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' ...bis eines Tags es keinen Sinn mehr haben wird zu sagen: morgen.'

Literarische Verarbeitung von KZ-Erfahrungen 1933-1994

AutorStéphanie Pissinger
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2006
Seitenanzahl86 Seiten
ISBN9783638514453
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2006 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: 2,3, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 22 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: In meiner Arbeit habe ich mich mit fiktionaler und nichtfiktionaler KZ-Literatur beschäftigt. Hier entsteht das Problem eine Grenze zu ziehen, da oft beides ineinander übergeht. These ist, dass die Berichte, die eigentlich die Realität vermitteln wollen, sich nicht allzu sehr von der fiktionalen Literatur unterscheiden. Unbegreifliches zu beschreiben, benötigt immer eine Sprache, die sich von der 'normalen' abhebt. Somit erheben sich die Berichtenden in die Welt der Literatur und bedienen sich literarischer Tropen. Gegenstand der Arbeit ist eben diese Wendungen, die in den Berichten auftreten, aufzudecken und sie mit denen aus der rein fiktionalen Literatur zu vergleichen. Nach intensiver Lektüre der Werke habe ich Themen ausgesucht, die nahezu in allen Berichten, Romanen und Erzählungen auftreten. Ein sehr interessantes Thema ist 'Idealisierung von Freundschaft und Liebe' (II.2.2), das eigentlich nur in der fiktionalen Literatur, d.h. bei Feuchtwanger, Seghers und Weil, vorkommt. Dies bleibt in den autobiographischen Berichten aus, wohl weil es so etwas nicht gegeben hat.

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Leseprobe

III. Ausbruch


 

In diesem Kapitel werden alle möglichen Formen von Ausbrüchen behandelt, die im KZ oder in Gefangenschaft vorkommen. Die Menschen brauchten Beschäftigung, um wenigstens geistig aus dieser ‚Hölle’ zu entkommen. Bredel beschreibt in seinem Roman, wie sich die Politischen versammeln um „Schulungsarbeit“ zu machen. Jeder der Genossen bereitet einen Vortrag über ein bestimmtes politisches Thema vor und trägt dies in der Runde vor (Bredel: Die Prüfung. S. 279-280). Dies ist eine Art des Ausbruchs, es hilft den Gefangenen, nicht zu verzweifeln. Sie geben ihrer Haft so einen Sinn.

 

III. 1. Flucht


 

Flucht scheint der normalste und offensichtlichste Ausbruch von allen, interessant ist daher, dass diese Flucht überhaupt nicht so alltäglich oder normal war, wie sie uns heute erscheint. Nur Anna Seghers schildert in ihrem fiktionalen Roman die Flucht Georgs aus dem Lager. Diese Flucht ist Thema des Buches. Die gelungene Flucht Georgs wird über alles gestellt, so dass der Leser zum Schluss das Gefühl eines ‚Happy Ends’ hat, da ja sogar die KZ-Insassen sich dermaßen freuen, dass sie sich nicht einmal mehr als Gefangene betrachten. Hier kann man das Fiktive in ihrer Erzählung erkennen: die Idealisierung und der Erfolg einer Flucht.

 

Denn in den übrigen Berichten kommt die ausgeführte Flucht nur noch einmal zur Sprache, nämlich bei Ruth Klüger. Als sie aus dem KZ evakuiert werden und von Dorf zu Dorf marschieren, ergreifen Ruth, ihre Mutter und ihre Adoptivschwester die Flucht. „Die Entscheidung zur Flucht war frei.“ (Klüger: Weiter leben. S. 167)

 

Es ist eine der gefährlichsten Ausbrüche, die begangen werden können. Somit hat es auch fast niemand gewagt. Der misslungenen Flucht folgten Folter und Exekution. Daher ist der Gedanke an Selbstmord von den Gefangenen öfters in Erwägung gezogen worden, da es sich hier um eine freie Entscheidung und einen Tod ohne Fremdeinwirkung handelt.

 

III. 2. Suizid


 

Inwiefern Suizid auch noch Hoffnung gibt, macht Levi deutlich:

 

Wenn du absolut müßtest, wenn du nichts anderes mehr in deinem Herzen spürtest als Leid    und Überdruß, wie dies zuweilen geschieht, so daß du wirklich glaubst, vollends in der       Tiefe zu liegen, dann – und so denken wir alle – könntest du noch den elektrischen Sperrdraht anfassen oder dich vor einen der rangierenden Züge werfen, und dann würde es nicht mehr regnen. (Levi: Ist das ein Mensch? S. 157-158)

 

Es gibt immer noch einen letzten Ausweg, wenn überhaupt nichts mehr geht. Es ist beruhigend für alle, dies zu wissen. Der letzte Satz scheint wie aus einem Gedicht gegriffen. Anstatt noch einmal das ganze Leid aufzuzählen, dem mit dem Suizid ein Ende gesetzt sein würde, bezieht er sich nur auf den Regen, der dann aufhören würde. Der Regen ist also in diesem Fall ein pars pro toto für das ganze Leid, das einfach nicht mehr auszuhalten ist.

 

Klüger ist die Vorstellung lieber, dass ihr Vater sich selbst umgebracht hat, als die, dass er im Gas erstickt ist (Klüger: Weiter leben. S. 35). Dies hat mit der Entscheidung zu tun, die man selbst nimmt, anstatt sich in die Hände Fremder zu begeben. Als sie sich jedoch selbst in dieser Situation befindet zu entscheiden, hält sie am Leben fest:

 

Wenn das Leben lieben und sich ans Leben klammern dasselbe ist, dann habe ich das  Leben nie so geliebt wie im Sommer 1944, in Birkenau, im Lager B 2 B. Ich war zwölf  Jahre alt, und der Gedanke, mit Zuckungen in einem elektrischen Stacheldraht zu verenden,  und das noch dazu auf Vorschlag meiner eigenen Mutter, und jetzt gleich, überstieg mein       Fassungsvermögen. (Klüger: Weiter leben. S. 115)

 

Erst zu diesem Zeitpunkt wird ihr klar, dass das Leben noch weitergeht.

 

Anita Lasker-Wallfisch, die ebenfalls noch sehr jung ist zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung, beschließt zusammen mit ihrer Schwester in den Tod zu gehen.

 

Als wir noch „freie“ Menschen waren, haben wir uns – wie so viele Juden – Zyankali beschafft. Der Grund dafür lag auf der Hand: Letzten Endes konnte niemand von uns sich wirklich sicher sein, der Gestapo zu entrinnen. Es war irgendwie beruhigend, über einen Ausweg zu verfügen. (Lasker-Wallfisch: Wahrheit erben. S. 73)

 

Als es dann soweit ist, und die beiden zusammen das vermeintliche Gift einnehmen, merkt sie, dass ein Freund das Zyankali mit Puderzucker vertauscht hat. „Ich muß gestehen, die Erkenntnis, noch am Leben zu sein, war eine Erlösung.“ (Lasker-Wallfisch: Wahrheit erben. S. 74) Sie zeigt wie sie, selbst in der Gewissheit was sie erwarten wird, am Leben festhält und es nicht einfach weggeben will.

 

Wander spricht den Suizid als Sünde an: „Sündige nicht, alles darfst du weggeben, aber das Leben darfst du nicht weggeben.“ (Wander: Der siebente Brunnen. S. 48)

 

Im Judentum gibt es keine ausdrückliche Verurteilung [des Suizids] in der Bibel, aber es kam zu einem Verbot, zum Teil wegen des fünften Gebotes („Du sollst nicht töten“) und teilweise aufgrund dessen, daß das Leben als ein unmittelbares Ergebnis von Gottes Schöpfung empfangen wurde: Es ist an ihm zu bestimmen, wann ein Leben beginnen und wann es enden soll.[30]

 

Aber diese Verurteilung des Suizids ist nicht notgedrungen Wanders Ansicht. Als er die Delinquenten beschreibt, die langsam einen qualvollen Tod sterben, wirft der Ich-Erzähler Fragen auf, die einfach nur logisch sind und nichts mit Religion zu tun haben:

 

Warum liefen sie nicht in den Draht? Eine Kugel wäre die Erlösung gewesen! [...] Wollten       sie in vollem Bewußtsein den Märtyrerweg bis zum Ende gehen? Warum kostete man ein     Leben bis zum letzten Tropfen aus, das nichts mehr zu bieten hatte als Demütigung und Qualen. [sic!] Oder hatte es noch etwas anderes zu bieten? Hatte es einen uns Überlebenden verborgenen Wert? Ich habe lange über diese Fragen gegrübelt. Es gibt keine Antwort. Keiner, der unter jenem Galgen gestanden hat, konnte eine Nachricht hinterlassen oder auch nur ein Wort. (Wander: Der siebente Brunnen. S. 116)

 

Hier mischt sich unweigerlich auch der Autor ein. Es ist also falsch, diejenigen zu verurteilen, die den Suizid nicht als Ausweg suchen, sondern den fremden Tod hinnehmen. Warum, kann er nicht sagen, weil er eben zu den Überlebenden gehört. Er war nie in der Situation und weiß nicht, wie er sich entschieden hätte, genau wie Klüger, die sich auch für das Leben entscheidet.

 

Sogar die überaus gläubige Etty Hillesum schreibt in ihrem Tagebuch: „Es geschieht öfter in letzter Zeit, daß es mir leichter scheint, nicht zu leben, als weiterzuleben.“ (Hillesum: Das denkende Herz. S. 57) Obwohl sie der Auffassung ist, dass man Leid ertragen muss, um überhaupt richtig zu leben, schleichen sich auch bei ihr solche Gedanken ein.

 

Willi Bredel erwähnt zwei Suizide, die sich im Gefängnis zugetragen haben. Ein Suizid wird aus Scham begangen, weil Tetzlin unter Folter andere Genossen verraten hat (Bredel: Die Prüfung. S. 57-61) und der andere einfach, um den dauernden Qualen zu entgehen. Dieser letzte wird von Bredel somit nicht als Selbstmord, sondern als eine Art Mord dargestellt: „Haben sie es also doch fertiggebracht. Zirbes und Meisel [, die SS-Leute,] haben erreicht, was sie sich vorgenommen haben. Koltwitz hat sich erhängt...“ (Bredel: Die Prüfung. S. 153) Dies sind die Gedanken Torstens in seiner Zelle, der allein die SS-Leute für den Tod Koltwitz’ verantwortlich macht. Ein Selbstmord also, mit fremder Einwirkung.

 

III. 3. Kunst


 

Die beiden Künste Literatur und Musik haben ihren Weg ins KZ gefunden, durch die Erinnerung oder aber auch die Kreativität der KZ-Insassen. Wander erzählt ein Beispiel, wo ein ehemaliger Louvres-Führer sarkastisch die Zustände im Lager präsentiert: „Sehen Sie hier, Mesdames, Messieurs, das Gemetzel von Chios, von Eugène Delacroix, die Türkengreuel in Griechenland, betrachten sie die Opfer im Vordergrund des Bildes, sie warten ergeben auf den tödlichen Streich, in ihren Gesichtern keine Klage, keine Angst. Unabwendbar das Schicksal, das ihnen naht.“ (Wander: Der siebente Brunnen. S. 75) Das Bild, in seinem Gedächtnis abgespeichert, wird hier auf die leidenden Opfer des Nationalsozialismus übertragen.

 

Durch den Ausbruch in die Welt der Künste gelingt es dieser Person in ihrer Art und Weise besser, mit ihrem Schicksal umzugehen.

 

III. 3. 1.  Musik


 

Musik kann sowohl negativ als auch positiv konnotiert sein. So sind die deutschen Märsche, die im Lager gespielt werden, definitiv als negativ anzusehen. Levi und Wander beschreiben diese qualvollen Märsche, die immer mit dem Auszug zur...

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