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Wir Genussarbeiter

Über Freiheit und Zwang in der Leistungsgesellschaft

AutorSvenja Flaßpöhler
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783641061791
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Über die Tyrannei der Selbstoptimierung
Für uns Menschen von heute ist Arbeit nicht mehr nur Mühsal. Wir tun unsere Arbeit gern, verstehen uns gar als Genussarbeiter. Das Genießen im engeren Sinn hingegen, der Müßiggang, gelingt uns immer seltener und wird regelrecht zur Anstrengung. Warum aber sind wir als moderne Leistungsträger hyperaktiv bis zum Burnout und halten das Nichtstun kaum mehr aus? Genießen nur, wenn wir arbeiten, oder höchstens noch beim Sport? Die Philosophin Svenja Flaßpöhler geht den kulturellen und psychischen Ursachen von Arbeitssucht, Körperkult und Versagensangst auf den Grund und fragt nach dem prekären Verhältnis von Freiheit und Zwang in der heutigen Gesellschaft. Ihre eindringliche Analyse zeigt: Nur wenn wir inmitten des Optimierungswahns nicht ausschließlich tun, sondern auch lassen, sind wir imstande, wirklich zu genießen.

Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des »Philosophie Magazin«. Seit 2013 ist sie Mitglied der Programmleitung des Philosophiefestivals phil.COLOGNE und seit 2017 Jurorin des »Bayerischen Buchpreises«. Ihr Buch »Mein Wille geschehe. Sterben in Zeiten der Freitodhilfe« (2007) wurde mit dem Arthur-Koestler-Preis ausgezeichnet, ihre Streitschrift »Die potente Frau« wurde ein Bestseller. Svenja Flaßpöhler lebt mit ihrem Mann und den beiden gemeinsamen Kindern in Berlin.

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Leseprobe
"Erlösung zum Sonderpreis (S. 135-136)

Die Schnäppchenjagd

Es ist kurz vor Mitternacht, und es ist eng auf dem Berliner Alexanderplatz. 5000 Menschen stehen dicht aneinandergedrängt vor einem Gebäude aus altrosa Sandstein, ungeduldig mit den Füßen scharrend, und warten darauf, dass sich die Glastüren endlich öffnen. Dann, plötzlich, ein lauter Knall. Die Masse hat den Absperrungszaun vor dem Haupteingang umgestürzt. Schreie, dann ein Scheppern und Klirren, die erste Glastür geht zu Bruch.

Die Menschen stürmen los, schieben sich durch die Eingänge, die notgedrungen geöffnet werden müssen, und stürzen sich auf preisreduzierte Laptops, Handys, iPods, Flachbildschirme und Stereoanlagen. Abgespielt haben sich diese Szenen im Jahr 2007 während der Eröffnung des Berliner Einkaufszentrums Alexa – Szenen, die dazu nötigen, Max Webers berühmte These, der Geist des Kapitalismus sei wesentlich durch protestantische Askese und Sparsamkeit bestimmt, zu überdenken.

Die vom Calvinismus geprägte asketische Lebensführung, so schrieb der Soziologe Anfang des 20. Jahrhunderts, bestehe in arbeitsamem, gottgefälligem Streben und striktem Sparzwang und habe auf diese Weise die Entwicklung des kapitalistischen Systems begünstigt. Neunzig Jahre später geraten die Massen selbst nachts in einen Kaufrausch, angefeuert durch Slogans wie Geiz ist geil, die zwar insofern auf die Grundsätze des asketischen Protestantismus Bezug nehmen, als sie – zumindest auf den ersten Blick – analretentives ›Beisichbehalten‹ anpreisen: Gib bloß nicht zu viel aus! Wenn du dein iPhone bei uns kaufst, sparst du 30 Euro! Dennoch ist der Geiz-ist-geil-Schnäppchenjäger ganz offensichtlich kein sparsamer Asket.

Das Wort ›Geiz‹ kommt vom Mittelhochdeutschen gīt[e], und das heißt: Gier. Habgier. Der geizige Schnäppchenjäger kauft nicht aus Bedürftigkeit, und er ist auch nicht im eigentlichen Sinne sparsam. Vielmehr frönt er seiner Habgier unter dem Deckmäntelchen rationalistischer Investition – und manchmal geht er dabei sogar in buchstäblichem Sinne über Leichen. In New York kam 2008 ein Mitarbeiter der amerikanischen Supermarktkette Wal Mart ums Leben, weil er von einer kaufwütigen Masse zu Tode getrampelt wurde.

Zu Beginn der Weihnachtssaison hatte Wal Mart die Preise heruntergesetzt, tausende Menschen drängten sich im Morgengrauen vor den Eingangstüren, drückten sie ein und überrannten den 34-jährigen Angestellten wie eine Herde Rinder bei einer Stampede. Zerstört und getötet haben Massen schon immer. Der Unterschied ist nur, dass sie es früher aus existenzieller Not, religiösem Fanatismus oder für politische Ziele taten. In anderen Teilen der Welt ist das auch heute noch so. Hierzulande dagegen geraten die Massen für einen billigen Flachbildschirm außer Rand und Band.

Die Gier nach heruntergesetzter Ware verbindet und verschwört die Menschen untereinander, Hartz-IV-Empfänger, Friseurinnen, Studenten, Rentner und Referendare, sie alle stellen sich den Wecker, um reduzierte Flachbildschirme, Waschmaschinen, Staubsauger und DVD-Player zu ergattern. »Im Grunde hat der Schnäppchenwahn die Menschen einander über alle sozialen Schranken hinweg nähergebracht«, schreibt die Historikerin und Wissenschaftsjournalistin Eva Tenzer in ihrem Buch Go shopping! »Am Ende kann jeder den anderen verstehen, da alle vom selben Jagdfieber ergriffen sind, oszillierend zwischen rationaler Sparsamkeit und destruktivem Wahn.« Aber warum sind die Massen dem Schnäppchen derart verfallen? Weshalb verzichten sie um seinetwillen sogar auf wertvolle Stunden Schlaf? Wieso drängen sie sich mitten in der Nacht dicht aneinander wie Schafe, nur um einen Toaster zu ergattern?"
Blick ins Buch

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