PROLOG
ISSOIRE
»... Erfolg, insbesondere Ihr eigener, ist kein gutes Thema;
Misserfolg dagegen schon.«
Tim Krabbé
17. Juli 2011, Auvergne, Zentralfrankreich.
Mein Tag begann um 4.45 Uhr morgens auf dem Parkplatz des Hotels, wo ich Spezialöl auf meine Fahrradkette auftrug, während um mich herum warme, schwere Regentropfen niedergingen. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde ich richtig wach. Ich war auf dem Weg zur Ziellinie, um als einer von 4500 Amateuren an der Étape du Tour teilzunehmen. Bei dieser Veranstaltung auf abgesperrten Straßen hatten Radsportfans die Gelegenheit, ihren Helden nachzueifern und eine Etappe der Tour de France zu fahren. Sie führte 208 km weit von Issoire nach Saint-Flour durch die Gebirge des Zentralmassivs und war eine der härtesten Teilstrecken des 2011er Rennens.
Wir hatten gewusst, dass ein Unwetter kommen würde. Schon seit Tagen hatten sich dunkle Wolken über den erloschenen Vulkanen gesammelt, die den Ort des Starts umgeben. Allerdings hatten wir vergeblich gehofft, das Unvermeidliche zu verhindern, indem wir es einfach ignorierten. Während wir auf den Startschuss um 7 Uhr warteten, erfüllten die Wolken ihre dunklen Versprechungen. Es regnete schon seit Stunden. Der Bürgermeister von Issoire zählte den Countdown, und dann waren wir auch schon unterwegs. Ich kam früh über die Startlinie und fuhr zügig mit einer schnellen Gruppe mit. Mein Fahrrad glitt geschmeidig durch die Nässe.
Als Student hatte ich ein Jahr lang in der Regionalhauptstadt Clermont-Ferrand gewohnt, die nur 20 km entfernt liegt. David, ein französischer Freund aus dieser Zeit, lebte immer noch in der Gegend und unterrichtete an der Grundschule. Er hatte versprochen, sich an die Straße zu stellen und uns anzufeuern. Es war elend früh an einem Sonntagmorgen, und angesichts des aufspritzenden Wassers, der Regenmäntel, Windjacken und Regenschirme war ich mir nicht sicher, ob wir uns gegenseitig erkennen könnten, aber allein der Gedanke, dass er da war, gab mir Trost. Es war erstaunlich, dass diese Amateurtour während des nicht jahreszeitgemäßen Unwetters überhaupt Zuschauer angelockt hatte.
Nach 40 km spaltete der erste Anstieg an der Côte de Massiac das Feld. Die Steigung forderte ihren Tribut. Jeder Einzelne musste seinen eigenen Rhythmus finden. Oben erwartete uns ein ödes Plateau, an das sich wiederum der lange Anstieg zum 1200 m hohen Col du Baladour anschloss.
Auf einer Höhe von 1000 m begann der Wind aufzufrischen, die Temperatur sank und die Gruppe zerfaserte noch mehr. Es war nicht mehr möglich, sich im Feld vor den Böen zu verstecken. Regen peitschte in meine Augen, dann Hagel, aber während der ersten 20 km oder mehr fühlte sich noch alles in Ordnung an. Hände? Nicht zu kalt. Füße? Nicht zu kalt. Den Kopf nach unten, das Vorderrad fest im Blick, nahm ich eine Kurve und fiel zurück. Nebel schloss mich ein, die Welt schrumpfte zusammen: ein kleines Viereck aus schwarzem Asphalt vor dem Vorderrad, das Geräusch des Windes, Regentropfen, die auf meine Regenjacke trommelten. Plötzlich sah ich Radfahrer, die auf der gesperrten Strecke in die entgegengesetzte Richtung fuhren, um zum Start zurückzukehren. Dann folgte ein Abstieg. Fünf Kilometer? Drei? Lang genug jedenfalls, um die Hände und Füße gefühllos zu machen, sodass es fast unmöglich war, die Bremsen zu betätigen. Ich verzichtete auf meine Brille und senkte den Kopf, damit der Hagel meine Augen nicht treffen konnte. Arme und Schultern waren steif gefroren, und bei jedem Atemzug musste ich ein Frösteln unterdrücken. Ich wackelte vorwärts, schlenkerte von einer Seite zur anderen, den Lenker fest gepackt. Unten in Allanche, der ersten Verpflegungsstation, warteten meine schnelleren Kameraden bereits auf mich, mit vor Kälte blauen Lippen und unfähig zu sprechen. Wir schauten zu, wie junge und alte Radler sporadisch das Gefälle herunterkamen. Erschüttert sahen sie aus, wie sie dort abstiegen und ihre teuren Fahrräder zu Boden fallen ließen, um sich gleich daneben niederzulassen oder in die Wärme der Stadthalle zu flüchten, die wegen des Wetters geöffnet war. Auf dem Gipfel des nächsten »Col« sollten es nur 2 Grad sein, sagte jemand.
Also taten wir das, was professionelle Radsportler nur selten tun, vor allem bei der Tour de France: Wir gaben auf. DNF – Did Not Finish (»nicht beendet«). Tausende von anderen hatten es an diesem Tag auch getan.
Unter normalen Umständen hätte ich nicht aufgehört. Ich hasse es, zu versagen. Ich weiß noch, dass ich beim Eintreffen an der Verpflegungsstation mit leichter Verwirrung dachte, dass ich einfach weiterrollen sollte, denn wenn ich vom Fahrrad abstieg, würde ich nicht wieder aufsteigen. Der Anblick meiner Freunde, die bessere Radfahrer sind als ich und trotzdem schon aufgegeben hatten, wischte jedoch jeglichen Rest von Schuldgefühl und Selbstanklage hinweg. Unser Ausscheiden konnte ich mit sonderbarer Gleichgültigkeit betrachten. Die Busse für unsere Weiterfahrt nach Saint-Flour warteten neben langen Ständern für die Fahrräder, die uns auf einem Lastwagen nachreisen sollten. Wir gingen an Bord und warteten. Während wir langsam auftauten, stieg Dampf auf, der die Fenster beschlagen ließ, sodass die Szenerie draußen verschwamm und die elende Kälte weit weg zu sein schien. Wir begannen darüber zu lachen, wir furchtbar es gewesen war. Mein Freund Joe, der recht spät zu unserer Busgesellschaft hinzustieß, wurde kurz vor der Abfahrt gebeten, wieder auszusteigen, da es keinen Platz mehr für ihn gab. Es tat mir leid, dass er wieder in die Kälte hinaus musste.
Erst als ich ihn abends im Hotel wiedersah, wo er mit glasigen Augen und abgefüllt mit Bier und Kalorien herumirrte, wurde mir klar, dass er nicht auf den nächsten Bus gewartet, sondern sein Fahrrad wieder hervorgeholt hatte und bis zum Ziel gefahren war. Auf sonderbare Weise beneidete ich ihn um diese entbehrungsreiche Tat. Mein Stolz bekam seinen ersten Knacks. Das war der Zeitpunkt, an dem sich mein Ehrgeiz wieder meldete. Niemand hatte uns Vorwürfe gemacht, weil wir aufgegeben hatten – unter den gegebenen Umständen war es die richtige Entscheidung gewesen. Ich hatte mich von niemandem sponsern lassen, denn meine Freunde wussten, dass ich solche Veranstaltungen zu meinem Vergnügen mitmachte. Ich hatte auch nicht monatelang meine sozialen Kontakte schleifen lassen, um zu trainieren. (Am Samstag und Sonntag vor dem Ereignis war ich 380 km von Brighton nach Paris und zurück gefahren, weshalb ich nicht den Eindruck hatte, dass ich mich noch fit machen müsste.) Ich hatte genug Freizeit und war begeistert genug, um schon bald wieder über schöne Bergstraßen zu radeln. Kurz gesagt, niemand störte sich an meinem Versagen – nur ich selbst. Meinen dickköpfigen Stolz und das Gefühl von unzureichendem Durchhaltevermögen sollte ich so bald nicht abschütteln können. Das war schwieriger, als einfach in einen Bus zu steigen.
Die Erfahrungen, die die Profis der Tour de France eine Woche zuvor auf denselben Straßen gemacht hatten – allerdings bei besserem Wetter –, waren nicht weniger dramatisch gewesen: Auf dem temporeichen, schmalen Abstieg war es zu einem furchtbaren Zusammenstoß gekommen, bei dem sich einige Sportler Schlüsselbeine und Handgelenke gebrochen hatten. Sechs Teilnehmer waren dadurch gezwungen worden, ihre Fahrt nach Paris aufzugeben. Alexander Winokurow vom Team Astana musste von seinen Mannschaftskameraden aus einem Baum geborgen werden. Frakturen des Ellenbogens und des Oberschenkels machten seiner Abschiedstour ein Ende. Andere berühmte Teilnehmer wie Dave Zabriskie und Jurgen Van den Broeck erging es kaum besser. Später wurde Juan Antonio Flecha vom Team Sky von einem Fahrzeug des französischen Fernsehens zur Seite gedrängt, das auf einer engen Straße entgegen den Anweisungen der Rennleitung an einer vereinzelten Gruppe vorbeifuhr. Flecha stürzte vor Johnny Hoogerland zu Boden, wodurch der Holländer in einen Stacheldrahtzaun geschleudert wurde. Trotz tiefer Schnittwunden in seinem Schenkel, die mit 33 Stichen genäht werden mussten, setzte sich Hoogerland wieder auf sein Rad und beendete die Etappe, 17 Minuten nach dem Tagessieger.
Selbst vor meinem unehrenhaften Ausscheiden hatte ich große Ehrfucht vor den Leistungen, die professionellen Radsportlern abverlangt werden. Auch nur eine einzige Etappe im Kielwasser der Profis zu fahren (und dabei zu versagen), lässt einen nachfühlen, was sie durchmachen. Ihre Fitness und die Härten, zu denen sie sich zwingen, sind fast unvorstellbar. Für diejenigen, die sich einen Platz in den Annalen der Sportgeschichte sichern wollen, können sich die Schmerzen und Entbehrungen – vielleicht – lohnen. (Nach dem Unfall trug Hoogerland mehrere Etappen lang das Bergsieger-Trikot.) Der Profiradsport ist aber kein Nullsummenspiel. Hinter jedem Sieger stehen hundert andere Radfahrer, gesichtslos im Schwarm des Pelotons, und gehen ihrem gefährlichen Sport nach: Männer,...