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Wer dich 'Schwester' nennt, ist nicht immer dein Bruder

Mein Leben zwischen Hiphop, Moscheen und Männern, die eine Religion benutzen, um uns zu missbrauchen

AutorSahira Awad
Verlagmvg Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783864159800
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
Sahira Awad ist aufstrebende Hip-Hop-Sängerin und aktive Muslima, als sie 2005 ihr Debütalbum Frei Schnauze herausbringt und einen echten Achtungserfolg landet. Doch sie gerät an falsche Freunde und rutscht immer tiefer in eine extremistische Glaubensgemeinschaft hinein. Kurz vor Fertigstellung ihres zweiten Albums Mit reiner Absicht verliert sie sich im maßlos dogmatischen Glauben, lässt sich einreden, dass Musik im Islam verboten sei, und beendet - kurz vor dem Durchbruch - ihre Musikkarriere. Sie heiratet einen religiösen Fanatiker, trägt Vollverschleierung und muss in dieser Ehe Gewalt, Misshandlung und Erniedrigung ertragen. Nach einer Zeit des Martyriums trennt sie sich 2012 von ihrem Mann und schafft den Ausstieg aus der fundamentalistischen Szene. Schritt für Schritt kämpft sie sich jetzt zurück in ihr altes Leben. In ihrem Buch erzählt sie davon, wie radikale Fundamentalisten Menschen manipulieren, bis diese nicht mehr zwischen Richtig und Falsch unterscheiden können, und wie diese Fanatiker den Glauben missbrauchen, um Gewalt zu säen und die Menschen zu spalten und gefügig zu machen. Ein bewegendes Schicksal und ein authentischer Erfahrungsbericht, wie Radikalisierung geschehen kann.

Sahira Awad, geboren 1979 in Berlin, ist Sängerin, Songwriterin und baut derzeit ihr Statement-Modelabel Arts of Propaganda auf. Ihre Eltern stammen aus Palästina. Ihr halbes Leben verbrachte sie in der Hip-Hop-Szene und war mit vielen deutschen Rappern im Studio, u.a. mit Alpa Gun, Bushido und Deso Dogg, der durch seinen Kampf für den IS traurige Berühmtheit erlangte. In einer Phase der religiösen Radikalisierung wandte sie sich für einige Jahre ganz von der Musik ab, mittlerweile beginnt sie wieder in ihrem alten Leben Fuß zu fassen.

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Leseprobe

INTRO


S wie Sehen


Salam.

Friede sei mit euch.

Ich bin Sahira.

Sahira bedeutet die Wachsame, Achtsame. Sahar bedeutet Aufwachen, wach bleiben, über etwas oder jemanden wachen. Mit offenen Augen durchs Leben gehen. Ich habe das Wort auch im Koran gefunden (Koran Sura (Kapitel) 79/Aye (Vers) 14). Sahira ist ein Ort, eine Zeit oder ein Zustand des Erwachens.

Heute weiß ich, wie wichtig Worte sind. Heute trage ich meinen Namen mit Stolz, aber es gab eine Zeit, da habe ich seine Bedeutung verleugnet. Da habe ich nicht mehr klar gesehen. Ich bin falschen Propheten gefolgt wie ein Schaf seinen Schlächtern.

»Deine Bücher sind nicht gut in den Augen Allahs«, haben sie gesagt, und ich habe sie hergegeben.

»Musik ist Sünde«, haben sie gesagt, und ich habe mein erstes eigenes Album vor den Augen meines kleinen Sohnes im Hinterhof unseres Mietshauses in Wedding in die Mülltonne geschmissen, habe vor Saleem ein Lächeln aufgesetzt, während mir das Herz brach.

»Die Stimme der Frau bringt Verderben«, haben sie gesagt, und beinahe wäre ich verstummt.

In dieser Zeit war ich nicht ich selbst. Ich habe verraten, was mir lieb und teuer war. Der Gedanke daran treibt mir Tränen in die Augen, und zugleich spornt er mich an.

Ich will nach vorn gehen und den Mund aufmachen, so wie damals, als ich neben Big Sal, Deso Dogg oder Bushido im Studio ans Mikro trat und der Bass in meiner Brust schlug wie mein Herz. Der Bass, mein Herz, der Bass ist tief und klar, der Herzschlag jeden Songs. Er treibt dich und er trägt dich. Dem Bass kannst du nichts vormachen. Er bleibt immer cool. Endlich spüre ich ihn wieder. Endlich bin ich wieder da. Ich atme wieder.

Ich kenne die Straße und die Moschee, ich bin Deutsche und Palästinenserin, aufgewachsen in einer männerdominierten Welt.

Als Muslima engagiere ich mich im großen Djihad.

Mein Djihad hat nichts mit den Verbrechern in Syrien zu tun, die Terror säen und die Welt entzweien. Djihad bedeutet Anstrengung. Es ist das Bemühen eines Gläubigen um ein gottgefälliges Leben, um innere Einkehr, Güte und Gerechtigkeit. Der Begriff ist einer von vielen, die dem Terror zum Opfer fallen, wenn wir es nicht verhindern. Terroristen schänden unsere Sprache. Lasst uns gegen diesen Missbrauch anschreiben und ansingen.

Lasst uns reden.

Es ist Zeit.

A wie Allah


Es ist Mitte Juni, und wir haben Ramadan. Ramadan ist »der heiße Monat«, die Fastenzeit. Der Begriff leitet sich vom Verb verbrennen ab. Vielleicht, weil deine Kehle brennt, wenn du sie nicht mit Wasser ablöschst.

Fasten ist unser Geschenk an Allah. Hallo, Allah hat uns das Leben geschenkt, was ist da schon ein Monat? Im Übrigen ist Ramadan eine gute Zeit. Gesund. Halal. Es heißt, für vier Wochen würden alle Teufel weggesperrt – alle, bis auf einen. Dein Qareen. Ich nenne ihn den Egoteufel. Er begleitet dich seit deiner Geburt wie ein Schatten, er flüstert dir etwas ins Ohr, er folgt dir, lässt sich nicht abschütteln, und wenn du nicht aufpasst, macht er sich in deinem Herzen breit. Dieser eine ist immer da. Auch jetzt, während ich beginne zu erzählen.

Durst, Hunger, Mundgeruch und ein Gefühl von spiritueller Leichtigkeit. Allah hat gesagt, der Mundgeruch des Gläubigen an Ramadan sei schön wie Moschusduft. Mir gefällt das. Diese Sicht. Moschusduft!

Ramadan, das heißt auch Wachsein. Alle Sinne schärfen. In sich hineinfühlen. Essen, Rauchen, Trinken und Konsumieren im Allgemeinen, das alles entfällt, zumindest bis die Sonne untergeht. Sich Ablenken ist nicht mehr. Wenn du fastest, siehst und hörst du besser, klarer.

Es sind Tage der Besinnung und des Wieder-zu-sich-Kommens. Eine gute Zeit für die Erinnerung.

Die Luft flimmert. Ich stehe auf dem Balkon unserer Wohnung und sehe hinunter auf die Straße. Der Asphalt schwitzt, als würde die Straße irgendetwas ausdünsten. Eine junge Frau schimpft mit ihrem Kind, ein Mädchen trägt Hotpants, die kaum ihren Po bedecken, ich denke, sie ist erst 13, vielleicht 12, junge Augen, sie sieht mich nicht, ein Obdachloser sucht nach Pfandflaschen. Ein Mann heftet den Blick auf den Po des Mädchens, meine Hände schwitzen, ich habe Durst, an der Ecke unterhalten sich zwei Türkinnen mit blondem Haar, Milchkaffee und Zigaretten, wisst ihr nicht, heute ist Ramadan?, ich dränge diesen Gedanken zurück wie einen unliebsamen Gast, den ich von früher kenne, Hollywoodtürkinnen, so hätte ich damals gedacht in meinem Hochmut. Heute denke ich, sie begehen andere Sünden als ich, nicht unbedingt mehr, vielleicht sogar weniger …

Meine Hände kleben an der Brüstung, ich will zurück ins Halbdunkel der Wohnung. Wachsam sein, das ist auch anstrengend. Manchmal wird es mir zu viel. Sehen ist Kopfschmerz. Zu viel Input.

Hollywoodtürkinnen? Wie konnte ich glauben, dass mir ein Urteil zustünde? Was wusste ich von den Menschen, die ich auf der Straße sah?

Wenn ich mich früher über andere Muslime aufgeregt habe, weil sie den Glauben nicht so lebten, wie ich es für richtig hielt, wenn ich auf 180 war in meinem Hochmut, hat meine Seelenschwester mich runtergeholt.

»Im Glauben gibt es keinen Zwang, Habibtie«, hat Rahsan gesagt. Ich wollte das nicht immer hören. Deso hätte mich verstanden!, dachte ich. Ich wünschte, er wäre noch da!

Heute weiß ich, dass sie recht hat.

Wo hat sie nur die Weisheit her?

Und woher kam meine Wut?

Unser Prophet, Sallaa Allahu‚ alaihi wa sallam, Friede und Segen sei auf ihm, war nicht so. Er hat niemanden vorschnell verurteilt. Es gibt eine Geschichte, einen Hadith, der mir nahegeht.

Stellt euch eine Moschee vor. Den Männer-Betraum. Der Prophet (s) (das (s) steht für »Friede und Segen sei auf ihm«) und seine Gefährten beten. Neben ihnen kniet ein Betrunkener. Die Gefährten des Propheten empören sich, lautstark fordern sie den Mann auf, zu gehen und sich auszunüchtern.

»Er wird in die Hölle kommen, weil er betrunken die Moschee betritt«, entrüstet sich der Wortführer.

Da gebietet der Prophet, Friede und Segen sei auf ihm, dem Wortführer, still zu sein.

»Lass ihn sein Dua (Bittgebet) beenden. Gewiss wird er im Paradies empfangen«, sagt er. »Weißt du, wie oft dieser Mann bereut hat? Dass er bei jedem Schluck Alkohol, den er trank, geweint hat?«

Wenn ich diese barmherzige Überlieferung lese, kommen mir die Tränen.

Warum ich weine?

Weil ich bereut habe.

Ich habe bereut.

Oft.

L wie Lyrics


Meine Schwester Futun hat gesagt: Es ist alles da, du musst nur genau hinsehen. Das Gute, das Böse, das Laute, das Leise und das Dazwischen.

Heute ist ihr Rat mir teuer. Ich will herausfinden, wie alles anfing und warum ich so von meinem Weg abkam. Warum habe ich, eine glückliche Sängerin, die ihren Platz in der Musikszene gefunden hatte, alles hinter mir gelassen und mich in einem Kreislauf der Gewalt verfangen? Warum werden Menschen »extrem« und feindselig?

Ich will genau hinsehen.

Dieses Buch ist kein Unterhaltungsroman. Es ist keine Geschichte mit Anfang und Ende, keine Herz-Schmerz-Story mit Happy End.

Ich bin Sängerin und Songwriterin und mein Medium ist die Musik. Singen ist meine Therapie und mein Brückenschlag zur Welt. Songtexte nennt man auch »Lyrics« – und »lyric« bedeutet so viel wie poetisch und gefühlvoll. Das gefällt mir. Musik erlaubt uns, Gefühle, Gedanken und Erfahrungen in Wort und Klang zu übersetzen. Für mich ist das die schönste Form von Poesie.

Ein Song hat ein Intro, Strophen, eine Hook und ein Fade-out. Im Intro klingen die wichtigsten Themen an. Die Strophen reden, sie erzählen. »Hook« kommt aus dem Englischen und bedeutet »Haken«. Die Hook ist der Refrain. Sie ist der Aufhänger. Wie ein Anker. Sie ist eingängig und klingt nach, sie ist, was übrig bleibt und sich im Gedächtnis festsetzt, die eine Zeile, die du weitersummst, wenn das Lied zu Ende ist. Mit Fade-out bezeichnen wir das Ausklingen des Songs. Den Moment, in dem Musik in Stille übergeht.

Ich will schreiben, wie ich singe. Dieser Text ist mein Protest- und Friedenssong in Prosa. Ein Lied darüber, was mit mir geschehen ist und was in diesem Land und in der Welt geschieht. Ein Lied über den friedlichen Islam, einen Glauben, der auf Liebe und Barmherzigkeit basiert. Ein Lied für Deutsche und Araber, für Gläubige und Nichtgläubige, für alle jungen Menschen, die auf der Suche sind, wie ich es einmal war.

Ein Lied gegen Gewalt und Missbrauch. Eine Warnung vor dem lieblosen Islam, wie er heute von vielen gepredigt wird, und vor jeder Form von Extremismus und Fanatismus. Vor Frauenhass, der sich unter dem Deckmantel der Religion verbirgt.

Auf den folgenden Seiten wird vieles nebeneinanderstehen. Die Sprache des Glaubens und das Arabisch meiner Eltern, der Klang des Gebetsrufs und der Sound, den ich der Straße abgelauscht habe. Der coole Beat des Hip-Hops. Der Herzschlag der Angst. Und die ruhige Stimme meiner Schwester Futun.

Alles ist da, ihr müsst nur genau hinhören.

Ich...

Blick ins Buch

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