch die soziale Identität, die jeweils als hypothetische, kognitive Strukturen konzeptualisiert werden, ergeben zusammen einen Großteil des Selbstkonzepts eines Menschen.28

Bezogen auf das Verhalten zwischen Gruppen heißt das nun: Nachdem sich ein Mensch in eine Gruppe aufgrund einer bestimmten...

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