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E-Book

Lebenslang Morgenkreis

Der ultimative Ratgeber für Grundschullehrer/innen

AutorMartin Beer
VerlagBeltz
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783407631121
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Martin Beer ist einer der wenigen Männer, die sich als Lehrer in die Grundschule gewagt haben - und möchte diesen Zustand verändern: »Junge Männer, strömt in die Grundschulen! Ergreift den lustigsten und abwechslungsreichsten Beruf der Welt. Bewaffnet euch mit Zackenschere und Klebestift und sammelt Paninibildchen statt Aktienfonds.« Doch auch für alle (angehenden) Grundschullehrerinnen hat dieser »ultimative Ratgeber« einiges zu bieten: Der erste Teil ist autobiografisch angelegt: Von Beers fixer Idee, Grundschullehramt zu studieren, dem gemeinsamen Studium mit 110 Frauen bis hin zu den Anfangsjahren des Autors in vollkommen männerfreien Kollegien ist ebenso die Rede wie von den Kindern, deren Wortwitz und Verhalten immer wieder Anlass zu großem Erstaunen gibt. Im zweiten Teil wird von »A wie Anlauttabelle« bis »Z wie Zappelphilipp« auf alle grundschulrelevanten Themen Bezug genommen. Dabei stützen sich die Betrachtungen immer auf eigene Erfahrungen. Lehrbücher gibt es genug, werfen wir stattdessen gemeinsam einen Blick in die Praxis.

Martin Beer wurde 1977 in Frankfurt eingeschult. Seit 1996 unterrichtet er als einer der wenigen Männer an verschiedenen Grundschulen in Frankfurt und Offenbach.

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Leseprobe

Wie alles begann


Am Anfang war ich wie ihr – suchend, unentschlossen. Nachdem sich die kindlichen Tagträumereien beruflicher Karrieren als Zoodirektor, Astronaut oder Fußballprofi in Luft aufgelöst hatten, folgten ebenso wenig realistische Vorstellungen, als Rockstar oder Schauspieler zu Ruhm, Ehre und Geld zu gelangen. Die Arbeit in einem Getränkemarkt konnte mich für kurze Zeit wieder erden, doch wusste ich nach dem Abitur immer noch nicht, in welche Richtung es einmal gehen sollte, bis auf die Gewissheit, dass ich den Getränkefachhandel für alle Ewigkeit ausschließen konnte.

Gut, dass es den Staat gibt, der mir nur eine Woche nach der Beendigung meiner Schullaufbahn einen Einberufungsbescheid zustellte. Ich hatte ganze drei Wochen Urlaub, bevor ich pünktlich meinen Zivildienst antreten musste. Damals konnte ich dieser Zwangslage nur bedingt etwas Positives abgewinnen, im Nachhinein war es ein Sechser im Lotto.

Zivildienst


Den Wehrdienst zu verweigern war in meinem Freundeskreis mehr oder minder eine Selbstverständlichkeit. Wir trugen lange Haare, verbargen unsere von Akne und Bartflaum geprägten Gesichter hinter nie gewaschenen Palästinensertüchern, demonstrierten gegen prinzipiell alles, brüllten sinnfreie Parolen wie »Hopp, hopp, stopp« in den von Smog behangenen Himmel der Großstadt und malträtierten unschuldige Wandergitarren im Dunst von Dosenbier und selbstgedrehten Zigaretten. Mit anderen Worten: Wir schissen auf das System, so gut man das als braver Mittelstandssohn Ende der achtziger Jahre eben tun konnte. Niemand, der seine fünf Sinne beieinander hatte, wollte sich freiwillig im Gleichschritt über einen nordhessischen Kasernenhof scheuchen lassen und seine Unterwäsche rechtwinkelig falten. Wir waren es gewohnt, selbst zu brüllen, auch wenn uns dabei nur selten jemand zuhörte. Wie man seine Unterhosen korrekt zusammenlegt, sollte mich erst viele Jahre später interessieren.

Meine schriftliche Verweigerung trieb selbst dem hartgesottensten Militaristen die Tränen in die Augen. Die Musterung ließ ich leidenschaftslos über mich ergehen. Nach all den Zensuren in dreizehn Jahren Schule bekam nun auch mein Körper eine Note. Das Kreiswehrersatzamt Eschborn-Süd beurteilte den achtzehnjährigen Leib mit befriedigend, der Standardnote für alle Verweigerer. Die Friedenstypen bekamen befriedigend. Bei der Bundeswehr fand man solche Wortspiele noch witzig.

Ich ging in dem festen Bewusstsein, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Körper Drei, Geist Zwei, dachte ich damals – es gibt schlimmere Ausgangslagen.

Eine Zivildienststelle zu finden, war schwieriger als gedacht. Wer nicht gerade in der Pathologie Leichen waschen oder auf einer weit entlegenen Nordseeinsel Seevögelgelege zählen wollte, musste ein hohes Maß an Eigeninitiative aufbringen. Da ich nicht getauft bin, fielen auch alle kirchlichen Stellen weg. Am Ende wandte ich mich in höchster Not an eine nahe gelegene Behindertenwerkstatt, um die wir als Kinder immer einen weiten Bogen gemacht hatten. Angegliedert war das Behindertenwohnheim.

Ein bereits erfahrener Zivi führte mich durch die Einrichtung. Auf dem Bett eines Bewohners entdeckte er verdächtige Flecken. »Kacke oder Schoko«, mutmaßte er und zog seinen Zeigefinger prüfend durch die braunen Schlieren.

Mir wurde augenblicklich schlecht.

Herausfordernd betrachtete er den Abstrich. Dann steckte er sich den Finger in den Mund und überließ seine Zunge ihrem Schicksal. »Glück gehabt«, resümierte er schließlich.

Die wirklich harten Jungs robbten nicht mit einer G36 durch den Schlamm.

Der Empfang der Bewohner war nicht minder herzlich. Zwei Behinderte gaben mir sachlich die Hand, ein dritter fiel mir um den Hals und küsste mich feucht auf den Mund. Zivitaufe. Ich überstand auch diese Prüfung und bekam die Stelle.

In der Theorie wurden wir Zivis, wie man uns im allgemeinen Abkürzungswahn dieser Zeit hartnäckig nannte, einem Gruppenleiter zugeteilt, unter dessen Anleitung man dann eine Gruppe von Behinderten dazu anwies, ihre Arbeit in der Werkstatt zu tun. So weit, so gut. Aber wie immer im Leben liegen Theorie und Praxis in zwei weit entfernten Galaxien und haben noch keine Möglichkeit gefunden, miteinander Kontakt aufzunehmen. Meine Gruppenleiterin war krank und sollte es die nächsten fünfzehn Monate auch bleiben. Das sagte man mir natürlich nicht gleich. Die bittere Realität wurde mir vielmehr häppchenweise und in handlichen Portionen neuer Ausflüchte und Notlügen dargereicht, damit ich nicht sofort schreiend davonlief.

Da stand ich nun, neunzehn Jahre alt, mit den Erfahrungen aus dreizehn Jahren Schule und drei Jahren Getränkemarkt, und blickte in die Augen von 16 erwartungsfrohen Behinderten. Auf meinem Schreibtisch lag ein Zettel mit dem Hinweis, dass »der Auftrag« dringend nächste Woche rausmüsse. Wer oder was auch immer der Auftrag war, ich hätte gern mit ihm getauscht.

In meinem Gruppenraum roch es nach Sabber und Bohnerwachs. Unter den Behinderten gab es eine klare Hackordnung. Gisela, die als einzige Briefmarken kleben durfte, übernahm meine Einarbeitung. Ilse war für das Kaffeekochen zuständig. Harry holte die Postkästen mit der Sackkarre. Die anderen tüteten diverse Werbeprospekte ein. Da hier niemand bis zehn zählen konnte, gab es noch eine Gruppe, die das Prospektmaterial mit Hilfe von Zählbrettern zu kleinen Stapeln vorsortierte. Zwei Mitglieder meiner Gruppe waren aufgrund ihrer Behinderung ausschließlich dazu in der Lage, diese Stapel von einem Mitarbeiter zum nächsten zu schieben. Aber auch diese Aufgabe erfüllten sie mit Hingabe.

Neunzig Prozent unserer Zeit verbrachten wir mit solchen Kuvertierungsarbeiten. Die Werkstatt war froh, überhaupt noch Aufträge an Land zu ziehen, denn im Knast arbeitete man für wesentlich günstigere Konditionen. Jeder Tag, an dem die Behinderten arbeiten konnten, war ein guter Tag. Mit freier Zeit wussten sie nichts anzufangen und all meine Versuche, es mit Malen, Basteln oder sonstigen Beschäftigungstherapien zu versuchen, schlugen fehl. In der Regel ging es darum, die Stimmung hochzuhalten, denn schlechte Laune konnte unvermittelt in Tobsuchtsanfälle umschlagen und dann flogen gern mal Postkästen durch den Raum.

Zu meinem Glück war ich mit meinem Schicksal nicht allein. Acht weitere Zivildienstleistende fristeten ihr Dasein in dem roten Backsteinbau. Einer davon saß ausschließlich im Keller und verbrachte seine fünfzehn Monate damit, nicht entdeckt zu werden. Die Solidarität war groß. Wir teilten Eindrücke und Zigaretten, und zu meiner Überraschung waren die im Getränkemarkt gesammelten Erkenntnisse tatsächlich zu etwas nütze. Hier musste man anpacken. Zum Nachdenken war schlichtweg keine Zeit.

So fragwürdig meine Einarbeitung in der Werkstatt auch war, kam ich von Tag zu Tag immer besser zurecht. Meine Gruppe lief – nicht immer dahin, wo ich mit ihr hinlaufen wollte, doch gab es insgesamt nur wenig zu beanstanden. Die Arbeit wurde termingerecht erledigt und durch einen – mir unerklärlichen – Umstand wurde ich tatsächlich als eine Art Autoritätsperson wahrgenommen. Die Behinderten wuchsen mir ans Herz und selbst der Kellerzivi wagte sich mittlerweile zur Mittagspause ans Tageslicht. Alles in allem war es ein prima Job, den man allerdings rechtzeitig wieder loswerden musste.

In der Behindertenwerkstatt war jeder Tag Murmeltiertag. Fünfzehn Monate passierte exakt dasselbe. Jeder Tag folgte dem gleichen Muster. Abwechslung hieß der Todfeind der Behinderten. Nichts durfte verändert werden. Jede noch so kleine Abweichung im Tagesablauf zog wieder unkontrollierbare Tobsuchtsanfälle nach sich. Fünfzehn Monate musste ich Peter Maffay hören. Ich wiederhole, fünfzehn Monate musste ich Peter Maffay hören. Für achthundert Mark Sold!

Ein Blick in die anderen Gruppen genügte, um festzustellen, wie meine Zukunft aussehen würde. Viele Gruppenleiter, die den Job seit Jahren erledigten, hatten längst aufgegeben. Phlegmatisch saßen sie an ihren Schreibtischen und wackelten nur noch hospitalistisch vor sich hin. Die Grenzen zwischen Behinderten und Gruppenleitern waren fließend. Der immer gleiche Rhythmus hielt sie gefangen in der Einöde nimmer endender Gleichförmigkeit.

Als ich nach fünfzehn Monaten zum letzten Mal über alle sieben Brücken gegangen war, erschien mir meine...

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