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E-Book

Professor Gifter

AutorWalter Schenker
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl225 Seiten
ISBN9783752884524
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Kann Bildung sozialen Aufstieg schaffen? Trocken und auch genüsslich berichtet Walt Joe Gifter, im Slum vom englischen Blackstone geboren, über die Stationen seines Aufstiegs bis zum Ruf als Professor an die Universität Hongkong. Die Geschichte eines präzis geplanten und exakt absolvierten Aufstiegs? Während er höher klettert, Stufe um Stufe, und sich gleichzeitig immer mehr von seiner Familie, seinen Freunden, seiner Frau entfernt, verwandelt sich der Musterschüler und Karrieremacher nach und nach, gleichsam unter den Augen des verblüfften Lesers, in einen gefühllosen, kalt berechnenden Zyniker, bis er schließlich nur noch seinen privaten Gelüsten lebt. Die Geschichte einer perfekten Anpassung also. Eine doppelbödige Geschichte: Gifters unaufhaltsamer Weg in die Isolierung spiegelt alltägliche Wirklichkeit. Und während wir, fasziniert und abgestoßen, dieses Porträt eines scheinbar "exotischen" Aufsteigers betrachten, erkennen wir darin die Gesellschaft der Angepassten unserer Zeit wieder.

Walter Schenker, Prof. Dr., geboren in Solothurn, lebt in Trier. Von ihm erschienen die Romane "Professor Gifter" (Rowohlt 1979/BoD 2007), "Anaxagoras" (Rowohlt 1981/BoD 2006), "Eifel" (Ammann 1982/BoD 2005), "Gudrun" (Ammann 1985/BoD 2006), "Am andern Ende der Welt" (Ammann 1988), "Manesse" (Ammann 1991, Neuauflage bei BoD 2008), "Zum roten Stiefel" (BoD 2005), "Leider/Solothurner Geschichten" (Kandalaber 1969), "Soleil" (Phi 1981) und "Engelsstaub" (Ammann 1986). "Porta Nigra" (BoD 2008)

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Leseprobe

Erstes Kapitel: Die Geburt


das Elend in Blackstone/der Verschönerungsverein
und Mrs. Emily Webster/ein kurzer Blick in die
Familiengeschichte/der Taufakt


Geboren bin ich in Blackstone am 16. Juli 1943. Meine Mutter erzählte mir später, daß gerade Bombenalarm gewesen sei, verdunkelt war sowieso alles, aber ich messe dem rückblickend keine Bedeutung bei. Die Geburt sei schwer gewesen, und meine älteren Geschwister halfen mit, so gut sie konnten. Rosy, die älteste, arbeitete damals schon als Aushilfsschwester im Royal Hospital, wahrscheinlich ihr vor allem habe ich das Leben zu verdanken. Das Geburtshaus ist schwer zu finden, Blackstone ist einer der frühen Industrieorte aus dem 19. Jahrhundert und liegt etwa 50 Meilen von Manchester entfernt. Heute wird Blackstone ganz heruntergekommen sein, ich weiß es nicht genau. Industrie gab es schon bei meiner Geburt kaum mehr, und es hätte sich nicht einmal gelohnt, die kleinen ehemaligen Fabrikgebäude zu Rüstungszwecken umzubauen. So ist denn mein Geburtshaus ursprünglich eine kleine Fabrikhalle gewesen, in der man später Sozialwohnungen eingerichtet hat. Die Mauern sind aus unverputztem Backstein, aber die ursprünglich rote Farbe ist schwärzlich angelaufen. Man mußte einen Etagenboden einziehen. Und dort, im ersten Stock, im hinteren der beiden durch Pappe abgetrennten Räume, auf dem großen Bett und unter einer nackten Glühbirne, erblickte ich das Licht der Welt und schrie. Etwas schwach, sagte mir später Rosy.

Auch ich konnte mir die Herkunft nicht selber wählen. Und wie ich von meinen Geschwistern zu spüren bekommen sollte, war man nicht sonderlich begeistert über einen weiteren Mitesser. Anders gesagt, ich war schlichterdings eine Katastrophe. Wo Charley, Ted und Susan ihre Schulaufgaben hätten machen sollen, stand jetzt ein Korb, und in dem war ich. Der ständige Windelgeruch machte die kärglichen Mahlzeiten nicht besser. Aber meine Mutter hielt zu mir, und auch Rosy. Mein Vater hatte schon damals seine Tuberkulose.

Es muß sich nun so zugetragen haben, daß die Damen des Verschönerungsvereins von Blackstone einen Besichtigungsspaziergang durch die Straße machten, in der mein Geburtshaus steht. Und als sie an diesem vorbeischlenderten, beeindruckt von all dem Elend, hörten sie, denn es war Sommer und von den ehemaligen Fabrikfenstern hatte man die Pappe entfernt, aus dem ersten Geschoß das zarte Gewimmer eines Säuglings. Und als sie, im Sinne ihrer Mission, dem Gewimmer nachgingen – eine Sanierung des Viertels stand bereits vor dem Krieg zur Diskussion –, fanden sie im alten Wäschekorb, in dem auch schon meine Geschwister gelegen hatten, mich. «Ei, ei, ist der aber süß», müssen sie gesagt haben, und das blieb nicht folgenlos. Mrs. Webster jedenfalls, die Gattin des Steuerinspektors Albert Webster, selber kinderlos, beschloß kurzerhand, meine Taufpatin zu werden, so daß sie für mich fürderhin Tante Emily war.

Meine Mutter hatte sich für mich noch keinen endgültigen Namen ausgedacht, weil sie eigentlich eher mit einem Mädchen gerechnet hatte. Die künftige Tante Emily dachte sogleich an ihren Lieblingssänger Walt Durbridge («I kiss your eyes») und versuchte meiner Mutter, die noch im Wochenbett lag, dessen Vornamen schmackhaft zu machen. Meiner Mutter klang der Name fremd, aber als sie schwach äußerte, sie wisse nicht so recht, und auch Joe wäre ein schöner Name, entgegnete Mrs. Webster, das sei gar keine Schwierigkeit, Joe sei dann einfach mein zweiter Vorname, und ob das nicht ganz schrecklich süß sei, Walt Joe, für solch ein niedliches Kerlchen, das passe auch haargenau zu meinen blauen Augen. Einen Doppelnamen hatte allerdings noch keines meiner Geschwister bekommen.

An dieser Stelle ist es gegeben, die Linien meiner Familie kurz weiter rückwärts zu verfolgen, bis sie sich, was relativ schnell der Fall ist, im Dunkel der Geschichte verlieren. Die Annahme nämlich, die Geschichte der Familie bis zu meiner Geburt sei ein purer Abstieg, wäre grundfalsch. Das Beispiel einer Degeneration scheint mir vielmehr die Familie meiner späteren Frau abzugeben, wenn diese auch aus Verhältnissen stammt, für die das Etikett High Society zutreffen mag.

Der erste Schein trügt.

Nehmen wir meinen Vater. Daß ihn die Tuberkulose erwischt hat, dafür kann er nichts, und daß er deswegen Frührentner wurde, dafür kann er ebensowenig, die wenn auch bescheidene Rente hingegen ist dem Umstand zu verdanken, daß er früher in der Gewerkschaft manches Wörtchen mitzureden wußte, der rote Josef Gifter, ein wahrer Hitzkopf muß er damals gewesen sein. Man darf es ihm jedoch nicht verargen, wenn er nicht in der Lage war, die gesellschaftlichen Zustände, die in die mißliche Situation geführt hatten, mit eigener Hand zu ändern. Man braucht sie nur mit den Lebensumständen meines Großvaters väterlicherseits, William Gifter, zu vergleichen: der mußte in der Fabrik täglich mindestens vierzehn Stunden schuften, von Kind an und zu einem Hungerlohn – dagegen hatte es mein Vater doch zumindest bequemer. Ganz abgesehen davon, daß sich die Fabrikwohnung meiner Eltern neben dem Kellerloch, in dem mein Großvater William mit seiner Familie hausen mußte, geradezu komfortabel ausnimmt: elektrisches Lichtist da, eine Waschgelegenheit im Hinterhof vorhanden. Meine Mutter kam als junges Mädchen vom Land in die Kugellagerfabrik von Blackstone, auf dem Land war das Elend nach der Mißernte von 1928 noch größer, sie kam mit zwei Brüdern, für die auch nichts mehr zu essen war in der Hütte auf dem Land, die heute nicht mehr steht, Onkel Jack und Onkel Terry (letzterer 1939 gestorben), und da lernte sie meinen Vater kennen, der damals noch in der Kugellagerfabrik als Packer arbeitete. Meine Mutter war ein anständiges Mädchen.

Ich kenne die Vorfahren von Mrs. Webster, meiner Taufpatin, nicht. Aber wenn sie sich meiner Mutter gegenüber, die halbtot im Wochenbett lag, mit solcher Überschwenglichkeit durchzusetzen wußte, besagt dies überhaupt nichts darüber, ob sie aus einer anständigen Familie kommt oder nicht. Na ja.

Die Taufe des siebten – und letzten – Kindes von Joe und Mary Gifter fand am übernächsten Dienstag statt, und da es bei dem Doppelnamen Walter Josef geblieben war (ich sollte später noch froh sein über die Initiale des zweiten), fiel sie entsprechend aus dem Rahmen. Der ganze Verschönerungsverein kreuzte auf, und meine spätere Tante Emily hatte sich nicht lumpen lassen und mir ein so auffällig teures Taufkleid erstanden (man sieht es auf Fotos), daß Reverend Miller von der St. George Chapel kaum glauben konnte, daß es sich um den kleinen Gifter aus der Seitenstraße zur Industry Street handelte. Er war es.

Beim Taufakt trug mich Mrs. Webster, und als ich zu weinen begann, weil mir das Wasser lästig war, nahm Rosy mich auf ihren Arm. Es muß recht stimmungsvoll gewesen sein: mein Vater, der das Hüsteln zu unterdrücken versuchte, Mam, von Charley gestützt, alle Geschwister in ihren besten Kleidern, die aufgedonnerte Mrs. Webster in ihrer Rolle als Patin, der irgendwie verunsicherte Reverend Anthony Miller und die Damen vom Verschönerungsverein im Hintergrund. Eine Mrs. Riverside machte die Blitzaufnahmen.

Der Verschönerungsverein hatte sich den Platz in der kleinen Kapelle gewissermaßen gepachtet. Und als die Damen bemerkten, wie schäbig es drinnen aussah, entschlossen sie sich spontan zu Spenden.

Für meine ganze Verwandtschaft hätte der Platz nicht gereicht. Draußen aber kam es dann zu einer richtigen Völkerversammlung: Onkel Jack war da mit Frau und Sprößlingen, sechs an der Zahl, die verwitwete Tante Jane mit ihren neun Halbwaisen vom verstorbenen Onkel Terry, ebenfalls mütterlicherseits, und väterlicherseits war praktisch die ganze Sippe erschienen. Aus dem Heimatdorf meiner Mutter seien Verwandte gekommen, deren Namen ich nicht einmal weiß, und sogar aus Manchester seien entfernte Verwandte nach Blackstone gepilgert. Etliche hatten was zum Essen und Trinken mitgebracht, glücklicherweise, und so kam es vor der Kapelle zu einem richtigen Volksfest. Charley muß etwas viel Bier abbekommen haben und war ziemlich bald – so weiß ich aus den Erzählungen meiner Geschwister – etwas komisch. Schon da also kündigt sich sein späteres Alkoholikerschicksal an. Aber Rosy paßte auf ihn auf. Besonders jedoch auf mich. Betty war mit Mam gleich nach dem Taufakt nach Hause gegangen, weil meine Mutter, Wochenbett und Taufe hin oder her, bis Ende des Monats noch einen tüchtigen Stoß Militärkleidung von der Royal Army auszubessern hatte. Auch darin hatte sich der Windelgeruch hartnäckig festgesetzt, aber den wieder rauszubringen, war nicht ihr Problem, sondern das des Militärs. Meine Mutter war besonders in der jetzigen Situation, wo ich noch dazugekommen war, froh um diesen Auftrag, denn da ihre älteren Töchter Rosy und Betty es einmal besser haben sollten, mußte Betty zur Schule und Rosy die Ausbildung am Hospital machen, so daß Mam allein sich darum kümmern konnte, wie die...

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