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Manchmal ist es federleicht

Von kleinen und großen Abschieden

AutorChristine Westermann
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783462316889
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Kann man Abschiednehmen lernen? Das Thema Abschied begleitet uns ein Leben lang. Für Christine Westermann war es wie für viele Menschen von klein auf angstbesetzt. Erst jetzt, in einem Alter, in dem das Abschiednehmen zu einer häufig geübten Praxis wird, gelingt ihr ein offener, zugewandter Blick darauf. Mit unnachahmlichem Charme und Witz erzählt sie von der Kunst, Veränderungen anzunehmen. »Zur letzten Sendung komme ich nicht«, sagte Christine Westermann scherzhaft schon Jahre, bevor an ein Ende der von ihr und Götz Alsmann moderierten preisgekrönten Fernsehsendung »Zimmer frei« auch nur zu denken war. So tief saß ihre Angst vor drohenden Abschieden, dass sie sich nur mit Humor oder totaler Verdrängung zu helfen wusste. Der Humor ist geblieben, aber Christine Westermanns Umgang mit dem Thema Abschied hat sich tiefgehend gewandelt. In ihrem Buch erzählt sie von großen und kleinen Verlusten. Wie schwer wiegt der Abschied von einem Freund, von dem man sicher war, dass er einen überleben würde? Wie leicht kann es sein, eine Stadt, einen Wohnort hinter sich zu lassen, um neu zu beginnen? Wie schwer ist es, an sich selbst zu bemerken, dass Schönheit und Attraktivität verblassen? Natürlich ist die Furcht vor Verlust noch immer dabei, sie wird jedoch gepaart mit neuem Mut, Veränderung anzunehmen. Anekdotenreich, ernst und selbstironisch zugleich erzählt Christine Westermann von Erfahrungen und Situationen, die ihre Wahrnehmung geschult und sie auf einen neuen Weg gebracht haben.

Christine Westermann ist mit ihren Buchempfehlungen im Stern, ihren Sendungen im Hörfunk (Buchtipps im WDR), als Kolumnistin des »Buchjournals« und als Podcasterin eine der bekanntesten Buchkritikerinnen. Sie war festes Mitglied in der Fernsehsendung »Das literarische Quartett«.  Für ihre gemeinsam mit Götz Alsmann moderierte TV-Sendung »Zimmer frei« erhielt sie u.a. den Adolf-Grimme-Preis. Christine Westermann hat bislang fünf Bücher veröffentlicht, die allesamt Bestseller wurden.

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Leseprobe

1


Das Foto ist schwarz-weiß, klein und quadratisch, hat den für die Bilder aus jener Zeit typischen gezackten Rand.

Ich war schon vier Jahre auf der Welt, als die Fotografie entstand, aber ich habe keine Erinnerung an jene Zeit Anfang der fünfziger Jahre. Nicht an die Musiktruhe mit ausklappbarem Plattenspieler, nicht an die große Stehlampe, unter deren Schirm mein Vater sitzt, ein Buch in der Hand. Und doch taucht genau jenes Bild unvermittelt auf, hat sich wie eine Verheißung in mir festgesetzt. Sollte ich erklären, was für mich Geborgenheit bedeutet, ist es genau jenes Wohnzimmer in Erfurt. Mit den hohen Bücherregalen, die sich über eine ganze Wand erstrecken, davor die schmale Leiter, um an die Bücher in der obersten Reihe zu kommen.

Mein Vater in seinem großen Lesesessel, einen Arm auf der Lehne, er scheint in sein Buch vertieft. Vielleicht ist es eine Pose, die er glaubt, dem späteren Bildbetrachter schuldig zu sein. Vielleicht hat ihn der Fotograf auch gebeten »Herr Westermann, schauen Sie doch bitte mal ins Buch …«. Die Haare meines Vaters sind akkurat gescheitelt, er trägt eine Strickjacke, ein weißes Hemd, eine Fliege, wie fast immer. Neben dem Sessel, auf einem Beistelltischchen, eine große Uhr und ein glänzend schwarzes Telefon, die Wählscheibe so groß wie ein Kinderkopf.

Das Licht aus der Stehlampe taucht die Szene in warmes goldenes Licht. Das stelle ich mir so vor. Wissen kann ich es nicht, das Foto zeigt nur mattes Schwarz, verblichenes Weiß. Aber das Licht muss golden gewesen sein. Auf meiner emotionalen Farbskala steht golden für ein Wir-haben-es-gut-Gefühl. Dass zu jener Zeit schon nichts mehr gut war, das schwarz-weiße Foto ein Trugbild, habe ich erst Jahre später begriffen.

Die Aufnahme entstand – so weist es die Schrift meines Vaters auf der Rückseite aus – im März 1953. Wenige Tage, bevor mein Vater mit einer schmalen Aktentasche die Wohnung und das Zimmer mit der Stehlampe verließ. In der sicheren Gewissheit, nie mehr zurückkehren zu können. Ziel seiner Flucht war erst mal Ostberlin, wo er am Bahnhof Friedrichstraße in eine S-Bahn stieg, die ihn und die Aktentasche von Ost nach West brachte.

In der Aktentasche steckten jene Papiere, die belegten, warum er nur mit einer Flucht in den Westen sein Leben und das seiner Familie retten konnte.

 

Als sich im Osten nach dem Krieg vorsichtig wieder politisches Leben regte, wurde mein Vater Gründungsmitglied bei den Liberalen Demokraten der DDR. Als die Gruppierung wenige Jahre später als Blockpartei in der Versenkung verschwand und zu einem Anhängsel der SED wurde, hat er sich nicht geduckt, sondern protestiert. Hat aus seiner Abneigung gegen die SED und die Kommunisten keinen Hehl gemacht. Es war nicht das erste Mal, dass er eintrat für seine Überzeugungen, seine politische Meinung. Jahre zuvor war er gegen die Nationalsozialisten aufgestanden, hatte öffentlich darüber gesprochen, was er bei der BBC, dem Feindsender, über Kriegslage und Konzentrationslager erfahren hatte. Seine Sekretärin schwärzte ihn an. Zwei Jahre vor Kriegsende kam er ins Zuchthaus. Dass es nicht das nahe gelegene Konzentrationslager Buchenwald war, verdankte er Freunden, die sich für ihn einsetzten. Gut vernetzte Freunde waren es auch, die ihn 1953 drängten, zu gehen. Ihm von der schwarzen Liste erzählten, auf der Staatsfeinde wie er standen. Endstation: ein Straflager in der Sowjetunion. Als die Verhaftungswelle anrollte, nahm mein Vater seine Aktentasche und ging.

 

Zurück blieben Freunde, Verwandte, Andenken, Fotos, Möbel, Bücher, fast ein ganzes Leben. Als er floh, war er vierundsechzig, nicht einmal zehn Jahre später starb er.

Wenige Tage nach meinem Vater nahm meine Mutter mit mir den gleichen Fluchtweg über Ostberlin in den Westen. Sie hat für mich entschieden: meine kahlköpfige Puppe Gisela durfte mit. Sonst nichts.

Was hätte mein Vater eingepackt, wäre die Zeit nicht so knapp gewesen? Wofür entscheidet man sich, wenn man flüchten muss? Hätte er mehr Zeit gehabt, was aus dem alten Leben hätte er ins neue retten wollen?

Woran sein Herz wirklich hing, habe ich erst viel später erfahren.

 

Ich habe nur einmal die Flucht in ein anderes Leben gewagt.

Ohne Not und in der Rückschau federleicht.

Habe Möbel, Geschirr, Klamotten und Kleinkram in den Kellern von Freunden untergestellt.

Bin mit zwei Koffern, zwei Kaffeetassen und einem Buch aus dem Regal meines Vaters nach Amerika aufgebrochen. Als könne mir dieses Buch Mut machen, die Reise ins große Ungewisse zu wagen.

Nein, ich habe keine Ahnung mehr, wie die Kaffeetassen aussahen, und schon gar nicht, warum sie mitmussten.

Zehn Jahre habe ich in den USA gelebt und heute, lange nach dem Amerikaabenteuer, festigt sich die Erkenntnis, dass ich mitunter ein unerwartetes Talent zum Abschiednehmen habe. Ich kann leicht loslassen.

Dinge, manchmal auch Menschen.

Ich habe all die ab- und untergestellten Dinge nie mehr abgeholt. Nicht mehr gebraucht, nicht mehr gewollt.

Ich weiß nicht, bei wem ich was untergestellt habe. Erinnere mich schwach an einen schönen antiken Geschirrschrank, dem damals die zwei Kaffeetassen fehlten – was sonst drin war, ich weiß es nicht.

Es gab Klamotten, Bettwäsche, Bilder, Bücher, einen Strandkorb und ein Bett. Weg. Aus meinem Gedächtnis getilgt. Ich glaube, ich hatte ein paar schöne Sachen, alt und neu, eher IKEA als edel, aber offensichtlich hing mein Herz nicht an einzelnen Dingen.

Bis heute bedauere ich das kein bisschen.

 

Als ich San Francisco nach zehn Jahren wieder verließ, war es anders. Ich wollte nicht alles stehen und liegen lassen, ich wollte etwas mitnehmen, was mich für immer mit dieser Zeit verbinden würde. Erinnerungen waren mir wichtig, nicht nur die, die ich im Kopf und im Herzen hatte. Ein paar sperrige Sachen wie Bett, Sofa und einen sehr kalifornischen Sonnenschirm habe ich an Freunde verschenkt. Esstisch und Stühle, Handtücher, Lampenschirme und Bilder aber sollten unbedingt mit nach Europa.

San Francisco – Köln, ungewöhnliche Entfernung, aber im Grunde eben auch nur ein Umzug. Die Transportfirma hat meine halbe Wohnung in einen Container gepackt, der auf einem Schiff Richtung Rotterdam verstaut wurde und drei Monate später in einem Kölner Hinterhof ankam. Die Packer hatten sehr sorgfältig gearbeitet, selbst eine angebrochene Packung Frosties hatte den Weg über den Atlantik unbeschadet überstanden.

Die Dinge des Lebens, die sich in zehn Jahren Amerika angesammelt hatten, passten sich nahtlos der neuen Umgebung an. Genau wie ich. In der Rückschau ist mir der Abschied von Freunden, der Abschied aus der Stadt, aus meinem Viertel, von meinen Kneipen, Läden, nicht schwergefallen. Manchmal, ganz selten, wünsche ich mir heimlich die Vietnamesin herbei, bei der ich zehn Jahre die beste Pediküre meines Lebens bekommen habe. Oder die Sonntage im Bett mit sieben Stunden Livefootball im Fernsehen. Die Jogging-Strecke im Golden-Gate-Park.

Es sind Kleinigkeiten, an denen das Herz hängt.

Nie lange, nur für einen kurzen Moment flackert eine unbestimmte Sehnsucht auf. Wonach? Kann ich nicht einmal benennen. Aber das Sehnsuchtsgefühl erkenne ich gut.

Ich bin in meiner Amerikazeit oft gependelt, zwischen San Francisco und Köln, habe hier wie dort als Journalistin gearbeitet. Auf Flughäfen habe ich jene Sehnsucht besonders gut spüren können.

»Lufthansa Flug 454 von Frankfurt nach San Francisco«, eine Ansage, bei der ich damals einen fast körperlichen Schmerz erlebt habe. Immer verbunden mit dem Gedanken: Wie wird es sein, wenn diese Ansage irgendwann einmal nicht mehr mir gilt?

Wenn ich sie nur zufällig höre, weil ich gerade von Frankfurt nach Berlin und eben nicht nach San Francisco fliege? Und es schien völlig klar: Das könnte ich nur schwer aushalten, dieser Abschied darf nicht sein.

Warum der Gedanke so stark war, kann ich erst heute, mit vielen Jahren Abstand, vermuten: weil damals die Lust, beinahe schon die Begierde auf neue Erfahrungen, auf große und kleine Mutproben, die unweigerlich zum Leben in einer anderen Kultur gehören, beinahe übermächtig war.

Ich wollte sie erleben und bestehen.

Sich davon verabschieden? In diesem Stadium undenkbar. Wann es over und aus ist, wollte ich immer selbst bestimmen.

 

Wenn ich heute auf einem Flughafen stehe und die Durchsage für einen Amerikaflug höre, regt sich kurz das Gefühl von damals, als wolle es wieder bei mir andocken. Aber keine Chance.

Ich verspüre eine leise Freude, fast schon Genugtuung, dass das Loslassen damals so leicht ging. Dass ich einen Lebensabschnitt beenden konnte, weil etwas Neues zu beginnen verlockender, lohnender war. Nach Hause zurückzukehren.

Oder vielleicht auch nur, weil es genug war? Genug Amerika? Genug Football-Spiele, Golden-Gate-Park-Jogging?

Heute laufe ich am Rhein, habe eine Dauerkarte beim 1. FC Köln, und meine Fußnägel schneide ich mir selbst.

Ist es gutes Timing, das Abschiede leicht oder schwer macht? Hat wirklich alles seine Zeit?

Ist es immer dann schwer, wenn die Zeit noch nicht reif ist? Wenn man neu anfangen muss, bevor etwas spürbar zu Ende gehen konnte, seinen Abschluss gefunden hatte?

Ist es das?

 

Mein Vater hat wenige Jahre vor seinem Lebensende ein neues Leben angefangen. Anfangen müssen. Mit seiner Frau und seinem Kind in einer winzigen...

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