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E-Book

Spiritualität als Gnade und Zumutung

Österreichische Musikzeitschrift 06/2015

VerlagHollitzer Wissenschaftsverlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl104 Seiten
ISBN9783990122198
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,49 EUR
Musik mit (neo-)religiöser und/oder spiritueller Fundierung boomt in ganz Europa. Gerade auch im Osten und Südosten des Kontinents. Im Konzertsektor wie in den Opernhäusern mit einer Vielzahl von neuen Arbeiten des unterschiedlichsten Zuschnitts. Musiken der verschiedensten Provenienz bieten sich als Fenster zu den Sphären des Transzendenten an - und nicht selten werden sie von den Fragen nach 'Life after life' motiviert. Während sich die traditionellen Sektoren der Kirchenmusik eher schwer tun, werden Zug um Zug umfangreiche Kontingente älterer liturgischer Musik erschlossen und bei den verschiedensten Labels auf CD eingespielt - von den weit entrückten Zeiten des Hochmittelalters bis zum hohen 19. Jahrhundert. Offensichtlich reagieren große Teile der Interpreten, der Komponisten und der Manager des Kulturbetriebs auf gewandelte Bedürfnisse der Kundschaft und befördern die spiritualistischen Trends.

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Leseprobe

THEMA


Wie Buddha in den Baumarkt kam
Neue spirituelle Bewegungen und ihre Musiken


Elisabeth Merklein


Spiritualität hat viele Gesichter – und immer weniger Menschen finden sie in der Kirche. Dass die modernen Lebenswirklichkeiten nicht mehr mit den Weltbildern der etablierten geistlichen Institutionen übereinstimmen, wurde bereits in den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren deutlich empfunden, und dieses Unbehagen hält bis heute an. Die existenziellen Fragen jedoch, die früher von den Religionen beantwortet wurden, sind geblieben; und mit einem rein rationalen, wissenschaftlichen Ansatz allein, der eben immer nur das Wie, aber nie das Warum klärt, scheint ihnen nicht beizukommen zu sein.1 Mit dem Einsetzen dieses Paradigmenwechsels in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann auch im Bereich der Musik eine groß angelegte Suche nach spirituellen Alternativen, die unzählige Schätze in Hoch- und Popkultur hervorgebracht hat. Handelt es sich hierbei nun um authentische Ausdrucksformen einer tiefen Sehnsucht nach dem Göttlichen, oder doch nur um einen bequemen, oberflächlichen Eklektizismus mit einer würzigen Prise Exotik?

So erfüllend und klar eine spirituelle Ausprägung für den einen sein kann, so fremd und kurios mag sie dem anderen erscheinen. Die dazugehörigen musikalischen Phänomene, die im Folgenden beleuchtet werden, können jedoch einen Weg in entfernte Glaubenswelten eröffnen – oder ihrerseits komisches Potenzial entwickeln.

Die Segnungen des Wassermanns


In Astrologen- und Esoterikerkreisen wurde die bekannte These des verheißungsvollen »Wassermannzeitalters« geprägt, in dem wir uns seit dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts befänden. Sie besagt, dass zu dieser Zeit der Frühlingspunkt, nachdem er 2.000 Jahre im Sternbild der Fische gestanden sei, seine Wanderung in das Sternbild des Wassermanns fortgesetzt und so das »New Age« eingeleitet habe, das der Menschheit die Chance biete, eine höhere Bewusstseinsstufe zu erlangen.

Als Hymne des neuen Zeitalters empfahl sich der Song Aquarius aus dem Musical Hair (1967), am bekanntesten in der Version der Popgruppe Fifth Dimension (1969), der durch seine kirchentonale Färbung besonders mystisch wirkt und die Segnungen preist, die der Wassermann mit sich bringen soll: »Harmony and understanding / Sympathy and trust abounding / No more falsehoods or derisions / Golden living dreams of visions / Mystic crystal revelation / And the mind’s true liberation«. Die Hoffnungen auf die Sterne waren also groß – und inzwischen konnte man sogar buchstäblich nach ihnen greifen.

Das Musical Hair wurde zweimal verfilmt, im Bild das Filmplakat von 1979. Bild: wikimedia.org

Beam me up


Dass der Himmel und seine Gestirne eine besondere Rolle für die Spiritualität des Menschen spielen, ist nichts Neues – doch mit dem Beginn der bemannten Raumfahrt in den Sechzigerjahren und den Mondlandungen zwischen 1969 und 1972 bekommen sie eine neuartige Science-Fiction-Qualität: Der Glaube an die Existenz von außerirdischer Intelligenz, die dem Menschen nicht nur weit überlegen ist, sondern auch sein Leben auf der Erde maßgeblich beeinflusst, gewann an Bedeutung; UFO-Religionen wie der Raelismus oder auch Scientology wurden gegründet bzw. erhielten regen Zulauf.

Musikalisch spürt der Space Rock mit experimentellen E-Gitarren-Riffs und Synthesizern dem Schritt in den Weltraum nach, so zum Beispiel Hawkwind in Master of the Universe (1973) oder Pink Floyd, die in Let There Be More Light (1968) eine außerirdische Kontaktaufnahme beschreiben. Ein echter Fachmann für extraterrestrische Angelegenheiten war jedoch Karlheinz Stockhausen – denn der war schließlich selbst gewissermaßen ein Alien: Seine wahre Heimat verortete er bekanntlich auf dem fernen Doppelsternsystem Sirius,2 in dem er eine Art Musikparadies sah, wo alle Kompositionen mit den Rhythmen des Kosmos in Einklang stünden. Seinen interstellaren Patriotismus brachte er besonders deutlich in dem Mysterienspiel Sirius (1977) für elektronische Musik, Sopran und Bass sowie Trompete und Bassklarinette zum Ausdruck, in dem vier Sirianer mit ihren Raumschiffen auf der Erde landen und feierlich ihre Botschaft an die Menschheit überbringen.

Cover des Albums Master oft the Universe der Rockband Hawkwind, 1977.

Zurück zur Natur


Doch was für den einen die wunderbare Welt des Fortschritts ist, bedeutet für den anderen einfach nur mangelnde Bodenhaftung: Parallel zur Technisierung der Welt wuchs auch die Sehnsucht nach einem Leben im Einklang mit der Natur, die sich nicht nur in handfesten Umweltbewegungen äußerte, sondern auch in der ökofeministisch-spirituellen Neuinterpretation der Gaia-Hypothese aus den Sechzigerjahren, wonach die Erde als ein lebendes Wesen aufgefasst wird. In diesem Kontext erfuhren viele vorchristliche Religionen, in denen auch die Vorstellung einer Erdmutter eine Rolle spielt, ein Revival.

Philip Glass komponierte die Filmmusik zu Koyaanisqatsi, veröffentlicht 1983.

Natürlich entstanden auch hierzu passende Soundtracks, zum Beispiel von Alan Stivell, der mit seiner Harfe versuchte, die keltische Kultur wiederzubeleben und sich dabei u.a. von irischen, schottischen und bretonischen Folk-Traditionen inspirieren ließ, um sie mit Rock- und Pop-Elementen zu vermischen. Und in Philip Glass’ Musik zum Film Koyaanisqatsi (1982), der in wortlosen Bildsequenzen die technoide Zivilisation des 20. Jahrhunderts reflektiert und sie der naturverbundenen Lebensweise der indigenen Völker Amerikas gegenüberstellt, chanten [singen meditativ, Amn. d. Red.] tiefe Männerstimmen den Filmtitel aus der Sprache der Hopi-Indianer: »Leben im Ungleichgewicht«.

Singt dem Herrn ein neues Lied


Obwohl sich viele der neopaganen und neoschamanistischen Strömungen oft in bewusster Opposition zum Christentum positionieren, hat auch dieses seine Anziehungskraft keineswegs verloren, allerdings sucht man unkonventionelle Pfade, um sich ihm zu nähern: so auch die in den 1960er-Jahren aus der Hippie-Bewegung hervorgegangene Gruppierung der Jesus People, die sich auf ein einfaches Leben im Sinne des Urchristentums rückbesinnen wollten, dabei aber ihre musikalischen Vorlieben beibehielten. Durch sie erblickte die christliche Pop- und Rockmusik das Licht der Welt – ganz im Sinne von Larry Normans Why Should the Devil Have All the Good Music (1972). Ein Höhepunkt dieses Genres ist das Musical Jesus Christ Superstar (1971) von Andrew Lloyd Webber und Tim Rice, das die Passionsgeschichte aus der Perspektive des »Outsiders« Judas erzählt und dadurch eine positive Sicht auf diese Figur eröffnet.

Tim Rice, der das Textbuch zu Jesus Christ Superstar verfasst hatte, besuchte im März 2015 eine Vorstellung des Musicals im Wiener Raimundtheater und posierte anschließend mit dem Darsteller des Jesus Drew Sarich (links) und dem Intendanten Christian Struppeck. Foto: Rolf Bock

Auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs erfuhr dagegen das traditionelle Christentum eine neue Hinwendung, da es zugleich als Ausdrucksmittel des Protests gegen den areligiösen Kommunismus verstanden werden konnte – ganz besonders natürlich in Polen, dem Heimatland von Karol Wojtyła. So ist etwa Henryk Góreckis Totus Tuus (1987), eine Vertonung des Wahlspruchs von Papst Johannes Paul II., hinsichtlich des Sujets, der Form des Chorals und der lateinischen Sprache theologisch wie musikalisch äußerst orthodox.

Nicht nur die Beatles hatten Kontakt mit dem Begründer der Transzendentalen Meditation Maharishi Mahesh Yogi. Im Bild v.l.n.r.: Michael Cooper (Fotograf), Mick Jagger (Sänger, The Rolling Stones), Marianne Faithfull (Sängerin), Al Vandenberg (Fotograf) und Brian Jones (Gitarrist, The Rolling Stones) mit dem indischen Guru im Concertgebouw, Amsterdam 1967. Foto: Ben Merk/wikimedia.org

Einen völlig anderen Weg wählte hingegen Peter Gabriel mit seiner Filmmusik zu The Last Temptation of Christ (1988), die zahlreiche Elemente nahöstlicher Musik aufgreift – also direkt vom Ort des Geschehens.

Ex oriente lux


Peter Gabriel war es schließlich auch, der als treibende Kraft den Aufschwung der sogenannten Weltmusik in den Achtzigerjahren organisierte und die westliche populäre Musik mit traditionellen außereuropäischen Stilen fusionierte. Doch war das Interesse an anderen und vor allem den asiatischen Musikkulturen auch vorher schon groß – und ging sehr oft mit einer spirituellen Neugier Hand in Hand.

So gibt es wohl kaum einen Komponisten in dieser Zeit, der nicht das eine oder andere »exotische« Element in seine musikalische Sprache integrierte und daraus wiederum Neues entstehen ließ: Sei es der sich selbst als »Jewish-Taoist-Hindu-Toltec-Buddhist«3 bezeichnende Philip Glass, Stockhausen, der zwischenzeitlich den indischen Guru Sri Aurobindo für sich entdeckte, oder auch der buddhistisch geprägte Giacinto Scelsi, der bereits in den Fünfzigerjahren durch ausgedehnte Reisen in fernöstliche Länder inspiriert wurde. Geradezu legendär ist die Zusammenarbeit des Beatles-Gitarristen und konvertierten Hindus George Harrison mit dem indischen Sitar-Meister Ravi Shankar, die Songs wie Norwegian Wood (1965) und Within You Without You (1967) zur Folge hatte, oder auch die LP West Meets...

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