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E-Book

1968

Jugendrevolte und globaler Protest

AutorNorbert Frei
Verlagdtv Deutscher Taschenbuch Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783423432948
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Jugendrevolte und globaler Protest Die Chiffre »68« steht für ein Jahrzehnt der Rebellion. Nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in ganz Europa und rund um den Globus erhob sich damals eine kritische Jugend, einen kurzen Sommer lang sogar hinter dem Eisernen Vorhang. Der eindringliche Überblick stellt die deutsche Studentenbewegung in jenen internationalen Zusammenhang, aus dem heraus vieles überhaupt erst zu verstehen ist.

Prof. Dr. Norbert Frei, geb.1955 in Frankfurt am Main, ist Lehrstuhlinhaber für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und leitet das >Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts<. Von 1979 bis 1997 war er Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in München, danach bis 2005 Lehrstuhlinhaber an der Ruhr-Universität Bochum; 1985/86 Kennedy-Fellow an der Harvard University, Cambridge/Mass.; 1995/96 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin; 2004 Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen, 2007 Gastwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung. Veröffentlichungen u. a.: >Nationalsozialistische Eroberung der Provinzpresse< (1980); >Amerikanische Lizenzpolitik und deutsche Pressetradition< (1986); >Journalismus im Dritten Reich< (3. Aufl. 1999, mit J. Schmitz); >Der nationalsozialistische Krieg< (1990, Hrsg. mit H. Kling); >Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit< (1991, Hrsg.); >Geschichte vor Gericht< (2000, Hrsg. mit D. v. Laak und M. Stolleis); >Bertelsmann im Dritten Reich< (2002, Mitverf. und Mithrsg.); >Verbrechen erinnern< (2. Aufl. 2005, Hrsg. mit V. Knigge); >1945 und wir< (2005). Bei dtv erschienen >Der Führerstaat< (8. erw. Auflage 2007); >Vergangenheitspolitik< (2. Aufl. 2003), >Hitlers Eliten nach 1945< (2. Aufl. 2004, Hrsg.), die Reihe >20 Tage im 20. Jahrhundert< (Hrsg. mit K.-D. Henke und H. Woller), >Das Dritte Reich im Überblick< (akt. Neuaufl. 2007, Hrsg. mit M. Broszat) und >1968. Jugendrevolte und globaler Protest< (2008).

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Leseprobe

Paris, Mai 1968


»L’imagination prend le pouvoir.«

»Il est interdit d’interdire.«

»Le rêve est la réalité.«

Parolen der Pariser Studenten,

Mai 1968[1]

Vielleicht war es tatsächlich die Bitte um Feuer, mit der begann, was ein paar Monate später so vielen als die Französische Revolution erschien. Der junge Raucher allerdings, dessen simples Begehren am Ende steifer Feierlichkeiten im nagelneuen Universitätsschwimmbad von Nanterre eine ganze Staatsdelegation in Verwirrung stürzte, versichert noch heute, an jenem öden Januarnachmittag des Jahres 1968 lediglich das Gespräch mit dem Minister gesucht und nicht schon den Umsturz geplant zu haben. Er sei, das Feuerzeug des Angesprochenen in der Hand, einer spontanen Eingebung gefolgt, und erst die Reaktion des die Szene beobachtenden Dekans, der ihn abzudrängen suchte, habe den Wortwechsel provoziert.

Student: »Warum haben Sie in Ihrem Weißbuch über die Jugend nicht die sexuellen Probleme erwähnt?«

Minister: »Wenn Sie sich abreagieren wollen, dann springen Sie doch ins kalte Wasser.«

Ob darauf noch eine Entgegnung des Studenten folgte, den die schroffe Antwort an »Argumente der Hitler-Jugend« erinnert haben soll, wird nicht mehr zu klären sein.[2] Zweifelsfrei hingegen ist, dass der Fragesteller den Minister entlarvt zu haben glaubte: als autoritär, als arrogant, als völlig unfähig zur Kommunikation mit jener Jugend, für die dieser François Missoffe im Kabinett von Georges Pompidou Ressortverantwortung trug.

Und sicher ist auch: Dem wortgewandten Störer und seinen Freunden, einer kleinen Gruppe anarchistischer Studenten, kam der Vorfall sehr zupass, fügte er sich doch nahtlos in ihr düsteres Bild von der Staatsmacht. Folglich sorgten sie dafür, dass die Geschichte unter ihren Kommilitonen in Nanterre rasch die Runde machte.

Über den trostlosen, seit Jahren halbfertigen Neben-Campus der Sorbonne im armen Westen von Paris wäre die Nachricht vermutlich gleichwohl kaum hinausgedrungen, hätte es dort nicht schon seit Monaten gebrodelt – und hätten Minister und Dekan jetzt nicht den Fehler begangen, die allem Anschein nach gezielt gestreute Behauptung im Raum stehen zu lassen, dem aufmüpfigen jungen Raucher drohten Strafantrag und Relegationsverfahren. Damit aber ist die »Affäre Missoffe« in der Welt – und ein Star geboren: Daniel Cohn-Bendit.

Angesichts derart überzogener möglicher Sanktionen kann der 22-jährige Soziologiestudent jetzt auf die Unterstützung auch von Kommilitonen rechnen, die politisch weniger radikal denken als er. Das gilt zumal, als sich drei Wochen später, im Zusammenhang mit einer anderen Protestaktion, Polizei und Studenten in Nanterre handgreifliche Auseinandersetzungen liefern und ›Le Monde‹ darüber berichtet.[3] Dadurch wird auch die Schwimmbad-Szene einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, und vor allem wird publik, dass der Sohn deutsch-jüdischer Emigranten im Falle einer tatsächlichen Relegation mit seiner Ausweisung aus Frankreich rechnen muß. Die nationale Studentengewerkschaft (FNEF) bekundet ihre Solidarität, und obwohl Cohn-Bendit den Minister inzwischen brieflich um Entschuldigung gebeten hat, Missoffe die Sache wohl auch vergessen will, weitet sich die Proteststimmung nun aus.

Die unschönen Arbeitsbedingungen an der von 12 000 Studenten besuchten Trabanten-Uni und der Verdruss über Wohnheime, die wie Internate geführt werden, sind dafür fortan nur noch zwei Gründe unter vielen. Immer mehr speist sich der Unmut aus anderen Quellen, etwa aus der Kritik des kapitalistischen Systems und der eskalierenden Kriegführung der Amerikaner in Vietnam. Als bei einer damit begründeten Aktion gegen die Pariser Filiale von American Express auch ein Student aus Nanterre festgenommen wird, proklamieren rund hundert Aktivisten verschiedener linker Campus-Grüppchen eine ›Bewegung des 22. März‹.[4] Das Ziel des Bündnisses ist klar: Dogmatische Streitereien sollen überwunden, eine »revolutionäre Kampfeinheit« soll geformt werden.

Zu diesem Zweck verabredet man sich – und hier ist der Einfluss des leidenschaftlichen Debattierers Cohn-Bendit evident – zu einem »Tag der allseitigen Diskussion«. Er soll eine Woche später stattfinden, und auf dem Programm stehen Themen wie »Universität und Kritische Universität«, »Der antiimperialistische Kampf«, »Der Kapitalismus 1968 und die Kämpfe der Arbeiterklasse«.[5] Doch der große Ratschlag in Nanterre scheitert erst einmal am Dekan, der die Universitätsgebäude am Vorabend kurzerhand schließen lässt.

Nach ein paar Tagen ist es dann aber doch soweit: Karl Dietrich Wolff ist angereist, der Vorsitzende des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), und um ihn zu hören, besetzen mehr als tausend Studenten den größten Saal der Philosophischen Fakultät. Dabei erfahren sie, dass es genau ihre Themen sind, die die deutschen Kommilitonen schon seit über einem Jahr in Massen auf die Straße treiben: der Vietnamkrieg und die »autoritären Strukturen« – nicht nur, aber auch in den Universitäten. Wolffs Besuch ist die gleichsam offizielle Demonstration jener Kontakte zwischen deutschen und französischen Aktivisten, die schon seit geraumer Zeit bestehen. Vor allem Daniel Cohn-Bendit, der durch ein mehrstündiges Verhör auf dem Pariser Polizeipräsidium inzwischen noch weiter ins Rampenlicht der Medien gerückt ist und der nun ebenfalls spricht, hat sich bei den westdeutschen Gesinnungsgenossen immer wieder umgesehen und sich von ihren Teach-ins, Go-ins, Sit-ins inspirieren lassen.[6]

Doch auch rechts des Rheins wird an diesem 2. April 1968 deutlich, wie sehr die Anliegen und Aktionsformen der Protestierenden einander ähneln, ja wie sehr sie in mancher Hinsicht zusammenhängen: Die junge Berlinerin, die an diesem Nachmittag »Nazi-Kiesinger, abtreten!«[7] in den Bonner Plenarsaal ruft – ein halbes Jahr später wird sie den Bundeskanzler ohrfeigen –, war bis vor kurzem Sekretärin des Deutsch-Französischen Jugendwerks in Paris und ist dort mit einem Anwalt verheiratet, dessen Vater in Auschwitz ermordet worden ist.[8] Und als acht Tage später, nach dem Attentat auf Rudi Dutschke in Berlin, eine Welle von Demonstrationen und Straßenschlachten durch die Bundesrepublik geht, ist dies ein Signal auch für die »Bewegung des 22. März«.

Nicht nur in Nanterre kommt es zu spontanen Solidaritätskundgebungen für »Rudi le Rouge«; auch in Paris, wie in zahlreichen anderen westlichen Metropolen, ist die Empörung groß. Am 19. April ziehen mehrere Tausend Studenten mit Spruchbändern durch das Quartier Latin: Gegen die Springer-Presse! Gegen die Notstandspläne der Großen Koalition! Gegen Kiesinger! Man ist auffallend gut informiert über die Situation im Nachbarland. Die Erklärung dafür liegt in dem Umstand, dass sich in der französischen Hauptstadt einige Mitglieder des dort inzwischen geradezu bewunderten SDS aufhalten und den zerstrittenen, an kubanischen, chinesischen und anderen Sozialismus-Modellen orientierten Gruppen die Notwendigkeit eines gemeinsamen Vorgehens predigen.[9]

Allem Anschein nach entfaltet diese deutsche Entwicklungshilfe eine gewisse Wirkung auch auf die politische Organisations- und Konfliktbereitschaft französischer Studenten in eigener Sache. Deutlich mehr trägt dazu aber die erneute Schließung der Fakultät Nanterre bei, die der Dekan für den 3. Mai verfügt, als das Gerücht umläuft, eine rechtsradikale Gruppe namens Occident (Abendland) plane einen Angriff auf die von Cohn-Bendit und seinen Mitstreitern angesetzten »anti-imperialistischen Tage«. Es ist dies der Moment, in dem der Funke auf die Sorbonne überspringt.

Feuereifer ist auf der Protestkundgebung gegen die »Aussperrung« der Kommilitonen in Nanterre zunächst allerdings nicht zu verspüren; der kommt erst auf, als nach der Mittagspause die Kunde geht, die Abendländler befänden sich im Anmarsch. Daraufhin lässt Rektor Roche ebenfalls die Hörsäle schließen – zum ersten Mal seit der deutschen Besatzung. Im Innenhof der Sorbonne versammeln sich jetzt ein paar Hundert linke Studenten, nicht wenige davon mit Knüppeln und (Motorrad-)Helmen bewaffnet. Aber auch im Quartier Latin bleiben die Rechtsradikalen aus. Statt ihrer kommt die Polizei. Als die Einheiten der kasernierten Compagnies républicaines de sécurité (CRS) versuchen, die Anführer der abziehenden Studenten festzuhalten, fliegen die ersten Pflastersteine, ein Polizist wird schwer verletzt. Bis in den späten Freitagabend dauert die Straßenschlacht, dann ist ein Großteil der Demonstranten vorübergehend verhaftet, der Rest mit Tränengas auseinandergetrieben – wie die Passanten, die zufällig in die Szene geraten sind.

Das Wochenende über herrscht äußerlich Ruhe in Paris. Doch in den Kreisen der Aktivisten finden Absprachen statt, und am Montag beschleunigt sich die im Entstehen begriffene »Bewegung«. Am Abend dieses 6. Mai 1968 wird sie ihre ersten Barrikaden bauen.

Der Tag beginnt mit der Vorladung Cohn-Bendits, sechs weiterer Studenten und einer Studentin vor den Disziplinarausschuss der Universität, wo sie sich wegen der Besetzung eines...

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