Zwang verpflichtet.
Der gesetzliche Schulzwang zwischen Kindeswohl und Allgemeinwohl
Dr. Christoph Schickhardt
Ziel dieses Textes ist es, eine ethische Perspektive auf den gesetzlichen Schulzwang zu entfalten und dabei auf einige wichtige Differenzierungen hinzuweisen, sich daraus ergebende Fragen zu formulieren und mögliche Ansätze für erste Antworten zu skizzieren1. Die ethischen Prämissen, von denen ich dabei ausgehe, sind grundsätzlich der liberalen Sozialethik zuzuordnen. Eine zentrale Rolle spielt die Überzeugung, dass Kinder und Jugendliche, die der gesetzlichen Schulpflicht unterliegen – im Folgenden werde ich der Einfachheit wegen nur von Kindern sprechen – den gleichen moralischen Status haben wie Volljährige bzw. eigenverantwortliche Menschen. Demzufolge gelten die liberalen Prinzipien der Gerechtigkeit für Kinder ebenso wie für Erwachsene. Kinder haben grundsätzlich dieselben Rechte wie Erwachsene. Kinder als Gleiche anzusehen bedeutet nicht, sie immer undifferenziert auf dieselbe Weise wie Volljährige oder reife Menschen zu behandeln. Es bedeutet aber, ihre Interessen und Rechte gleichwertig zu behandeln und kinderspezifische Eigenarten, wie z. B. mangelnde Kompetenzen bei jungen Kindern, nicht zu ihrem Nachteil auszulegen. Mit Blick auf das Thema des Schulzwangs ist das liberale Prinzip der Freiheit von besonderer Bedeutung.
Es gibt gute Gründe, warum sich die liberal orientierte Sozialethik mit dem gesetzlichen Schulzwang auseinandersetzen sollte. Kaum eine andere Institution greift so massiv, lange und umfangreich in das Leben von Bürgern ein wie die mit staatlichem Zwang bewehrte Schule in das Leben der Kinder. Die Schule prägt und durchdringt das Leben der Kinder in einem ungeheuren Ausmaß und ist für ihre späteren Chancen ein sehr wichtiger und einflussreicher Faktor. Von einem liberalen Standpunkt aus ist Zwang, der durch die Gesellschaft oder den Staat auf Individuen ausgeübt wird, per se ethisch unerwünscht und steht unter Rechtfertigungsdruck. Darüber hinaus ist von einer liberalen Perspektive aus jede staatliche Tätigkeit, auch dann, wenn sie nicht mit Zwang verbunden ist, kritisch zu sehen und nur dann gerechtfertigt, wenn die staatliche Tätigkeit einen begründeten Bedarf abdeckt, der andernfalls von den Bürgen im Einzelnen oder in nicht-staatlichen Zusammenschlüssen nicht geleistet wird bzw. werden kann.
Die mit dem Schulzwang verbundenen Fragen berühren Kernüberzeugungen und zentrale Werte des liberalen Gedankenguts auf eine beunruhigende Weise und stellen eine beachtliche Herausforderung für den liberalen Standpunkt dar. Dass der Schulzwang im liberalen Gedankengut widersprüchliche Intuitionen anspricht, zeigt sich exemplarisch in einer Gründergestalt des philosophischen Liberalismus und Vorreiter all derjenigen, denen es um die Freiheit des Individuums und die Begrenzung von gesellschaftlichem und staatlichem Zwang und gesellschaftlicher Konformität geht: Wilhelm von Humboldt. In seinen Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen äußerte Humboldt 1792 starke Bedenken gegenüber einem öffentlich-staatlichen Schulsystem (L9/S. 69 ff.). Er engagierte sich aber zu einem späteren Zeitpunkt seines Lebens im preußischen Bildungssystem, wobei er sich auch des öffentlichen Schulsystems annahm. Weitere Widersprüche zeigen sich in einer wesentlich späteren Epoche, den 1970er-Jahren, in denen sich aus dem Geiste der Skepsis gegenüber staatlicher Autorität und dem Kampf für die Bürgerrechte und die Gleichberechtigung von Frauen wie auch anderer Bevölkerungsgruppen radikal-liberale Positionen mit Blick auf die Stellung von Kindern in der Gesellschaft entwickelten. Diese Postionen gingen selbstverständlich auch auf das staatliche Schulsystem ein. Exemplarisch dafür stehen die Thesen zur gesellschaftlichen Unterdrückung und gebotenen Befreiung von Kindern der Frauenrechtlerin Shulamith Firestone (L6). Die radikalen »Kinderbefreier« Richard Farson (L4) und John Holt (L8) lehnten das Schulsystem grundsätzlich ab, das für sie ein Hauptinstrument der Unterdrückung und Segregation von Minderjährigen darstellte: Das Schulsystem töte die Neugierde Minderjähriger ab und überlasse sie ungerechtfertigterweise dem Zwang und der Willkür von Lehrern und Einrichtungen, in denen die Rechte, die Würde und die Interessen des Kindes keineswegs handlungsleitend seien. Holt und Farson interpretierten die historische These der Entdeckung der Kindheit von Philippe Ariès (L1) so, dass die Kindheit ein sozial-ideologisches Konstrukt sei, das vor allem mit der Schule institutionalisiert und gesellschaftlich etabliert werde. Selbst in sehr liberalen Zeiten und Kreisen konnten sich derartig radikale Thesen zur Schule jedoch nicht durchsetzen.
Ebenfalls mit Blick auf das staatliche obligatorische Schulwesen entwickelte einer der prägenden Denker der US-amerikanischen liberalen Sozialethik, Joel Feinberg (L5), den Begriff vom Recht der Kinder auf eine offene Zukunft. Er beschäftigte sich in seinen rechtsphilosophischen Analysen u. a. mit einem Gerichtsverfahren am Obersten Gerichtshof der USA (Supreme Court of the United States), dem Fall Wisconsin v. Yoder. (vgl. L13) Darin wehrten sich Eltern, die der amischen Religionsgemeinschaft angehörten, mit Erfolg gegen die Schulpflicht, der ihr Kind über die achte Klasse hinaus (ungefähr im Alter zwischen vierzehn und sechzehn Jahren) durch ein Bundesgesetz unterstand. Sie führten an, dass die Schulpflicht eine Verletzung ihrer Religionsfreiheit sei. Im Zusammenhang damit formulierte Feinberg seine Idee eines Rechtes von Kindern auf eine offene Zukunft, das gefährdet werde, wenn Kinder keine öffentliche Schule besuchen und einzig und allein die von ihrer Gemeinschaft für nützlich erachteten Inhalte lernen, die ihnen durch Vertreter ebendieser Gemeinschaft in Abschottung von der restlichen Gesellschaft vermittelt werden.
Dieser schemenhafte Rückblick zeigt, dass mit dem öffentlichen obligatorischen Schulsystem Hoffnungen, Ideale und Werte des Liberalismus verbunden sind. Dazu zählen beispielsweise Bildung und Erziehung zu Freiheit und Autonomie; das Vermitteln von Kompetenzen, die für eine selbstständige und selbstbestimmte Lebensführung notwendig oder förderlich sind; die Vermittlung der Grundwerte und -rechte des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats; das Hinwirken auf Chancengleichheit und die Emanzipation junger Menschen aus bildungsfernen oder sozial schwächeren Familien; die Einführung in den sachlichen Geist der Wissenschaften und des allgemeinen intersubjektiven und öffentlichen Diskurses; oder eben auch das Kennenlernen vielseitiger Disziplinen und Lebensbereiche mit dem Ziel, Kindern möglichst viele Chancen und Optionen aufzuzeigen, unter denen sie dann die für ihre Interessen und ihre Idee eines guten Lebens passendsten wählen können. Andererseits haben liberale Denker gute Gründe dafür, erstens das große Ausmaß staatlichen Zwangs, das von der Schule ausgeht, zu kritisieren und zweitens in Anschluss an Ivan Illichs Kritik der Schule (L10) zu bezweifeln, dass die soziale Realität staatlicher Schulen und deren reale Auswirkungen auf Kinder zur Verwirklichung der genannten Hoffnungen und Ideale beiträgt oder nicht vielmehr Praktiken, Einstellungen und Werte fördert, die den liberalen Anliegen entgegenstehen, wie z. B. Strebertum, Anpassung, Konformismus und unkritische Unterordnung unter staatliche Autorität.
Mit (ethischem) Blick auf juristische Verfahren, in denen es um den Konflikt bürgerlicher Grundrechte mit dem Schulzwang geht, muss zwischen Eltern und Kindern als zwei verschiedenen Trägern von Grundrechten klar unterschieden werden. In den US-amerikanischen Gerichtsverfahren und -entscheidungen, mit denen sich Joel Feinberg auseinandersetzt, geht es beispielsweise vor allem um die Rechte der Eltern, die sich vom staatlichen Schulzwang in ihren elterlichen Erziehungsrechten oder ihrer Religionsfreiheit beeinträchtigt sehen. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es, soweit mir bekannt ist, nur Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Vereinbarkeit der Schulpflicht mit dem Grundrecht der Eltern auf Erziehung ihres Kindes, aber keine einzige Entscheidung zur Vereinbarkeit der Grundrechte der Kinder mit der Schulpflicht.
Auf den ersten Blick erscheint die Schulpflicht gleichermaßen einen Eingriff in die Rechte der Eltern wie der Kinder darzustellen. Vor allem aus normativ-ethischer Sicht ist jedoch mehr Differenzierung geboten bezüglich der Frage, wie Eltern und Kinder vom Schulzwang betroffen sind. Der Hintergrund dieser Differenzierung liegt in der normativen Gestalt des Eltern-Kind-Verhältnisses begründet. Dieses ist ethisch so zu verstehen, dass Eltern nicht aufgrund ihrer Elternschaft spezifische und genuine Rechte als Eltern gegenüber ihren minderjährigen bzw. unreifen Kindern haben. Prinzipiell ist aus ethischer Sicht die Rolle der Eltern gegenüber ihrem Kind nicht durch Rechte, sondern durch Verantwortung und Pflichten der Eltern gegenüber ihrem Kind zu bestimmen (L11/S. 248 ff.). Eltern sind dem Wohle und den Rechten des Kindes verpflichtet, solange und insofern das Kind nicht ausreichend kompetent und eigenverantwortlich über sein Wohl und seine Interessen bestimmen kann. Eltern dürfen nicht nach ihrem Belieben oder willkürlich über ihr Kind verfügen, sondern sind dazu verpflichtet, ihr Kind in einer Weise zu behandeln, die dem Schutz und der Förderung des Wohles des Kindes dient. Meines Erachtens ist daher im Verhältnis gegenüber dem Kind die Rede von Elternrechten unangebracht. Bei einem Konflikt zwischen den...