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E-Book

Südlich von Hetero

zehn Jahre später nachgefragt

AutorMatthias Nebel, Patrick Fina
VerlagHimmelstürmer Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl204 Seiten
ISBN9783863616076
FSK16
Altersgruppe16 – 
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Schwule Jugendliche gibt es überall. Auf dem Land, in der Großstadt, im Norden, im Süden. An Schulen, im Schwimmverein und im Jugendclub. Aber wie geht es denen? Wie ist das, jung und schwul zu sein? Wie schrecklich, wie schön, wie normal?

Diese Fragen haben sich Patrick Fina und Matthias Nebel gestellt. Auf der Suche nach Antworten sind die beiden quer durch Deutschland gereist. Sie haben junge Schwule getroffen und ihre Geschichten aufgeschrieben. Dabei ist dieses Buch entstanden: Ein Portrait von zehn verschiedenen jungen Menschen. Sie erzählen über ihr Coming-out und ihr Leben in einem teils überraschend toleranten, manchmal aber auch erschreckend aggressiven Umfeld.

Zehn Jahre sind seitdem vergangen. Zeit, noch einmal nachzufragen: Wie geht es den mittlerweile Erwachsenen? Was haben sie erlebt, wie zufrieden sind sie? Die Autoren fragen aber auch: Warum hat sich gesellschaftlich und politisch so wenig verändert in den vergangenen Jahren? Warum dürfen zum Beispiel Schwule und Lesben in Deutschland immer noch nicht heiraten, warum keine Kinder adoptieren?

Wir haben allen Grund, unzufrieden zu sein!

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Leseprobe

 

Der Edelstahl glänzt, als wäre er erst vor wenigen Minuten poliert worden. Gespenstisch wirkt die Ruhe im Aufzug und nur ein leises Surren sagt uns, dass wir nicht stecken geblieben sind. Erste Etage. Die Spiegel an den Wänden des Aufzugs lassen das Gefährt groß wirken, spiegeln polierten Edelstahl wieder und schaffen einen unwirklichen Raum, der nie zu enden scheint. Zweite Etage. Draußen, vor der Haustür, war es auch ruhig. Obwohl wir mitten in Karlsruhe sind; dritte Etage. Hin und wieder nur eine Straßenbahn, die den Weg kreuzt, ansonsten liegen die Straßen friedlich vor dem schönen Grünstreifen, der den Straßenlärm verschluckt. Vierte Etage. Das Surren verstummt und die Türen öffnen sich.

Direkt vor uns wird eine Wohnungstür geöffnet, laute Housemusik schallt uns entgegen. Vor uns steht ein junger Mann, der in großen Buchstaben das Wort „Rock“ auf dem T-Shirt stehen hat. „Hallo, ich bin Orkan“, sagt er und bittet uns hinein. In die schicke Wohnung im schicken Neubau mit dem schicken Aufzug im Herzen der Stadt. Die Einrichtung ist sparsam und modern. Hier eine Sitzgruppe, dort ein Tisch. Dazwischen viel Raum, der wirkt und die klar strukturierte Musik, die sich perfekt in das Ambiente eingliedert. Der Junge ist chic.

Hinter einer Tür plätschert eine Dusche vor sich hin. „Mein Freund“, sagt Orkan, zeigt auf die Tür, hinter der vermutlich das Badezimmer steckt. Aus der Küche kommt gerade jemand anderer. Orkan stellt uns Jan vor – ein Freund. Alleine ist Orkan nur sehr selten, in seinem Leben ist immer was los. Er hat viele Freunde. Nicht nur in Karlsruhe, sondern auch in Wien. Da ist er unter der Woche, arbeitet als Unternehmensberater bei einer großen Bank.

Orkan ist ständig unterwegs. Mal in Wien, mal in Karlsruhe. „Mein zu Hause ist aber Karlsruhe“, sagt er. Hier hat er seinen Freund, hier ist er aufgewachsen. Wenn man Orkan allerdings nach seiner Heimat fragt, kriegt man eine Antwort, mit der man zuerst nicht rechnet. „Türkei“, sagt er, obwohl er in Deutschland lebt und nur in die Türkei fliegt, um Urlaub zu machen oder um den Teil der Familie zu besuchen, der dort lebt. Denn Orkans Eltern kommen ursprünglich aus der Türkei. Sind nach Deutschland gekommen, vor vielen Jahren, um hier zu arbeiten und zu leben. Orkan ist hier geboren.

Als er zwei Jahre alt war, trennte sich Orkans Mutter von ihrem Mann. Von diesem Tag an gab es keine Vaterfigur mehr in seinem Leben. Seine Mutter und seine Oma versuchten beide, diese Rolle zu übernehmen. Das war nicht immer unkompliziert. Die Oma legte Wert darauf, den kleinen Orkan sehr traditionell zu erziehen. Die Mutter hingegen war immer schon sehr westlich gewesen. Achtete darauf, dass der kleine Orkan hin und wieder ins Kino kam oder bei Freunden spielen durfte. Manchmal sogar so, dass die Oma das nicht bemerkte, denn bei ihr hätte Orkan das nicht unbedingt gedurft. Das war für Orkan zwar einerseits schön, andererseits musste er ständig einen Spagat zwischen den beiden Kulturen schaffen. Mal eher Türke sein, dann eher Deutscher. Oder Türke, der in Deutschland lebt. Alles eine Frage der Übung und weil er es gar nicht anders kannte, fiel Orkan dieser Spagat nie schwer und er nahm aus beiden Kulturen etwas mit in seinen Alltag.

Musste er auch, denn in der Schule war Orkan immer der einzige Türke in der Klasse gewesen. Ihn störte das nicht und den anderen Kindern in der Klasse war es egal. Ausgegrenzt hat sich Orkan nie gefühlt. Dass er etwas anders war, merkte er nur hin und wieder, wenn er nicht bei Freunden übernachten durfte oder als einziger in seiner Klasse ein bestimmtes Fest feierte.

Orkan wurde zehn Jahre alt, und einiges änderte sich. Seine Mutter lernte einen neuen Mann kennen, heiratete ihn und Orkan hatte die Vaterfigur, die ihm sein Leben lang gefehlt hatte. Orkans neuer Vater übernahm die Aufgaben, die ihm traditionell zugeteilt waren. „Er hat mir beigebracht, was es heißt, Muslim zu sein“, sagt Orkan. „Das ist im Islam so üblich.“ Die Männer bringen den Söhnen die Religion bei. Zusammen lasen sie den Koran, beteten und unterhielten sich über Religion. Immer und immer wieder und Orkan machte das so viel Spaß, dass er mit Begeisterung bei der Sache war. Er ging regelmäßig in die Moschee und in die Koranschule. Das bedeutete natürlich auch Einschränkungen. „Während die anderen Kinder im Schwimmbad waren, saß ich in der Koranschule“, erinnert er sich. „Aber ich fand das toll. Ich habe nichts vermisst.“ Orkan hatte nie das Gefühl, dass ihm irgendetwas fehlen würde. Ganz im Gegenteil. Zum ersten Mal schien alles komplett zu sein: Er hatte seine Freunde, die fast alle Deutsche waren. Er hatte endlich einen Vater und den Glauben, der ihn erfüllte. Das Hin- und Herspringen zwischen den Kulturen war für ihn kein Problem. Er war glücklich mit sich selbst und seinem Leben.

Als Orkan ungefähr fünfzehn Jahre alt war, wurde alles etwas komplizierter. Denn da stand plötzlich und frech grinsend seine Sexualität vor ihm und wollte, dass er sie kennen lernte.

 

 

Und als er das tat, wurde Orkan klar, dass er Jungs sehr viel interessanter fand als Mädchen. „Ich wusste, das ist nicht normal“, erinnert sich Orkan. Er hatte von vielen anderen Muslimen gehört, dass das etwas schlimmes ist. Hatte mitbekommen, wie sie über die Schwulen redeten, dass es eine Sünde sei und verboten.

Orkan versuchte, die Gefühle, die er hatte, unter den Tisch zu kehren. Immer und immer wieder. Ein Sünder wollte er nicht sein, also auch nicht schwul. Aber je häufiger Orkan seine Gefühle verleugnete, desto stärker wurden sie. So stark, dass er sie irgendwann nicht mehr wegdiskutieren konnte. Konflikt. Einerseits wusste er, dass er schwul ist. Andererseits wusste er aber auch, dass er das eigentlich nicht sein sollte. Jahrelang brachte seine Oma ihm bei, wie er als türkischer Mann zu leben habe. Sie bläute ihm ein, dass er später einmal eine Familie haben würde. Mit einer Frau und Kindern. Eine Spielregel, die Orkan gerne erfüllt hätte. „Als Türke musst du heiraten und Kinder in die Welt setzen, damit du deinen Nachnamen weitergeben kannst. Das ist in unserer Kultur sehr wichtig“, erklärt er. Würde Orkan wirklich schwul sein, könnte er seinen Nachnamen nicht weitergeben. Geschwister hat er nicht. „Ich bin der einzige in meiner Familie, der den Namen noch trägt. Er wird also aussterben, wenn ich keine Kinder kriege.“ Ganz davon abgesehen, was seine Familie sagen würde, wenn er ihnen davon erzählte. Seine Mutter, die sich auf Enkel freute. Die Oma, die in ihrer Welt voller Traditionen lebte und der Vater, der ihm den Islam gelehrt hatte. Einige Zeit lang verdrängte Orkan seine Gefühle. Immer, wenn er Jungs nachschaute, ohrfeigte er sich geistig selbst. Das half für den Moment, aber auf Dauer gesehen war das keine Lösung. Irgendeinen Weg müsste es geben, diese Gefühle loszuwerden, da war sich Orkan sicher.

 

 

Er ging ins Internet und fing an, sich über Homosexualität zu informieren. Über seine Gefühle und das, was damit zusammenhängt. Ging ins Internet und recherchierte so, als müsste er in der Schule ein Referat halten – ähnlich emotional war er bei der Sache. Er recherchierte stundenlang. Er las sich durch Internetseiten und las und las und je mehr er las, desto mehr freundete er sich mit dem Gedanken an, schwul zu sein. Wusste plötzlich, dass er mit diesem “Problem” nicht alleine ist. Dass es noch viele andere homosexuelle Menschen auf der Welt gibt, bestimmt auch Musilme, obwohl er darüber keine Informationen finden konnte. Dass Schwule keine schlechteren Menschen sind als Heterosexuelle und dass seine Sexualität den Charakter nicht verdirbt. Langsam wurde ihm klar: du bist schwul.

Wow, was für ein Gefühl. Gewissheit haben, mit sich selbst im Reinen sein. So intensiv und schön. Orkan war glücklich, war überglücklich und glaubte, dass ihm jetzt die Welt offenstand. War auf einem Höhenflug und wollte immer mehr wissen, mehr und mehr über sich selbst. Vor allem wollte er wissen, wie er seine Sexualität und seine Religion unter einen Hut bringen konnte. Das würde nicht leicht werden, klar.

Aber auch wenn die anderen nur schlecht über Schwule redeten, war sich Orkan sicher, dass es irgendeinen Weg geben muss. Seinen Vater wollte er nicht fragen. Der würde es dem Rest der Familie sagen und das wollte Orkan nicht – noch nicht. Wichtiger war erst mal er selbst.

Der einzige, den er also fragen konnte, war der Imam. Der Vorsteher seiner Gemeinde, der den Koran kannte und vor dessen Weisheit Orkan großen Respekt hatte. Er packte all seinen Mut zusammen und ging zum Imam. Stellte seine Frage ganz hypothetisch. So, als wäre er selbst nicht betroffen, sondern als wollte er nur einmal wissen, wie das gehen könnte mit der Homosexualität und dem Islam.

Die Antwort des Imam war ziemlich knapp. „Hoffentlich bist du’s nicht“, hatte er gesagt und Orkan dabei besorgt angeschaut. Erzählte ihm dann, wie schlimm Homosexualität sei und dass es im Koran stünde....

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