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IHR KOMMT HIER NICHT REIN
Es stellt sich heraus, dass ich einen Aufschub bekomme. Eigentlich sollte der Prozess vor dem Oberlandesgericht München durchstarten, aber es gibt wohl einige Medienvertreter, die entweder ihre E-Mails nicht lesen oder über ein ähnlich beklagenswertes technisches Verständnis wie ich verfügen und das Akkreditierungsverfahren verpennt haben. Offenbar ist auch bei dem OLG das technische Verständnis ausbaufähig, denn einige Akkreditierungsmails sind im Spam-Ordner des Gerichts gelandet. Wo sie zunächst ein Schattendasein führten. Kurz: Optimal ist es nicht gelaufen. Vorwiegend sind es türkische Medienvertreter, die keinen der raren, aber heißbegehrten Plätze ergattern konnten. In der Presse bricht ein Sturm der Entrüstung los. Allgemeiner Tenor ist, das OLG München wolle im Zuge eines institutionellen Rassismus1 türkische Medienvertreter von der Prozessbeobachtung ausschließen. Die Hürriyet2 betätigt sich dabei als Chefkritisierer. Was dort über das Verfahren sowie den institutionellen Rassismus im Allgemeinen und im Besonderen verbreitet wird, ist geistige Brandstiftung. Ich würde als betroffenes Oberlandesgericht erwägen, rechtliche Schritte zu unternehmen. Und es werden rechtliche Schritte unternommen – allerdings nicht von den Diffamierten, sondern von der auflagenstärksten Tageszeitung der Türkei, der Sabah. Sie bemüht das Bundesverfassungsgericht.
Das in einer Eilentscheidung den Kotau vor der verletzten türkischen Seele macht und das Oberlandesgericht München verpflichtet, ein neues Akkreditierungsverfahren durchzuführen. Wobei die Akkreditierungen diesmal nicht nach dem Windhundprinzip – wer zuerst kommt, mahlt zuerst – vergeben werden sollen, sondern im Losverfahren. Mit verschiedenen »Töpfen«: einem für ausländische Journalisten (international), einem für ausländische Journalisten (türkisch) und einem für deutsche Journalisten. Dann wird zugelost, bis das Kontingent des jeweiligen Töpfchens erschöpft ist, und so ist gesichert, dass aus jedem Bereich jemand dabei ist. Manchmal auch nur irgendjemand. Jedenfalls auch die Benachteiligten, die im freien Wettbewerb im ersten Durchgang gescheitert waren. Zu den sinnigen Folgen des Losverfahrens gehört, dass die Brigitte täglich aus dem Verhandlungssaal berichten und die taz ihre Informationen von der DPA beziehen darf. Das ist cool. Ich empfand das Verfahren sowieso als zu männerlastig und freue mich auf investigative Berichte wie »Backen mit Beate« oder »Schöner Wohnen im Frauenknast«.
Nun, es ist, wie es ist: Die türkischen Medienvertreter haben ihre Plätze ergattert und können jetzt in der ersten Reihe ihre Geschütze gegen das OLG in Stellung bringen. Dem sie im Wesentlichen einen Mangel an Rechtsstaatlichkeit und immer wieder institutionellen Rassismus vorwerfen. Gleichzeitig finde ich in den Aktennachlieferungen Anschreiben türkischer Interessenverbände an das OLG, in denen sie um Sitzplatzreservierungen im Sitzungssaal nachsuchen. Auf den höflichen Hinweis des Vorsitzenden, es gebe keine reservierten Sitzplätze für Zuschauer in deutschen Gerichtsverhandlungen, reagiert man mit Unverständnis: Den Betroffenen werde der gebotene Respekt verweigert. Der institutionelle Rassismus zeigt sich hier offenbar nicht in der Verweigerung der Gleichbehandlung, sondern in der Verweigerung der Besserstellung. Eine originelle Definition. Die gleichwohl insbesondere durch Hürriyet ihrer wohl eher nicht so gut informierten Leserschaft in großen Schlagzeilen nahegebracht wird. Es mutet schon seltsam an, dass ein türkisches Boulevardblatt sich zum Hüter deutscher Rechtsstaatlichkeit aufschwingt. Und ganz klar vermittelt, dass vom Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts München ohne ständige strenge Dienstaufsicht durch türkische Beobachter keine vernünftige Verhandlung zu erwarten sei. Ein interessantes Blatt. Ich behalte die im Auge und nehme (durchaus wohlwollend) zur Kenntnis, dass der Chefredakteur von Hürriyet sich dahingehend äußert, die Anwesenheit im Gerichtssaal gehe über den journalistischen Aspekt hinaus. Ich zitiere wörtlich: »Es gibt Wichtigeres, als im Saal zu sitzen. Es geht darum, Solidarität mit den Opfern zu zeigen.«
Gleichzeitig druckt dieselbe Hürriyet einen Artikel, in dem nicht nur falsche Behauptungen über den getöteten Bruder meiner Mandantin aufgestellt werden, sondern auch ein Bild der Familie veröffentlicht wird. Und zwar ohne die Familie zuvor um Erlaubnis zu fragen. Und selbstverständlich haben nicht Angehörige das Foto zur Verfügung gestellt, sondern Hürriyet hat es sich irgendwo »besorgt«. Zu diesem Zeitpunkt habe ich bereits weisungsgemäß sämtliche Medienanfragen, ob die Familie zu Interviews bereit wäre, konsequent abgelehnt. Und alle Medienvertreter, mit denen ich gesprochen habe, haben nach längerer oder kürzerer Diskussion respektiert, dass die Familie sich nicht öffentlich begaffen lassen will. Dass nun ausgerechnet die Hürriyet mit ihrem Solidaritätsanspruch den erklärten Willen der Hinterbliebenen missachtet, spricht für sich selbst. Hürriyet bedeutet »Freiheit«. In erster Linie wohl die Freiheit, mit frei erfundenen Vorwürfen Schlagzeilen zu machen. Ich frage mich, was sich diese Leute denken. Wenn sich denn tatsächlich Türken von deutschen Institutionen schlecht behandelt fühlen, ist es doch mehr als kontraproduktiv, mit einem erfundenen Vorwurf schlechter Behandlung zu weiterer Verunsicherung beizutragen. Und schließlich muss bei allem Verständnis für das Berichterstattungsinteresse der Medien festgestellt werden, dass Leidtragende des erneuten Akkreditierungsverfahrens und der damit verbundenen Verzögerung des Prozessbeginns in erster Linie die Geschädigten und Hinterbliebenen sind. Eine beängstigende Definition des Begriffs »Solidarität«. Hoffentlich kommt Hürriyet nie auf die Idee, mit mir solidarisch sein zu wollen.
ZWISCHENSPIEL DER KUMMER
John Irving hat in seinem zum Niederknien guten Buch The Hotel New Hampshire ein Kapitel mit »Kummer schwimmt obenauf« überschrieben. Irving hat das unglaubliche Talent, Sätze wie Pfeile zu schmieden, die sich mit kleinen, spitzen Widerhaken im Herzen verankern und nie wieder loslassen. Und so hängt dieser Satz in meinem Herzen, als ich meiner Mandantin ins Gesicht schaue. Auch auf ihrem Gesicht schwimmt der Kummer obenauf. Darunter ist noch der Mensch zu sehen, der sie einmal war. Da ist das Gesicht, dem man noch ansieht, dass es viel gelacht hat. Liebe Augen, die müde in die Welt schauen. Ein schiefes Lächeln. Und über allem liegt Kummer. Der Tod des Bruders war schlimm. Die anschließenden polizeilichen Vernehmungen waren schlimm. Dass die Polizei – mal wieder – im Wohnzimmer der Eltern saß, wenn sie zu Besuch kam, war schlimm. Das Getuschel der Nachbarn war schlimm. Aber das Leben ging weiter. Und dann kam der Abend, an dem sie ihren Bruder tot in seinem Blut liegen sah, im Lebensmittelgeschäft. Auf den Fliesen, über die sie so oft gegangen war. Der Screenshot aus dem NSU-Bekennervideo traf sie ohne jede Vorwarnung – ausgestrahlt in einem Politmagazin. Da lag ihr Sülo, von dem sie sich mit einem Kuss verabschiedet hatte, als er in weiße Tücher gehüllt war und den langen Schlaf schlief. Und nun sah sie ihn aller Würde beraubt auf dem Boden liegen. Seine gebrochenen Augen, die kurz zuvor noch seine Mörder gesehen hatten. Und das Schlimme wurde zum unerträglichen Grauen. Und zum Kummer, der sich jeder Bewältigung entzog. Der künftig jeden einzelnen Tag ihres Lebens überschatten würde. Ich würde ihr so gerne helfen – aber es gibt keine Hilfe. Diese Last kann ihr niemand abnehmen – allenfalls erleichtern. Und eine Erleichterung wären Antworten auf die Frage, warum er sterben musste. Ich würde diese Antworten so gerne für sie herausfinden. Lege innerlich das Gelöbnis ab, jeden einzelnen verdammten Tag in diesem Prozess zu sitzen und Augen und Ohren weit aufzusperren. Und habe furchtbare Angst, dass für meine Mandantin die Antworten ein so grausamer Schlag werden könnten wie das Foto ihres armen toten Bruders.
Und dann passiert mir etwas, das mir nicht hätte passieren dürfen: Ich verliere meine Professionalität. Es gibt für Anwälte den eisernen Grundsatz, nie in eigener Sache oder für nahe Angehörige tätig zu werden. Auch wenn man dem Fall fachlich durchaus gewachsen wäre. Es ist die emotionale Beteiligung, die den klaren Blick verstellt. Und ein Anwalt, der emotional und nicht sachlich-juristisch agiert, hat schon verloren. Für mich ist es zu diesem Zeitpunkt aber nicht möglich, die Emotionen zu unterdrücken. Zu nahe sind mir der Schmerz und die Wut meiner Mandantin. Und so verliere ich über ihrer Wut, die zu meiner wird, die Besonnenheit, mit der ich bis dahin zu Werke gegangen bin. Und äußere mich für sie. Sage Sätze, hinter denen ich heute...