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Der letzte Flug des Falken

Roman. Memed-Romane IV

AutorYa?ar Kemal
VerlagUnionsverlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl576 Seiten
ISBN9783293307933
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Memed versucht, Frieden und Glück zu finden und zieht von den Bergen herunter, wo er außerhalb des Gesetzes gelebt hat. Am Mittelmeer will er ein neues Leben beginnen, in einem Dorf, das von Orangen- und Zitronengärten umgeben ist. Unerkannt lebt er in diesem vermeintlichen Paradies ein beschauliches Leben, während rings um ihn die Memed-Legenden sprießen und ihm seine eigenen Heldentaten erzählt werden. Erst als sein Freund, der Lehrer, getötet wird, der sich als Einziger gegen die reichen Grundherren stellte, wächst wieder der unerbittliche Zorn in Memed, der ihn früher schon zum Rebellen und Rächer gemacht hat. Doch in dieser Welt haben Legenden keinen Platz mehr und das Wort und die Ehre gelten nichts. Memed zieht zum allerletzten Mal in die Berge ...

Ya?ar Kemal wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wurde 1923 in einem Dorf Südanatoliens geboren. Seine Werke erschienen in zahlreichen Sprachen und wurden mit internationalen Preisen ausgezeichnet. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt. Er starb in Istanbul am 28.2.2015.

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Leseprobe

1 


Ich kam in die Stadt Calindra, nahe an unseren Grenzen. Diese Stadt liegt an den Abhängen jenes Teils des Taurusgebirges, der durch den Euphrat geteilt wird, und erblickt die Hörner des großen Taurusgebirges im Westen. Diese Hörner sind so hoch, dass sie den Himmel zu berühren scheinen; denn in der ganzen Welt gibt es nirgends einen Landteil, der höher ist als dieser Gipfel, und er wird immer schon vier Stunden vor Tagesanbruch von den Strahlen der Sonne im Osten getroffen. Da er aus blendend weißem Gestein besteht, strahlt er stark wider und leistet den Armeniern in der Finsternis den gleichen Dienst wie das holde Mondlicht, und infolge seiner riesigen Höhe ragt er in senkrechter Richtung 4 Meilen weit über die höchsten Wolkenschichten hinaus.

Dieser Gipfel wird von einem großen Teil des Westens noch im Schein der Sonne gesehen, nachdem sie untergegangen ist, und zwar während des dritten Teils der Nacht. Er ist das, was wir an klaren Tagen, nach eurer Meinung, für einen Kometen gehalten haben, und uns scheint, dass er in der Dunkelheit der Nacht verschiedene Gestalten annimmt, manchmal in zwei oder drei Teile zerfällt, manchmal lang und manchmal kurz ist. Und das kommt von den Wolken, die am Himmelshorizont zwischen einen Teil dieses Gebirges und die Sonne treten; denn da die Sonnenstrahlen durch sie abgeschnitten werden, so wird die Beleuchtung des Berges unterbrochen durch verschiedene Wolkenräume, und daher ist er von veränderlicher Gestalt in seinem Glanz.

[…] Dieser Taurusgrat ist so hoch, dass sein Schatten Mitte Juni, wenn die Sonne im Mittag steht, bis zum Anfang von Sarmatien reicht, d.h. zwölf Tagesreisen weit, und Mitte Dezember erstreckt er sich sogar bis zu den Hyperboräischen Bergen, die eine Monatsreise weit gen Norden liegen. Seine dem brausenden Wind zugekehrte Seite ist immer in Wolken und Nebel gehüllt, weil der Wind, der beim Anprall gegen den Fels geteilt wird, sich hinter diesem Fels wieder sammelt, also die Wolken auf allen Seiten mitreißt und sie dann beim Anprall zurücklässt. Und wegen der großen Menge von Wolken, die dort aufgehalten werden, ist diese Seite auch immer Blitzschlägen ausgesetzt, sodass das Gestein überall zersplittert und voll gewaltiger Abstürze ist.

Am Fuß dieses Gebirges wohnen sehr reiche Völker, und es ist voll herrlicher Quellen und Flüsse, auch fruchtbar und reich an allerlei Schätzen, insbesondere in den Teilen, die nach Süden blicken. Aber nachdem man ungefähr 3 Meilen gestiegen ist, gelangt man allmählich zu Wäldern aus mächtigen Tannen, Kiefern, Buchen und andern ähnlichen Bäumen. Weiter oben, im Bereich von weiteren 3 Meilen, findet man Wiesen und unermessliche Weiden, und alles übrige, bis zum Anfang des Taurusberges, besteht aus ewigem Schnee, der hier zu keiner Jahreszeit schwindet und bis zu einer Höhe von ungefähr 14 Meilen im Ganzen reicht. Von diesem Anfang des Taurus bis zur Höhe einer Meile weichen die Wolken nie; denn hier haben wir 15 Meilen [hinter uns], was ungefähr 5 Meilen Höhe in senkrechter Richtung bedeutet, und ebenso hoch sehen wir die höchsten Spitzen des Taurus ragen. Man merkt dort oben, wie die Luft, von der Mitte an, allmählich wärmer wird, und spürt dort nirgends einen Windhauch. Aber hier kann nichts auf die Dauer leben; hier wird auch nichts geboren, ausgenommen einige Raubvögel, die in den tiefen Spalten des Taurus nisten und durch die Wolken herabstoßen, um ihre Beute auf den grasbewachsenen Bergen zu machen. Er besteht überall aus nacktem Fels, d.h. von den Wolken an, und der Fels ist blendend weiß; aber den höchsten Gipfel kann man wegen des steilen und gefährlichen Aufstieges nicht erklimmen.1

Wie eine Mondsichel umringt der Taurus die Çukurova. Weit gestaffelte Bergketten schließen das Tiefland ringförmig ein, ihre Farbe wechselt von einem hellen Blau in ein dunkles, vom dunklen Blau ins Violett, das sich schließlich fernab in der unendlichen Weite des Himmels verliert.

Die Gebirgstäler liegen im Dämmer der Schatten, die sich nach Westen dehnen, wenn der Tag anbricht, und sich nach Osten kehren, wenn er sich zu neigen beginnt. Bei großer Hitze scheint von hier ein Hauch von Frische in die Ebene hinabzusteigen. Keinen Tag, keinen Augenblick sind die Berge die gleichen. An manchen Tagen sind sie bei Sonnenaufgang in Goldgelb getaucht, das in Rot, dann in milchiges Weiß, danach in ein zartes Blau oder auch in kräftiges Violett übergeht. In starker Mittagshitze überzieht sie oft ein dunstiges Orange, während ringsum alles verbrennt und aschgrau daliegt.

Später leuchten sie himmelblau oder – besonders in den Frühlingmonaten – so lila wie Stiefmütterchen. Die Hänge scheinen mit goldenen Nägeln bespickt. Wie in einem Strom von Licht gleiten sie sanft über das Violett und das helle Blau hinweg in die Unendlichkeit.

Der majestätische Berg Düldül erhebt sich hinter den gestaffelten Kämmen der Bergketten. Er scheint sich kreisend zu wiegen, wenn er schneeweiß leuchtend seine Umgebung erhellt. Sein Gipfel ist die meiste Zeit frei von Wolken. Sommers schimmert er wie eine himmelblaue Wolke, aber auch in dunstigem, bläulichem Kupferrot, oder er glüht auf in einem mit Rosa durchsetzten Himmelblau. Und über ihm funkelt ein prächtiger Stern.

Die felsigen Gipfel des Taurus sind durchgehend aus weißem, rosarotem, braunem, orangefarbenem und grünem Feuerstein. Über ihnen kreisen Adler mit mächtigen Schwingen. Unterhalb der Gipfel aus Feuerstein beginnen die Wälder. Sie sind dicht, und die kräftigen Bäume bieten Wildtieren Unterschlupf und Schutz. Tannen, Zedern, Buchen und Platanen recken sich in den Himmel, Quellen sprudeln in jeder Schlucht, am Fuße jeder Felswand, von jedem Hang. Ihr Wasser duftet nach Minze, nach Tannenharz und Blumen. Forellen tummeln sich in Wasserläufen, die über Baum und Fels schäumen und sich rasend schnell über die Hänge hinunter in die Bäche ergießen.

Der Taurus schuf die Çukurova. Vor sehr langer Zeit begann das Mittelmeer schon am Fuße dieses Gebirges. Die Flüsse Ceyhan und Seyhan, viele kleinere Wasserläufe und Bäche schwemmten die fruchtbare Erde der Hänge mit sich, lagerten sie in den immer weiter vordringenden Mündungen ab, und so entstand die Çukurova. Eine Ebene voller Sonne und Licht, in der zahllose Gewässer plätschern und wo der überquellende Segen der Erde dem Reichtum des Meeres in nichts nachsteht.

Die Mutter des Seyhan ist die Zamanti. Ihre Quelle entspringt in der Hochebene Uzunyayla, ihr Oberlauf führt durch dieses weit gestreckte Gebiet, bevor sie den Taurus erreicht. Dort prallt sie auf die Felsen aus Feuerstein, sie sind lilafarben und sehr hart. Aufschäumend stürzt sie in Schwindel erregende Schluchten, höhlt tief unten in schnellem Lauf die Erde aus, stößt wieder auf Felsen, die sie aber nicht übersteigen kann. Sie bohrt sich in die Erde und lässt sich eine ganze Weile nicht mehr blicken. Doch irgendwann schießt sie wieder an die Oberfläche, schnellt mit rasender Geschwindigkeit von einem Felsblock gegen den andern, bis sich wieder eine Wand aus Feuerstein auftürmt und sie sich wieder in die Erde gräbt, versinkt, auftaucht – und so geht es fort. Während sie den Taurus überwindet, nimmt sie zahllose Quellen, Bäche und Nebenflüsse auf. Darunter auch den Göksu, der den Tahtali-Bergen im Taurus entspringt und selbst viele Quellen und Bäche verschluckt, bevor er in die Zamanti mündet. Vereint werden diese beiden Flüsse Seyhan genannt, ein mächtiges Gewässer, so klar, als ströme darin kein Wasser, sondern Licht. Läge ein Buch auf dem Grund, es ließe sich lesen.

Die Quelle des Ceyhan wiederum liegt mitten in den Binboğa-Bergen. Der Oberlauf heißt Horman. Dieser Bach vereint sich mit dem den Nurhak-Bergen entspringenden Bach Söğütlü zu einem ungebärdigen Wildwasser, dessen Bett den Taurus von einem Ende zum andern durchschneidet und dabei die Flüsschen Aksu, Körsulu, Çayir, Savrun, Handeresi, Cerpece und unzählige Quellen und Brünnlein mit sich nimmt ins große Mittelmeer. Seyhan und Ceyhan kommen mit tausenden, ja, hunderttausenden Tonnen Erdreich zum Mittelmeer, schwemmen tonnenweise Schlamm an seine Ufer. Jedes Jahr wächst die Ebene, wird sie ein Stück größer, werden die Felsen im Taurus ein bisschen mehr ausgewaschen, ragen die hellen Felswände ein bisschen spitzer hervor. Und vielleicht wird es eines Tages im Taurus gar keine Erde, gar keine Bäume mehr geben, wird der mächtige Taurus nur noch als Felsgestein zwischen Himmel und Erde emporragen. Der schroffe Stein wird wie glühendes Kupfer leuchten, und es wird in diesem nackten Taurusfelsen vielleicht keinen Tropfen Wasser geben, in diesem messerscharfen Gestein vielleicht kein Grashalm wachsen, vielleicht kein einziges Geschöpf mehr leben.

An den Küsten des Mittelmeers schäumt und wellt sich die Erde wie das Meer. Auch die weite Ebene und der mächtige Taurus sind wie das Mittelmeer so blau, wie das Mittelmeer so licht. Und so hell wie das Licht über dem Mittelmeer schimmert, so hell funkelt es auch über der Ebene und dem Taurus. Und wie die Berge nach Fels, Harz, Minze und Blumen duften, so duftet die weite Ebene nach Meer, Apfelsinen, Zitronen und Pomeranzen. Und an jedem Tag des Jahres öffnet die schwangere Erde gierig ihren Mund und fiebert rasend vor Fruchtbarkeit dem Frühling und dem Regen entgegen, den ihr der Taurus schicken wird.

Eines guten Tages bedeckt dann eine pechschwarze Wolke den Himmel...

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