Dienstag, 17. Januar
Tripoli – Grenze – Qusair
5.30 Uhr. Muezzinruf. Sehr schön, massiv verstärkt, schneidet er durch die Nacht.
6.50 Uhr. Aufstehen. Bleary grey morning. Im Wohnzimmer warten schweigend die beiden libanesischen Schleuser.
7.30 Uhr. Abfahrt. Weißer Minivan, mit Fernseher, wie ein kleiner Bus. Einer der Libanesen fährt. Musik voll aufgedreht und Videos. Wir schlängeln uns unter sintflutartigem Regen durch den Verkehr von Tripoli. Dann Vororte, Fabriken. Wir werden einen großen Umweg fahren müssen, die Gebirgspässe sind vom Schnee blockiert. Wir müssen auch zwei Checkpoints der libanesischen Armee umfahren. Normalerweise wäre der kürzeste Weg der Richtung Norden.
Wir fahren durchs Libanon-Gebirge, kurvenreiche Straße, kahle Landschaft, kleine Wölkchen, die sich an die Bergkämme klammern, weicher Schnee, der auf dem Auto schmilzt. Checkpoint passiert, ohne anzuhalten. Einmal nehmen wir einen Soldaten ein Stück mit, ich habe mich hingelegt, öffne kurz ein Auge und schlafe wieder ein. Wir lassen den Soldaten in einer schiitischen Ortschaft aussteigen, in der es von Militär wimmelt. Auf einem langen Feldweg durch eine wüstenartige Ebene werde ich aufgeweckt, auf einer Seite das bewölkte Libanon-Gebirge, auf der anderen ein Dorf, das sich an den Fuß der kleinen Berge schmiegt. Vor uns liegt Syrien. Wir fahren an Ackerbauern und Schafen vorbei. Endlich, nach ein paar holprigen Kilometern, erreichen wir eine Straße und haben den Grenzposten der libanesischen Sicherheitskräfte hinter uns gelassen. Geld wechselt den Besitzer: Der Zorn gibt dem Libanesen 700 Dollar, vielleicht für uns, dann nochmal 1000 Dollar für Besorgungen, scheint es – vielleicht für das Schmuggeln von Mörsern? Auf der Straße eine Moschee der Hisbollah, wir sind in der Nähe eines schiitischen Dorfs; wie die Bekaa-Ebene ist auch dieser Landstrich ein konfessionelles Mosaik.
Der Zorn: »Die Mehrzahl der sunnitischen Dorfbewohner unterstützt den Aufstand, mit einigen Ausnahmen; bei den Schiiten ist es genau umgekehrt.« Auf der Straße treffen wir drei junge Männer auf zwei rostigen Motorrädern, alten chinesischen Klapperkisten; es sind Ackerbauern aus der Gegend mit schwieligen Händen. Wir begrüßen die libanesischen Freunde, dann steigen wir je zu dritt auf ein Motorrad und fahren zwischen Häusern und Feldern hindurch unbefestigte Wege entlang. Ärmlich gekleidete, rotznäsige Kinder, Schafe, Bienenstöcke, ein Junge, der auf einem Pferd galoppiert. Ein paar Kilometer und wir sind bei einem Haus, schon jenseits der Grenze. Wir sind zwischen einem Posten der libanesischen Spezialkräfte und einem Posten der syrischen Armee hindurchgefahren. Aber die Grenze ist ein sich in die Tiefe ausdehnendes Konzept, keine Linie.
Die »Grenze« beschränkt sich nicht auf die in den Karten eingezeichnete Linie, sondern erstreckt sich noch über zig Kilometer weiter, dank eines Systems von festen und mobilen Straßensperren. Für die Bewohner der Dörfer, die halb auf der einen, halb auf der anderen Seite der Linie liegen, existiert sie praktisch nicht oder allenfalls als ökonomisches Konzept, das es ihnen erlaubt, von einer Seite auf die andere Geschäfte zu machen.
Jetzt sind wir bei Leuten zu Besuch, Ackerbauern und ihren Familien. Kaffee, die Väter streicheln ihre Söhne. Ein Funkruf, alles ist bereit, weiter geht’s. Über die Grenze. Ein paar hundert Meter weiter ein anderes Haus, wo wir ins Empfangszimmer geführt werden. SMS auf Raeds Handy: MINISTRY OF TOURISM WELCOMES YOU IN SYRIA. PLEASE CALL 137 FOR TOURISM INFORMATION OR COMPLAINTS.4 Welcome to Wonderland. Es ist Punkt zwölf Uhr mittags.
Reiches Haus, schönes Wohnzimmer mit Teppichen und Sitzbänken mit Blumenmuster aus Synthetikstoff. Großer Ölofen, sobia auf Syrisch, Gaslampe. Ein paar Jungen servieren auf einem Tablett eine üppige Mahlzeit. Keine Frau zu sehen. Unser Gastgeber erklärt uns, wie die FSA des Sektors organisiert ist: Die Einheiten von Qusair gehören zur katiba5 al-Faruq von Baba Amr, kommandiert von Abderrazzaq Tlass, einem mulazim awwal6, dem ersten Offizier, der von der Armee übergelaufen ist.
Wir wissen, dass wir, um nach Homs zu kommen, wahrscheinlich durch Baba Amr fahren müssen, ein Viertel im Südwesten der Stadt, das vollständig von der FSA kontrolliert wird. Abu Brahim, der unsere Einreise organisiert hat, wohnt selbst in Bajada, im Norden der Stadt. Deshalb stellen wir Fragen zur Situation in Baba Amr und im Grenzgebiet.
Unser Gastgeber: Baba Amr ist eine Bastion der FSA, weil es ein großes Viertel ist und an die Obstgärten oberhalb des Orontes grenzt. Es ist umzingelt, aber die Armee dringt nicht ein. Auch in anderen Vierteln, in Khaldije, Bajada etc., stehen Einheiten der FSA, allerdings weniger, weil die Viertel kleiner sind und besser von den Sicherheitskräften kontrolliert werden können.
In den Grenzdörfern gibt es keine Demonstrationen. Sie wollen Ruhe bewahren, um die mukhabarat7 nicht anzulocken und den Grenzhandel nicht zu gefährden. Etwas weiter weg, bei Qusair, hat die FSA Einheiten und greift die Armee und die Sicherheitskräfte an.
Zweimal ist die Armee mit den mukhabarat schon ins Dorf gekommen. Sie haben Häuser durchkämmt, um gesuchte Personen aufzustöbern. Sie haben nichts gefunden und sind wieder abgezogen, ohne Probleme zu machen. Hier standen sie vor der Tür und haben Fragen gestellt, sind aber nicht reingekommen.
Ich: »Hast du keine Angst um deine Kinder?« – Er: »Ich habe nur Angst vor Gott.« Er vertraut seinen Kindern, die bei unserem Gespräch zuhören. »Sie können schweigen.«
Die Frauen machen auch mit: medizinische Notfallversorgung, Hilfe beim Über-die-Grenze-Bringen verletzter Personen usw.
Er: »Wir leben seit langer Zeit in der Unterdrückung. Wir haben hier ein Sicherheitssystem, bei dem keiner keinem vertraut.« Er fühlt sich als Sunnit diskriminiert. Die guten Posten sind für die Alawiten reserviert. »Es gibt keine Justiz, man kann nichts einklagen. Die verhafteten Personen verschwinden, man kommt nicht zu ihnen, man hört nie wieder etwas von ihnen.« Sein Sohn hat drei Jahre lang versucht, in den Polizeidienst einzutreten, ohne Erfolg. Er glaubt, das liegt daran, dass er Sunnit ist.
Anfangs wollten sie nur Reformen, mehr Freiheit. Dann verschärfte es sich wegen der Repression.
*
Abfahrt gegen 13 Uhr. Der Zorn kommt mit einem Pick-up, und wir quetschen uns zu dritt nach vorn. Anruf aus Baba Amr: Genervte Typen sagen, dass wir nicht reindürfen, dass sie keine Journalisten empfangen können, dass der Schleuser uns zurück in den Libanon bringen soll. Raed ruft seine Kontakte an, und nach und nach klärt sich die Lage. Wir fahren.
Die Zurückhaltung einiger Oppositionskämpfer aus Baba Amr, weitere Journalisten zu empfangen, war während dieser Zeit sehr groß, auch wenn sich das später, als das Viertel massiv bombardiert wurde, vollständig änderte. Während unseres Aufenthalts in Baba Amr wird dies eine ständige Quelle von Reibereien sein.
Gemischte Gegend, Dörfer verschiedener Konfessionen. Wir fahren in eine von der FSA kontrollierte landwirtschaftliche Zone. Wir kommen an einem Kommandanten in einem Pick-up vorbei, dann an einem Checkpoint mit einem Soldaten, dann an einem größeren Checkpoint auf einer Brücke. Ein steter Strom von Minibussen und kleinen Pick-ups von Schmugglern, die aus dem Libanon kommen oder dorthin fahren. Der Checkpoint kontrolliert sie und lässt sie durch. Ein neuer Weg, ein weiterer Anruf in Homs. Ein Kind plärrt ins VHF-Gerät8, der Sohn eines Soldaten beim Spielen. Der Zorn hat außer dem VHF-Gerät auch eine Handgranate neben dem Steuer liegen. Sollten wir auf eine mobile Straßensperre stoßen, wird er nicht anhalten.
Wir biegen von der Straße auf einen Feldweg: Wir nähern uns einem der Checkpoints, die Qusair umgeben. Wir weichen ihm auf ein paar Wegen, dann über Brachland aus, das von Beduinen in Militärzelten bewohnt wird. Auf einer kleinen Straße fahren wir in 300 Meter Entfernung am Checkpoint vorbei, den Der Zorn mir lachend zeigt. Wir erreichen Qusair, eine Stadt mit 70 000 Einwohnern, zweigeschossigen Häusern aus bröckeligem Beton, die in verwaschenen Pastellfarben angestrichen sind. Regen, Fußgänger, Motorradfahrer. Im Zickzack fahren wir durch die Gassen zum Haus des Schleusers. Es ist 14 Uhr, wir haben von Tripoli 6 1/2 Stunden gebraucht.
Wir sind doch nicht bei Dem Zorn, sondern bei einem Freund von ihm, Abu Amar. Kleines Empfangszimmer, ein Computer mit Drucker, Ölofen. Mehrere Personen sind da, wir bekommen Tee und Kuchen. Ein Typ mit einer Kalaschnikow taucht auf; dieses Viertel ist »befreit«. Ein Lautsprecher der Moschee setzt ein: Am Morgen haben sie zwei in Homs getötete Märtyrer begraben und nach dem Nachmittagsgebet, verkündet der Imam, werden sie einen dritten begraben. Diskussion, ob wir da hingehen können. Sie wollen nicht, weil Beerdigungen zu Demonstrationen eskalieren können und dann die Armee anfangen könnte zu schießen; außerdem...