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E-Book

When That Rough God Goes Riding. Über Van Morrison

AutorGreil Marcus
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783462305159
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Der große Musikkritiker Greil Marcus über Van Morrison Kein Album hat Greil Marcus in seinem Leben öfter gehört als Van Morrisons Meisterwerk »Astral Weeks« aus dem Jahr 1968. Kein Album hat ihn mehr bewegt und mit mehr Rätseln zurückgelassen. »Die Menschen nehmen Van Morrison persönlich«, stellt Greil Marcus fest. »Begebenheiten aus seinen Songs werden zu Ereignissen in ihrem Leben. Es ist, als ob er sie persönlich in ihr Leben gepflanzt hat. Als ob er ?da? ist. Nicht in einem magischen Sinne. Sondern in dem Sinne, in dem Kunst wirken sollte: Sie berührt dich.« In »When That Rough God Goes Riding« forscht Greil Marcus nach den Ausnahmemomenten, die Van Morrison in seiner Musik immer wieder kreiert. Diese Augenblicke versucht Marcus auszukosten, zu analysieren und so dem Geheimnis der großen Kunst Van Morrisons ein Stück näher zu kommen, ohne es zu zerstören. Wie in seinen berühmten Werken »Mystery Train« oder »Lipstick Traces« besticht Marcus auch hier durch seine hellwachen Analysen, das Schlagen überraschender Querverbindungen und einen Formulierungsfuror, der den Leser in den Bann schlägt.

Greil Marcus, geboren 1945, lebt in Berkeley. Er zählt zu den bedeutendsten Musikkritikern der Welt. In seinen Büchern hat er immer wieder über Rockmusik und ihr Verhältnis zur amerikanischen Kultur und Politik geschrieben. »Mystery Train« und »Lipstick Traces« und »Bob Dylans ?Like A Rolling Stone?« (KiWi 878) machten ihn einem breiten Publikum bekannt.

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Leseprobe

Caravan. The Last Waltz. 1976


»Wenn er auch noch eine tolle Bühnenpräsenz hätte, wäre das schwer auszuhalten«, sagte ein Freund, nachdem er Van Morrison diesen Song live hatte singen hören, nicht lange nach dessen Veröffentlichung auf Moondance 1970, Morrisons erstem Album nach Astral Weeks . Morrison stand ruhig auf der Bühne und brauchte nur die erste Zeile »Now the caravan, is on its way« zu singen, um in das Setting des Songs einzutauchen – man stelle sich einen Hügel irgendwo auf dem Land vor, eine Reihe holzverkleideter Campingbusse oder Wohnwagen voller Zigeuner oder Leute aus der Mittelschicht, die diesen nacheifern. Und alle, die es freiwillig oder unfreiwillig auf die Straße verschlagen hat, erobern einen Moment in der Geschichte durch die Art, wie der Song aus ihr heraussticht. Vielleicht wird »Gypsy Woman« von den Impressions hinter Morrisons Song spürbar – sehr weit dahinter jedenfalls steht Curtis Mayfield und fragt sich, ob wirklich alle Songs, in denen Zigeuner vorkommen, Lagerfeuer entfachen können, die in den Augen der Hörer flackern, was er mit seinem Song tatsächlich geschafft hatte. Morrison würde mit geschlossenen Augen den Kopf senken, als wollte er versuchen, eine Antwort auf Mayfields Zweifel zu finden. »Turn up your radio«, flüsterte er, als die Zeile zum ersten Mal in dem Stück auftaucht; beim zweiten Mal wird sie zur verzweifelten, verzauberten Bitte, und jetzt war da eine Antwort. Im Radio. Man musste es nur lauter drehen, um sie nicht zu überhören. Schnell hat man etwas im Radio überhört; man wendet den Kopf, sagt: »Hast du das gehört?« oder »hör mal«, und schon ist es vorbei, und der DJ wird kein Verständnis dafür haben, wenn man anruft und wissen will, was der Sänger gemacht hat, wer auch immer das war, kurz bevor der Instrumentalteil anfing. »Turn it up« – dreh’s lauter, aber nicht zu viel, nicht so, dass die Lautstärke die Stimme des Sängers niederwalzt und die Seele verloren geht: »That’s enough!«, wirft Morrison ein, wenn die perfekte Lautstärke gefunden ist, wie jemand, der nicht mehr oder weniger berührt werden will. Mach es richtig, dann ist es der Himmel auf Erden; wenn du zu fest zupackst, deine Hand zwei Zentimeter zu weit in die falsche Richtung wandert, zerfällt die Liebe zu Asche. All das passiert in »Caravan« in nur einem Augenblick.

Als Morrison 1974 sein erstes Livealbum, »… It’s Too Late to Stop Now …«, aufnahm, war der Song zur Tanznummer geworden, fast schon ein Stück, mit dem man ein Set beendet – ein Publikumsliebling –, doch an jenem Abend fand es nicht zu seiner Stimme. Curtis Mayfield drehte sich um. Das Tempo war zu schnell – der älteste Musikertrick aus dem ältesten Lehrbuch, um bei einer bekannten Nummer Spannung zu simulieren. Dann bricht es ab, besteht auf Dramatik; man konnte die Hebel und Flaschenzüge förmlich sehen. Die Musik ist reich verziert, ausgeschmückt, der Song ist unter so vielen instrumentierten Schichten vergraben, dass die Refrains, die Herzstücke des Songs – »TURN IT UP! TURN IT UP!« – immer nur geschrien ankommen. Morrison nahm sich die Zeit, die Band vorzustellen, schien dann aber abzudriften, nuschelte »Now for the best, later for the garbage«, als würde er laut denken, und vielleicht war das sogar der wahrhaftigste und ungezwungenste Moment des ganzen Auftritts.

Zwei Jahre später bei The Last Waltz, dem Abschiedskonzert von The Band im Winterland in San Francisco, war die Thanksgiving-Show trotz zahlreicher Gaststars eher von Langeweile geprägt, die jeweils nur zwei oder drei Nummern lang durchbrochen werden konnte. Jetzt war sie gerade fast vollständig zum Erliegen gekommen. Bei »Mystery Train« mit Paul Butterfield und »Who Do You Love« mit ihrem alten Mentor, dem Rockabilly-Star Ronnie Hawkins aus den Fünfzigerjahren, hatten The Band alles gegeben, ebenso wie auch fast sieben Minuten lang bei »Mannish Boy«, angeleitet von Muddy Waters – doch nach diesen wenigen rasanten Schlenkern ging der Show die Luft aus. Auf Waters folgten Eric Clapton, Neil Young, Joni Mitchell und Neil Diamond; die Erwartung, Zeugen eines unvergesslichen Abends zu werden, mit der die Zuschauer gekommen waren und The Band selbst beharrlich geschürt hatten (durch unerhört hohe Ticketpreise, ein vollständiges Thanksgiving Dinner, Vorhänge wie in der Oper, aus Los Angeles eingeflogene Kerzenleuchter), wich allmählich einer reinen Starschau. Im Publikum begann man darüber zu spekulieren, wer wohl als Nächstes auftreten würde. Ein Fan prophezeite, dass Buddy Holly genau um Mitternacht die Bühne betreten würde. Jemand anders behauptete, Murry Wilson backstage gesehen zu haben – den damals erst kürzlich verstorbenen Vater von drei Fünfteln der Beach Boys. Jemand schrie »Free Bird«.

Morrison war als Nächster dran – der vorletzte Gast vor dem allerletzten, Bob Dylan –, und er stellte den ganzen Abend auf den Kopf. »Ich geh immer danach, was am besten ankommt«, sagte Dr. John, selbst einer der ersten Stargäste bei The Last Waltz mit »Such a Night«, das er ganz allein sang, und »Liza Jane« mit Bobby Charles aus New Orleans. »In meinen Augen kam Van Morrison von allen am besten an. Ich hab mir den Gig angesehen«, sagte er mit seiner kratzigen Stimme, dem Gossenknurren eines Mannes, den seit 1957 nichts mehr beeindruckt hat, »und es kam alles gut an. Weil das hauptsächlich berühmte Leute waren. Aber nichts war so wie das. Nichts kam so gut an. Das war besser als alles andere. Schwer, da noch was draufzusetzen.«

Schon bei den Proben am Vorabend, bei denen Martin Scorsese, der das Konzert filmte, oder besser gesagt, die Regie führte – wobei jeder Song genau geplant, jede Einstellung vorher festgelegt und die Beleuchtung so ausgerichtet wurde, dass das, was zum Schluss auf der Leinwand zu sehen war, möglichst abwechslungsreich wirkte –, war »Caravan« ein Riesenerfolg, ein »Showstopper«, obwohl es zu diesem Zeitpunkt noch gar keine Show gab. Morrison trat mittenrein, The Band spielten gelassen hinter ihm, kamen ihm nicht in die Quere, Allen Toussaints Bläser arbeiteten mit verabredeten Arrangements in festgelegtem Takt, die aber dennoch Spielraum ließen. »Now the caravan is on its way«, sang Morrison, kein gehetztes Wort, keine melodramatische Pause, einfach nur die ersten Zeilen einer alten Geschichte, die jeder kennt. Man sagt ja auch: »Es war einmal«, und nicht: »Es war – einmal«, es sei denn, man bildet sich schrecklich viel ein oder traut seinem Publikum nicht. Vielleicht traut Morrison seinem Publikum nicht, aber an jenem Abend gab es gar keines.

 

Bei der Show selbst konnte man sich vorstellen, dass der Song größer werden würde als je zuvor. Stetig steigt der Druck, dann lässt er nach. Nichts ist abstrakt, nichts gilt mehr als selbstverständlich. »Turn up your radio«: Und aus »radio« wird »RAD-IO« –

RAAAAAAAADIO

– und plötzlich ist es kein Radio mehr, es ist ein Todesstrahl wie der von Flash Gordon. Die Bläser verfallen in einen gleichförmigen Rhythmus, dah da da dah, immer weiter in die Länge gezogen,

DAHHHH da da DAH!

Immer und immer wieder, das Thema wird freier, lockert den harten Rhythmus auf, und die Bläser hämmern, jedes Mal lauter, Morrison hält mit, er schwingt das rechte Bein in die Luft wie eine Tänzerin bei den Rockettes. Dann reißt er einen Arm hoch, einen Dynamo, er wiederholt die Bewegung, wiederholt sie, wiederholt, wiederholt und schockiert damit immer wieder aufs Neue. Als er endlich die Bühne verließ, schwankte er, sein Körper eine einzige Wucht, sein Gesichtsausdruck sanft, in sich ruhend, wie bei jemandem, der nichts hört außer dem Song im eigenen Kopf. All das wies deutlich darauf hin, dass er sich endlich alles genommen hatte, was der Song ihm zu bieten hatte, er hatte nichts ausgelassen, hatte einen dazu gebracht, zu staunen und sich zu fragen, woher diese Person wohl kam und warum sie hier war. Es war immer schon ein Song gewesen, der danach verlangte, zu einem Bekenntnis zu werden – dies ist der letzte Song, den ich in meinem Leben singen werde –, und das hat Morrison ihm zurückgegeben. Edwyn Collins, Sänger der Glasgower Band Orange Juice, erinnerte sich, seinen Manager nach einem Auftritt einmal weinen gesehen zu haben: »Die großen Momente sind nie so gut, wie man sie sich vorher vorgestellt hat.« An diesem Abend waren sie es – doch bevor sich all das ereignen konnte, gab es einen Bruch, der den Weg für diesen Auftritt freimachte, und der hatte nichts mit Musik zu tun.

 

»Als wir das Ganze bei den Proben durchgegangen sind«, sagte Robbie Robertson im Kommentar zur Videoveröffentlichung von The Last Waltz, »kam er rein, war gerade von irgendwoher eingeflogen. Ich nehme an, er kam direkt vom Flughafen, und er trug einen Regenmantel, vielleicht hat es geregnet, das weiß ich nicht mehr, aber er trug einen Regenmantel, der sehr nach Mickey Spillane aussah. Und ich dachte, weißt du was? Dieses Detektiv-Ding, dieses Humphrey-Bogart-Detektiv-Ding, das hat was. Und ich sagte zu Van: ›Das gefällt mir, mir gefällt das Mike-Hammer-Ding, das du da fährst – das Outfit solltest du heute Abend auch anziehen.‹ Und er...

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