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E-Book

Schostakowitsch

Sein Leben, sein Werk, seine Zeit

AutorKrzysztof Meyer
VerlagSchott Music
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl608 Seiten
ISBN9783795786298
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Mehr als jedes andere kompositorische Lebenswerk der Musikgeschichte wurzelt Schostakowitschs Schaffen im politischen Umfeld seiner Epoche. Fast jedes seiner größeren Werke antwortet auf Ereignisse in seinem Land. Trotz zahlreicher Kommentare des Komponisten selbst und seiner Freunde war der programmatische Gehalt der Werke jedoch lange nicht vollständig erhellt. Krysztof Meyer, ein Freund des Komponisten und intimer Kenner seines Werkes, hat mit diesem Standardwerk, das nun als überarbeitete Neuausgabe vorliegt, eine erste und umfassende Synthese der widersprüchlichen Informationen gegeben. Leben und Schaffen Schostakowitschs werden dabei in einen Zusammenhang nicht nur mit den musikalischen Strömungen, sondern auch mit den politischen Entwicklungen seiner Zeit gestellt.

Krzysztof Meyer, geboren in Krakau, studierte Komposition u.a. bei Krzysztof Penderecki, Witold Lutoslawski und Nadia Boulanger. 1966 wurde er Dozent an der Krakauer Musikhochschule, seit 1987 ist er Professor für Komposition an der Musikhochschule Köln. Er schrieb zwei Opern, Symphonien, Konzerte für verschiedene Instrumente sowie Kammer- und Klaviermusik. Seine Kompositionen wurden international aufgeführt. 1983 erlebte die von ihm vollendete Schostakowitsch-Oper 'Die Spieler' in Wuppertal ihre Uraufführung.

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Leseprobe

Vorwort

Das Leben und Schaffen eines berühmten zeitgenössischen Komponisten zu erforschen bereitet normalerweise keine größeren Schwierigkeiten, denn seine Musik entsteht nahezu vor unseren Augen. Und falls der Künstler bereits gestorben ist, finden sich immer noch Menschen, die unmittelbaren Kontakt zu ihm hatten. Meistens ist es auch unproblematisch, an Quellenmaterial heranzukommen. Ganz anders verhält es sich aber im Fall von Dmitri Schostakowitsch. Einerseits hat er nahezu sein Leben lang die Rolle des führenden, offiziellen sowjetischen Komponisten gespielt, dessen Musik ungewöhnlich oft aufgeführt, aufgezeichnet und kommentiert worden ist, andererseits war die lautstarke Propagierung seiner Werke über Jahrzehnte hinweg von der aktuellen politischen Situation abhängig. Informationen, die über ihn verbreitet wurden, waren tendenziös, oft sogar falsch. Der Zugang zu Quellenmaterial erwies sich als äußerst schwierig, oft als schlicht unmöglich.

Bei der Beschäftigung mit Schostakowitsch und seiner Musik ist außerdem zu berücksichtigen, daß er wie nur wenige Künstler der Musikgeschichte im politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld seiner Zeit verankert ist. Er war als Komponist so tief mit Rußland verbunden, daß ein Aufblühen seines Talents außerhalb der Grenzen seines Vaterlandes kaum vorstellbar ist. In dieser Hinsicht unterschied er sich grundsätzlich von Igor Strawinsky und Sergei Prokofjew, die im Westen ebenso gut leben und arbeiten konnten wie in Rußland, wenn sie nur Freunde für ihre Musik fanden. Bei Schostakowitsch dagegen ist jedes bedeutende Werk meist eine Reaktion auf konkrete Ereignisse im Lande. Nicht ohne Grund wurde er deshalb als der »Chronist seiner Epoche« bezeichnet. Darauf weisen allein schon jene Werke hin, die er zu bestimmten Anlässen komponiert hat, wie die Symphonie Nr. 2 »An den Oktober« zum zehnten Jahrestag der Revolution oder das Oratorium über die Aufforstung der Brachländer Das Lied von den Wäldern, das Josef Stalins Direktiven zur Neugestaltung der Natur unterstützte. Wesentlicher ist in anderen Werken die emotionale Programmatik. Sie ist zwar eindeutig zu spüren, aber schwierig zu beschreiben. Schostakowitsch war tief in der russischen Tradition verwurzelt, die sich in den Werken vieler Komponisten widerspiegelt. Namen wie Modest Mussorgski, Sergei Rachmaninow und Pjotr Tschaikowski (dessen Musik zuweilen einen exhibitionistischen Charakter hat) stehen für diese Tradition. Die russischen Musikliebhaber waren seit Generationen an eine stark emotionale Musikrezeption gewöhnt. So ist es nicht verwunderlich, daß Schostakowitschs Werk trotz seiner Vielschichtigkeit und unleugbaren Neuartigkeit bei den Hörern rasch auf großes Verständnis stieß.

Dennoch wurde die Programmatik seiner Musik bis heute nicht voll ausgeleuchtet, obwohl sie von Schostakowitsch selbst wie auch von zahlreichen Musikwissenschaftlern kommentiert worden ist. Es lassen sich vielfältige Beispiele für verschiedene Zweideutigkeiten finden. Ein Beispiel ist das berühmte Thema im ersten Satz der Leningrader Symphonie. Offiziell als »Symphonie des Zornes und des Kampfes« beziehungsweise als »Symphonie über die Menschen der Sowjetunion« bezeichnet, wurde dieses Werk als musikalisches Symbol des Kampfes gegen den Faschismus betrachtet. Die Symphonie sollte das Bild der heranziehenden nationalsozialistischen Horden darstellen, greift dafür aber auf Motive aus Franz Lehárs Operette Die lustige Witwe zurück. An die tragische Symphonie Nr. 5 hat Schostakowitsch einen leeren, bombastisch-optimistischen Schluß angehängt. Er tat dies nicht deshalb, weil er nicht imstande gewesen wäre, ein interessanteres Finale zu komponieren. Vielmehr lag ihm wohl daran, den Zuhörern mit Nachdruck das Wesen des in den dunklen Jahren des großen Terrors vorgeschriebenen propagandistischen Optimismus in der Kunst zu vergegenwärtigen. Die offiziellen Kritiker jedoch – für Musik nur wenig empfänglich – interpretierten dies als eine »positive Konfliktlösung«, und so wurde die Symphonie Nr. 5 als Ausdruck einer »optimistischen Tragödie« in der Musik anerkannt. Eine Quelle für weitere Mißverständnisse waren zudem die oft widersprüchlichen, chaotischen und absichtlich irreführenden Aussagen des Komponisten, auf deren Grundlage aber die offizielle Kritik ihre Werkinterpretation aufbaute.

Dennoch gelang es den Musikliebhabern, die von Schostakowitsch in seinen Werken versteckten Gedanken zu entschlüsseln. Zu einer Zeit, als es nur noch wenige sowjetische Schriftsteller gab, die dem verbrecherischen System nicht zu Diensten waren, als Film, Malerei und Architektur völlig in die Abhängigkeit von Stalins Macht gerieten, genoß die Musik von Schostakowitsch, die sich von Natur aus einer konkreten Interpretation entzog, einen gewissen Freiraum. Aus diesem Grunde sah ein Heer von Zuhörern in Schostakowitsch nicht nur das Symbol einer großen Kunst, sondern auch und vor allem den Komponisten, der es verstand, in seiner Musik die Gefühle Zehntausender gequälter Russen auszudrücken. Zu Stalins Zeiten war er einerseits die offizielle »Nummer eins« im Musikbetrieb; andererseits aber hatte das Regime Schwierigkeiten mit seinen Werken, die von vielen Hörern als Protest gegen die Tyrannei, die sich in der Ausbreitung von Übel und Gewalt äußerte, verstanden wurden. Das war insbesondere aus seinen Symphonien herauszuhören. Beginnend mit der Symphonie Nr. 5 hatten deshalb die folgenden Premieren der jeweils neuen Symphonien nahezu den Charakter eines Nationalfestes.

Die zweimalige Verdammung Schostakowitschs und die Versuche der moralischen Vernichtung des Komponisten (1936 und 1948) machten ihn in den Augen der bedrängten Menschen zu einem Helden. Die naiv-aufdringlichen und programmatisch leeren Aussagen wurden nicht weiter beachtet, zumal seit den dreißiger Jahren kaum ein Wissenschaftler oder Künstler um solche Aussagen herumkam. Seiner persönlichen Haltung im Alltag wurde demgegenüber viel Bedeutung beigemessen: der beispiellosen Bescheidenheit und Güte, der Kollegialität in seinem Verhältnis zu anderen Musikern und der fortwährenden Bereitschaft, Bedrückten und Verfolgten zu helfen. Es ist bekannt, daß Schostakowitsch trotz seiner begrenzten Möglichkeiten, und obwohl er selbst der Parteikritik ausgesetzt war, wiederholt den Familien Verhafteter half. Sein exzentrisches Verhalten und seine unberechenbaren Reaktionen, die Anlaß boten zu manchen Anekdoten, die sich wiederum im Laufe der Jahre zu regelrechten Legenden ausweiteten, unterstrichen noch zusätzlich das Ungewöhnliche seiner Persönlichkeit.

»Dmitri Dmitrejewitsch,« schrieb der Musikwissenschaftler Alexandr Dolschanski auf dem Totenbett. »Ihre Musik war die Sonne meines Lebens. Ihr Schicksal war eine Quelle innerer Erschütterungen. Und Ihr Schicksal hat mich innerlich tief erschüttert. Ich danke Ihnen und segne Sie. Ich küsse Ihre Hand. Dolschanski«.1

Schostakowitschs beispiellose Position in Rußland hatte großen Einfluß auf das Schicksal seiner Musik in Europa, besonders aber in Amerika. Die Popularität seiner Musik erreichte auf der ganzen Welt rasch so ungewöhnliche Ausmaße, daß sie alle anderen Musikgrößen unseres Jahrhunderts – Igor Strawinsky, Béla Bartók, Arnold Schönberg, Paul Hindemith und viele andere – in den Schatten stellte. Dies zeigte sich vor allem während des Zweiten Weltkriegs, als die sowjetische Propaganda das Entstehen einer Symphonie im belagerten Leningrad ausgiebig ausschlachtete: Durch dieses Werk wurde Schostakowitsch für Stalin eine sehr bequeme Vorzeigepersönlichkeit bei kulturellen Kontakten mit den Alliierten. Die Symphonie Nr. 7 wurde in den Vereinigten Staaten in der Konzertsaison 1942/43 zweiundsechzigmal aufgeführt und von 1 934 Rundfunkstationen übertragen. Für die Erstaufführungsrechte der Symphonie Nr. 8 zahlte CBS den Russen 10 000 Dollar. Die von Andrei Schdanow nach dem Krieg gegen Schostakowitsch entfachte Hetzkampagne hatte im Westen zu einem weiteren Anwachsen der Popularität seiner Musik beigetragen. Da während des Kalten Krieges jede Form von staatlichen Schikanen gegen sowjetische Künstler das Interesse an ihrem Schaffen im Ausland steigerte, wurde Schostakowitsch im Westen gleichsam zum Symbol für die Opfer des Terrors und zu einem Künstler, dessen Talent durch politische Barrieren geknebelt wird. In der Sowjetunion aber gelang es ihm dank verschiedener Kompromisse und eines unbezweifelbaren Opportunismus, die Position des »ersten Komponisten« zu halten.

Ziel dieses Buches ist es also, Schostakowitsch so weit wie möglich unabhängig von den genannten Widersprüchen und Unklarheiten in dem weiten Kontext dieser vielschichtigen Persönlichkeit darzustellen. Seine Handlungsweise zu beurteilen kann dagegen nicht Aufgabe dieser Arbeit sein.

Die...

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