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Mit ausgebreiteten Flügeln

Erinnerungen eines Landpfarrers Band II

AutorJörn Wilhelm
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783744856973
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,49 EUR
Im zweiten Band seiner Erinnerungen beschreibt der spätere Landpfarrer farbig und voller untergründigem Humor sein Theologiestudium in Erlangen und Heidelberg. Deutlich wird, wie Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts auf Kathedern und Kanzeln die Verstrickung der Universität und der Theologie in den Rassenwahn der Nazis noch immer geleugnet, verharmlost oder ignoriert wurde. Das Studentenleben kommt nicht zu kurz: Jazzkeller, Reisen nach Paris, Blutspenden und Maloche, Studentenbuden, die sich heute keiner mehr vorstellen kann. Mitten im Studium heiratet er und eine Tochter wird geboren. Lichtgestalten werden geschildert wie die theologischen Lehrer Gerhard von Rad, Herbert Braun, Rolf Rendtorff und Heinz-Eduard Tödt. Nach dem "Ohnesorg-Erlebnis" wird er Zeuge der turbulenten Studentenunruhen in Heidelberg, politisiert und verändert sich darin. Erste Predigten werden geschrieben, die politisch höchst umstritten sind. Wegen Verweigerung der Ordination wird er gleich am Anfang schon suspendiert. Nach der Aufhebung sorgt er weiterhin für heilsame Unruhe in seiner Kirchengemeinde in Ludwigshafen-Oggersheim.

Jörn Wilhelm wurde 1944 in Waren am Müritzsee geboren. Nach der Flucht wechselnde Standorte, dann bis zum Abitur 1964 Wohnort in Hamburg-Schnelsen. Studium der Theologie in Erlangen und Heidelberg Nach dem Examen 1969 Vikar in Ludwigshafen-Oggersheim. Danach 17 Jahre Landpfarrer in Göllheim. 10 Jahre Schulpfarrer an der Berufsschule Kaiserslautern. Bis zur Pensionierung noch einmal 6 Jahre Landpfarrer in Imsbach. Sein Ruhesitz ist in Steinbach am Donnersberg.

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Leseprobe

KAPITEL II


DAS STUDIUM IN HEIDELBERG


Interludium: Die Reise nach Paris

Während der Semesterferien arbeitete ich vier Wochen wieder bei der Post. Dann schrieb ich zwei Seminararbeiten im höchsten Stockwerk des »Philosophenturms« der Hamburger Universität, wo sinnigerweise die theologischen Seminarräume – dem Himmel so nah – untergebracht waren. – Wolfgang ließ sich in dieser Zeit vom Starfotografen Thomas Lüttge (s. Band I, S. 93 f.) Starfotos machen. Dafür hatte er einen triftigen Grund: Über Hannchens Albert Schweitzer-Schiene hatte er erfahren, dass eine amerikanische Studentin gerade in Lambarene ein Praktikum absolviert hatte und nun als Schauspielschülerin in Paris weilte. Es gab auch ein Foto von ihr: Eine sehr hübsche junge Frau, mit schönen Augen und langen Wimpern. Im Briefeschreiben war er ein Meister und er fügte seinem »Bewerbungsschreiben« einige seiner Starfotos bei, was noch Folgen haben sollte.

Die Antwort kam prompt: Man könne sich in Paris treffen. Am besten er komme zur Premiere des Theaterstücks, in dem sie gerade in einer Hauptrolle mitwirke. – Wolfgang hatte in einem Crashkurs in der Lüneburger Heide inzwischen doch noch den Führerschein erworben. Nun lud er mich und seinen Freund Wolfgang Sommer, Theologiestudent im höheren Semester, zur Mitfahrt ein. So machten wir uns mit ihm und dem DKW-Junior von Tübingen aus auf den Weg.

Ich hatte viele Illusionen mitgenommen. Vor allem Saint Germain des Prés und das Quartier Latin wollte ich sehen, das Viertel, in dem zu seiner Zeit Jean-Paul Sartre mit Simone de Beauvoir im Bistro saß und in dem seine Romantrilogie spielte, die ich als Jugendlicher gelesen hatte. Noch viel mehr, weil ich in der Palette den Bildband »Liebe in St. Germain des Prés« des legendären Fotografen Ed van der Elsken (erschienen 1956 bei Rowohlt) erworben hatte: Ein Fotoroman, der in berauschenden Bildern das nächtliche Paris zeigt, samt einer Liebesgeschichte, umrahmt von Jazzmusik, Haschisch, Alkohol, Eifersucht, Streit und Verbrechen. So eine Geschichte oder so ähnlich zu erleben: Warum eigentlich nicht?

Abbildung 7: Wolfgang: Ein Hauch von James Bond (Foto: Thomas Lüttge)

Die Autobahn nach Paris gab es noch nicht. Ab der Grenze an der Goldenen Bremm hinter Saarbrücken fuhren wir auf schnurgerader Straße westwärts: durch St. Avold, Pont à Mousson und Commercy. Langsam fahrende Fahrzeuge verursachten oft Schlangen von bis zu 100 Autos. Zu Wolfgangs Entsetzen – ich hatte ihn zeitweise als Fahrer abgelöst – überholte ich einmal in einem Stück einen Pulk von etwa 30 Fahrzeugen. Ab St. Dizier spürte ich heftige Zahnschmerzen, die immer schlimmer wurden. Wolfgangs Freund Wolfgang Sommer – später Professor für Kirchengeschichte in Neuendettelsau – war darüber sehr ungehalten. Er betrachtete mich überhaupt als ziemlich überflüssigen Begleiter. Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit, und es kam immer wieder zu Streitereien, aus denen sich Wolfgang zunächst vornehm heraushielt. In irgendeiner Vorstadt von Paris machten wir wegen meines Zustands Halt und übernachteten in einem schmuddeligen Hotel. Die ganze Nacht über verfolgten mich die quälenden Schmerzen, die mich zum Heulen brachten. Am nächsten Morgen waren sie auf wundersame Weise verschwunden und behelligten mich und die anderen nicht mehr.

Wolfgang fuhr im dichten Pariser Verkehr mit Zittern und Zagen in die Innenstadt zum Gare du Nord. Dort kamen wir im »Hotel de la Nouvelle France« unter, das verhältnismäßig sauber und billig war. Mit Mühe fanden wir einen Parkplatz in der Nähe, ließen das Auto die ganze Zeit dort und erkundeten zu Fuß und per Metro, das, was wir glaubten, sehen zu müssen: Die Kirche Sacré Coeur auf dem Berg Montmartre, natürlich den Eiffelturm, Moulin Rouge, den Louvre und Les Halles, den damals noch existierenden »Bauch von Paris«, der tatsächlich noch so zu erleben war, wie Émile Zola ihn beschrieben hat. Vor dem Palais de la Cité (Justizpalast) auf der Seine-Insel kam es zu einem heftigen Streit zwischen Wolfgang Sommer und mir, wegen irgendeiner waghalsigen theologischen Feststellung Sommers, die ich in Zweifel zog. Da gab mein Bruder seine bisherige diplomatische Neutralität auf und würgte seinen Freund vor den entsetzten Augen der Wachhabenden. Damit waren die Fronten geklärt. Auf seinem Krankenhausbett in der Herzklinik des Tokioter Krankenhauses Toranomon erinnerte sich Wolfgang viele Jahrzehnte später noch an diese Begebenheit: Mit galliger Freude.

Wolfgang wurde nervös: Der Tag des Treffens mit der amerikanischen Schauspielerin war gekommen. So gut hatte er sich noch nie rasiert und sein Duftwässerchen (»Old Spice«) war intensiv zu riechen. Immer wieder zupfte er an seinem schönen blauen Anzug, den er extra für diesen Anlass erstanden hatte. Die Krawatte (Windsorknoten) hatte ich ihm gebunden. Vielleicht hätte er noch etwas Rouge auflegen sollen, denn sein Gesicht war bleich wie bei einem Gespenst. Das Theater, eine Studentenbühne, war im Quartier Latin gelegen und hatte nur die Größe eines kleinen Kinosaals. Der Inhalt des aufgeführten Stückes war einem Faltblatt zu entnehmen. Mit meinen bescheidenen Französischkenntnissen verstand ich, dass es um den Dialog eines Embryos mit seiner Mutter ging, in dem es seinen Widerwillen erklärt, auf die Welt zu kommen. Es wollte weitere 23 Jahre im Mutterleib verbringen. Das Bühnenbild bestand aus der Nachbildung einer riesigen Gebärmutter, in der ein Mann saß, der den Hauptanteil des Gespräches mit der Mutter bestritt. Die Mutter, die in ständiger Bewegung darum herumlief, wurde von der besagten amerikanischen Schauspielerin dargestellt. Mehr war nicht. Nach der mit mäßigem Beifall aufgenommenen Premierenvorstellung, verabschiedete sich Wolfgang von uns und ging zum Stelldichein hinter die Bühne.

Wolfgang Sommer und ich fuhren zurück ins Hotel und bereiteten uns auf eine lange Wartezeit vor. Doch bald nach unserer Ankunft dort kam Wolfgang schon wieder zurück. Völlig aufgelöst und deprimiert berichtete er uns von dem Fiasko: Die »Audienz« sei bereits nach nicht einmal zwanzig Minuten beendet gewesen. Sie habe betont, dass sie ihn sich nach seinem Brief ganz anders vorgestellt habe. Außer Belanglosigkeiten und einem Smalltalk über Albert Schweitzer sei nichts ausgetauscht worden. Jetzt bereue er, ihr die Starfotos von Thomas Lüttge geschickt zu haben. – Mir tat er unsagbar leid: Was hatte er nicht alles in dieses Projekt investiert! Und nun so schmählich abgewiesen! Diese blöde Möchtegernschauspielerin! Er bedurfte dringend des brüderlichen Trostes. Drum schlug ich vor, mit der Metro zu den Champs Élysées zu fahren und dort in der Nähe opulent zu speisen. Noch waren ja Penunzen vom Jobben während der Semesterferien vorhanden. Hannchen hatte im Vorfeld auch schon Geld für ein solches Vorhaben zugeschossen. Wir machten uns auf den Weg zur Metro.

Es war Rush Hour, und die U-Bahnen waren wie Sardinenbüchsen gefüllt. In der Station Poissonnière stiegen wir in den überfüllten Zug. Ich quetschte mich gerade noch hinein. Frontal wurde ich gegen eine äußerst attraktive dunkelhaarige, etwas mollige Frau gedrückt, klein und apart, die sich in angeregtem Gespräch mit einer Freundin befand. Mir war die Situation zunächst peinlich und ich wollte sie und mich gerade aus dieser misslichen Lage befreien. Dann aber drückte sie ganz stark ihren Unterleib gegen meinen und begann, mit rhythmischen Bewegungen mich »in Fahrt« zu bringen. Sie sah mich dabei überhaupt nicht an. Ihr oberer Teil war mit der Freundin, der untere mit mir beschäftigt. So ging es bis Palais Royal, 6 Stationen lang. Es ist das merkwürdigste erotische Erlebnis, das ich je gehabt habe – obwohl im Grunde ja nicht viel gewesen ist. Als ich ausstieg, würdigte sie mich keines Blickes.

Wir flanierten durch die hell erleuchteten Champs Élysées. Hier war der Dichter Ödön von Horvath am 1. Juni 1938 während eines Gewitters vom herabfallenden Ast einer Kastanie getötet worden. Ein Hellseher in Amsterdam hatte ihm vorher geweissagt, in Paris werde er »das entscheidende Erlebnis seines Lebens« haben, woraufhin er sofort hierher gefahren war … Unbeleckt von solchem Wissen und solchen Gedanken freuten wir uns unseres Lebens nach dem Motto Johannes Baaders, des Ober-Dada von Berlin: »… nicht allein hier, sondern da, da, da ist Leben.« – In einer Seitengasse fanden wir ein Restaurant, dessen Menü zwar teuer, für unsere Geldbeutel aber gerade noch erschwinglich zu sein schien. Eine Mulattin – für uns damals noch etwas Ungesehenes und Außergewöhnliches – bediente uns. Eine so schöne Frau hatte ich noch nie gesehen. Der Sex schien aus allen ihren Poren zu sprühen, und sie trug uns die Speisen mit einer Grazie auf, die uns drei Männer verzauberte und betörte. Das verleitete uns dazu, mehr Wein zu trinken, als wir uns leisten konnten. Als die...

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