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Unter Briten

Begegnungen mit einem unbegreiflichen Volk - Ein SPIEGEL-Buch

AutorChristoph Scheuermann
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783641197513
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Unterwegs in einem Land voller Exzentriker
Was ist eigentlich mit den Briten los? Um diese Frage zu beantworten, ist Christoph Scheuermann kreuz und quer über die Insel gereist, von Südengland bis in die schottischen Highlands. Er besucht Menschen und Orte, die den Blick freigeben auf die merkwürdigen und manchmal unbegreiflichen Seiten Großbritanniens: Er diniert mit den Fulfords, einer chaotischen Familie aus dem verarmten Landadel, er feiert in Yorkshire mit hysterischen jungen Frauen einen Junggesellinnenabschied, er sucht nach Ufos, vergrabenen Schätzen und dem Geheimnis royalen Smalltalks. Sein Buch ist eine Sympathiebekundung an ein schräges, bisweilen melancholisches Volk, das man trotz - oder wegen - seiner Skurrilität einfach lieben muss.

Christoph Scheuermann, Jahrgang 1977, ist seit 2009 beim SPIEGEL, wo er zunächst als Redakteur im Deutschland-Ressort arbeitete und über Terroristen, Salafisten, Neonazis und Banker schrieb. Von 2012 bis 2017 war er Großbritannien-Korrespondent des Nachrichtenmagazins, seit dem Frühjahr 2017 berichtet er für den SPIEGEL aus Washington. Scheuermann hat Politikwissenschaften, Germanistik und Anglistik in Köln und Birmingham studiert, ist Absolvent der Henri-Nannen-Journalistenschule und Stipendiat des ifa-Instituts in Beirut. Für seine Texte ist er mit dem Axel Springer-Preis für Junge Journalisten und dem Ernst-Schneider-Preis ausgezeichnet worden.

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Leseprobe

Vorwort

Es fing an mit einer Frage. Was ist eigentlich mit den Briten los? Freunde wollten das wissen, Arbeitskollegen, der Chefredakteur, Partybekanntschaften, SPIEGEL-Leser, meine Mutter. Hinter der Frage lauerte Neugier, manchmal Skepsis und oft genug Ärger über die Unverschämtheit eines Volkes, das sich derart beständig über »Europa« aufregte.

Ich antwortete meistens, dass nicht alle Briten das europäische Projekt und die Europäische Union verachteten. Dass einige Vorwürfe gegen Brüssel gerechtfertigt seien. Und dass überhaupt auf dem Kontinent ein verzerrtes Bild der öffentlichen Meinung auf der Insel herrsche, man dürfe sich nur nicht von den giftigen Londoner Medien beeinflussen lassen, von der »Sun«, der »Daily Mail« und anderen. Aber um ehrlich zu sein, wusste ich auch nicht so genau, was mit den Briten los war.

Was ich wusste: England hatte den Blues, als ich im Herbst 2012 als SPIEGEL-Korrespondent nach London zog. Das Land steckte in der tiefsten Wirtschaftskrise seit der Nachkriegszeit, die Staatsschulden stiegen, das Volk wollte keine Auslandseinsätze mehr, und in Schottland stand ein Referendum bevor, das Großbritannien an den Rand des Zerfalls bringen sollte. Das Selbstbewusstsein der Briten, das sich immer aus einem florierenden Handel, wirtschaftlicher Stärke, innerer Vielfalt und globalem Einfluss gespeist hatte, war schwer erschüttert. Keine gute Voraussetzung für Offenheit und Heiterkeit also. Die frühere Weltmacht verlor das Interesse an der Welt, England versank in sich selbst. Das war, grob gesagt, die Ausgangslage.

Jede Nation ist ein Narrativ, eine Sammlung von Geschichten, die ein Kollektiv von Menschen über sich selbst erzählt, eine Mischung sich überlappender, oft widersprüchlicher Identitäten, Zugehörigkeiten und Abgrenzungen. Die Debatte um den Austritt aus der EU war der Versuch, dieses Narrativ in eine bestimmte Richtung zu lenken. Die Brexit-Bewegung nutzte die Unsicherheit und die Wut vieler Menschen in den ärmeren, abgekämpfteren Gegenden von England und Wales, um das trügerische Bild einer freien, unabhängigen Insel zu zeichnen, die sich nur von ihren europäischen Fesseln lösen müsse, um zu Wohlstand und Glück zurückzufinden. In die globalistischen Argumente der intellektuellen Brexit-Kämpfer mischten sich isolationistische, nationalpatriotische Töne. Einwanderer galten als gefährlich und schädlich für den Sozialstaat, Kriegsflüchtlinge als Bedrohung. Im Vorfeld des Referendums erhob der kleine, furchtsame Teil von England seine Stimme, von dem man als kontinentaleuropäischer Beobachter hoffte, er möge bitte nicht triumphieren.

Es kommt nicht oft vor, dass die Zukunft und die Gewissheiten einer Nation an einem einzigen Tag ins Wanken geraten. Der 23. Juni 2016 war so ein Tag. Das Votum der Briten, der EU den Rücken zu kehren, war eine Entscheidung gegen die Vernunft, gegen den gesunden Menschenverstand, gegen die herrschenden Eliten, auch gegen die weltgrößte Freihandelszone mit 500 Millionen Menschen. Aber es war eine demokratische Entscheidung, auch wenn das ein schwacher Trost ist.

Dies ist kein Brexit-Buch. Der Plan, diesem unbegreiflichen Volk näherzukommen, entstand lange vor dem Referendum. Mein road trip über die Insel dauerte ein halbes Jahr, von Ende 2015 bis Mitte 2016. Ich machte mich auf die Suche nach dem, was dieses Land eint und spaltet – Punk und Monarchie, Steinkohle, Spione, die Obsession mit der Klassengesellschaft, die Anbetung von Losern. Ich fuhr durch die Highlands auf der Suche nach dem schottischen Patriotismus, stieg mit englischen Hexen durch einen verwunschenen Wald in Southampton und spazierte durch Parks in Hampshire, weil ich glaube, dass die englische Seele in einem Garten wohnt. Menschen werden geprägt durch ihre Umgebung. Wenn die Briten, die ich unterwegs getroffen habe, etwas gemeinsam haben, dann die Widerstandskraft und den Trotz auf einer Insel, auf der nicht immer die Sonne scheint.

Es gab kein Auswahlkriterium für die Protagonisten, außer dass sie interessant sein und eine Geschichte zu erzählen haben sollten – Bergarbeiter, Eton-Schüler, Fußballer, Schatzsucher, Jung-Tories und viele mehr. Wie tickt die künftige Führungsriege des Landes? Wo fängt für Briten der Spaß an und wo hört er auf? Und was macht eigentlich Prinz Charles den ganzen Tag? Zur Natur von Recherchen zählt stets die Begleitverzweiflung, nie genug Material zu haben, und am Ende die mürbe Einsicht, dass etwas fehlt (Drogen, Sex, Nordirland) und einiges nicht geklappt hat (David Beckham, die Sandwich-Fabrik, der Sammler von Hitler-Devotionalien). Drei Texte sind im SPIEGEL in veränderter Fassung und gekürzt erschienen, der Rest ist neu.

Natürlich muss jeder Versuch, die Briten als homogenes Volk zu fassen, schon an der turbulenten Einwanderungsgeschichte der vergangenen Jahrzehnte scheitern, die Einwanderer aus Pakistan, Indien, Bangladesch und der Karibik auf die Insel spülte, neben russischen Juden, polnischen Bauarbeitern, französischen Bankern und anderen Glückssuchern aus der ganzen Welt. Dieses Buch ist der Versuch, besser zu scheitern. Vor allem ist es der Anmachversuch an ein Volk, das der körperlichen Nähe von Fremden sehr skeptisch begegnet.

Auf der Reise habe ich ein Land erlebt, das hungrig ist nach Freiheit, und das gleichzeitig unsicher wirkt, wo es diese Freiheit finden möchte. Ein Land in der Defensive. Seit Jahrzehnten misst sich Großbritannien an der Bedeutung der eigenen Vergangenheit, der Satz des früheren US-Außenministers Dean Acheson von 1962 stimmt bis heute: »England hat ein Empire verloren, aber noch keine neue Rolle gefunden.« Als Beobachter stolpert man über die Vergangenheit, fast jeden Tag und überall, bei Erinnerungsfeiern für Kriegsopfer und Veteranen, bei Aufführungen historischer Schlachten, bei Sammlern von Kriegsdevotionalien, an all den Denkmälern, Obelisken und Gedächtnistafeln, die von Inverness bis Portsmouth an das glorreiche Gestern erinnern.

Anders als in den meisten europäischen Staaten, deren Eliten im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer wieder gewaltsam ausgetauscht wurden, ist das britische Establishment mehr oder weniger stabil geblieben. Dieselben Privatschulen und Universitäten, die schon seit Ewigkeiten Minister, Beamte, Richter und Generäle produzieren, tun das auch weiterhin. Immer noch prägen reiche Familien das Land, jahrhundertealte Netzwerke und Verbindungen. Nicht zufällig sind es die oberen Schichten, die so gerne in die Vergangenheit blicken, auf die alte Größe. Die Sehnsucht der Eliten nach dem Damals zog sich auch durch das EU-Referendum.

Ich habe aber auch ein Land erlebt, das selbstgenügsam ist, stolz und radikal in seiner Ablehnung angeblicher Autoritäten, die den Briten sagen, was sie zu tun und zu lassen haben, ob von Brüssel oder von Westminster aus. Unter der Oberfläche köchelt der Wunsch eines Volkes, in Ruhe gelassen zu werden, die vergangenen Jahrzehnte waren schließlich chaotisch genug. Durch die Gesellschaft ziehen sich die Narben alter Kämpfe, und wer mit ehemaligen Bergleuten spricht, spürt die heiße Trauer der früheren Industrienation, die sich in eine Finanz- und Dienstleistungsgesellschaft verwandelt hat – eine Veränderung, die viel stärker, umfassender und radikaler war, als man sich das als Deutscher vorstellen kann.

Es heißt oft, die Briten seien so eigensinnig, weil sie auf einer seit jeher freien, unabhängigen Insel lebten. Ich finde, die Insularität ist nur ein Narrativ von vielen, und nicht unbedingt das überzeugendste. Über Jahrhunderte hielt der schmale Ärmelkanal die Briten nicht davon ab, Handel mit dem Kontinent zu treiben, in Konflikte einzugreifen und sich in das kontinentale Machtgefüge einzumischen. Das Haus Windsor ist von europäischen Fäden durchzogen, und mein Eindruck ist, dass etliche Briten Europa und die Welt besser kennen, als die Kontinentaleuropäer von sich behaupten. Am Ende der Reise dachte ich, dass die Insularität zwar eine bequeme, aber keine ausreichende Erklärung für den Isolationismus ist, in den sich die Briten mit dem Brexit-Votum stürzten.

Jeder Einwanderer kennt den Schock der Fremde, vor allem, wenn er alleine mit zwei Reisetaschen und einem Rucksack am Fährterminal von Harwich ankommt und feststellen muss, dass der Zug nach London nicht fährt. Der Schock des Neuanfangs lässt mit der Zeit nach, zumal die Briten ein außergewöhnlich offenes, herzliches und gastfreundliches Volk sein können, besonders dann, wenn man ihr Bier mag und ihre Panik vor unangenehmen Gesprächssituationen toleriert.

Manche Eigenheiten werden dem Einwanderer dennoch unerklärlich bleiben. Dazu zählen je ein Heiß- und Kaltwasserhahn im Badezimmer, undichte Fenster, angeleinte Kinder, kurze Hosen im Dezember sowie die Eisenbahn, die zu den umständlichsten und teuersten Fortbewegungsmitteln der Welt zählt – und das in dem Land, das den Zugverkehr praktisch erfunden hat. Viele Briten sehen diese Probleme, scheitern aber an der Verbesserung, weil es gemütlicher ist, nicht nach Perfektion zu streben. Auf der Insel heißt das Pragmatismus. Das Ergebnis ist oft alles andere als praktisch, aber meistens unterhaltsam, wie das ganze Land.

»Die Engländer werden sich nie in eine Nation von Philosophen verwandeln. Sie werden stets Instinkt der Logik vorziehen und Charakter der Intelligenz … Aber sie müssen aufhören, Ausländer zu verachten. Sie sind Europäer und sollten sich dessen bewusst werden.« Das schrieb George Orwell 1944, und vermutlich hat er...

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