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E-Book

Wir werden niemals knien

Die Geschichte einer unnormalen Band

AutorIn Extremo, Wolf-Rüdiger Mühlmann
Verlagriva Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl250 Seiten
ISBN9783864131790
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
In der DDR wurden Kay Lutter, Michael Rhein, Reiner Morgenroth und Thomas Mund verfolgt, verhaftet, ihre Musik wurde verboten. Zeitgleich beging Folkmusiker Andre Strugala Fahnenflucht, raus aus der Armee des Arbeiter- und Bauernstaats, schulterte statt eines Gewehrs lieber seinen Dudelsack und zog mit Kumpel Marco Zorzytzky von Stadt zu Stadt, um illegal folkloristische Straßenmusik zu spielen. Ihre Wege kreuzten sich und 1995 gründeten sie IN EXTREMO. Dieses Buch handelt von großen Erfolgen, schmerzhaften Niederlagen, gefährlichen Unfällen und verrückten Abenteuern, die man nur im Schmelztiegel des Rock erleben kann. Wir werden niemals knien ist die Geschichte von sieben Vagabunden, die mit Dudelsäcken, Gitarren, mit ihrer originellen Mischung aus mittelalterlichen Überlieferungen und modernem Gespür für Rock-Hits und vor allem mit jeder Menge Mut die große Welt eroberten.

Die Geschichte von KAY LUTTER, MICHAEL RHEIN, BORIS PFEIFFER, SEBASTIAN LANGE, ANDRE STRUGALA, FLORIAN SPECKHARDT und MARCO ZORZYTZKY.

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Leseprobe

Kapitel 2 
Lumpenkönige auf LSD


(Wie Straßenmusiker die Anarchie ausriefen)

Im Banne der hohen Töne aller möglichen Pfeifen und Flöten stand Andre Strugala, Baujahr 1967, schon als Kind. Als zehnjähriger Pimpf nahm der Rostocker – freiwillig! – Flötenunterricht, mit zwölf kam Gitarre hinzu, und als 19-Jähriger schaffte er sich für 1200 Ostmark seinen ersten Dudelsack an. Gebaut wurde dieser von Klaus Stecker, einem von damals insgesamt zwei Dudelsackbauern der DDR.

Während andere Kinder in seinem Alter auf die damaligen, aus Funk und Fernsehen bekannten Rock- und Popgruppen abfuhren, fand Andre – der wegen seiner Mathematik- und Physikkenntnisse Pi oder auch Pymonte genannt wurde (Pi ist die mathematische Kreiskonstante 3,1415) – seine musikalische Heimat in der ostdeutschen Folk- und Mittelaltermusik und wurde von Gruppen wie Wacholder, Folkländer, Horch oder von Ougenweide, der einflussreichsten deutschen Mittelalterband der siebziger Jahre, beeinflusst. Erst Jahre später ging Andres Blick über den folkloristischen Tellerrand hinaus und er entdeckte die aggressive Wut und urige Durchschlagskraft der Punkmusik für sich. Vor allem das Album The Mating Sounds Of South American Frogs von Peter And The Test Tube Babies hatte es dem Mecklenburger besonders angetan.

In den Jahren 1985 bis 1988 spielte Andre in zwei Bands: Bei Eikboom lebte er seine Folk- und Mittelalterwurzeln aus, vor allem inspiriert von den Gruppen Liederjan und Ougenweide. Im Alter von 14 sah Andre ein Ougenweide-Konzert im ZDF, und wenig später schenkten ihm Freunde aus dem Westen das Live-Doppelalbum Ungezwungen, für den Dudelsackspieler auch noch heute ein Meilenstein, der »wegen seiner Mittelalter-, Ethno- und Experimentaleinflüsse unerreicht ist«. Mit Eikboom schaffte es Andre sogar ins Produktionsstudio des Senders Rostock. Leider gingen die Aufnahmen im Zuge der Wende und des Endes der DDR verschollen.

Parallel zu seiner Folkzeit schlug der Dudelsackhüne seine Langeweile in einer Punkband namens Brigade Rückwärts tot. In diesem Drei-Akkorde-Kommando spielte das Nordlicht mit revolutionärer Energie die irische Tin Whistle und die Schalmei, ganz nach dem Vorbild der irisch-stämmigen Folkgrößen The Pogues, an die Andre ebenfalls sein Herz verloren hatte. Gemeinsam mit anderen lokalen Lärmcombos wie Trümmertruppe und Schwankung spielte die Brigade Rückwärts einige Geheimkonzerte in illegal okkupierten Häusern in Rostock und Umgebung, bis Andre im Jahr 1988 in Graal-Müritz an der Ostsee bei einem Folklorefestival einen gewissen Brandan, den Chef der Wismarer Band Strandlööper, kennenlernte. Andre drückte jenem Brandan sogleich einen Spitznamen auf: der König, und zwar weil Brandan einen großen Königsbart trug und zudem ein ziemlich vorlautes Mundwerk hatte. Die beiden Musiker sahen sich an, jeder erblickte in den Augen seines Gegenübers vertrautes Feuer lodern, setzten sich abseits vom Treiben an einen Tisch, tranken Bier und stellten fest, dass sie dieselben Personen aus der Mittelalter-Szene kannten. Und nach wenigen Minuten wussten die zwei ganz genau, dass sie fortan zusammen Musik machen würden. Nach einer durchzechten Nacht eröffneten Brandan und Andre ihren jeweiligen Bandkollegen, dass jetzt ein für alle Mal Feierabend sei; und der Geburt des Duos Unbehout stand nichts mehr im Wege. Zuallererst kleideten sich die zwei mittelalterlich ein, also in Sackstoff und Leder, um als Lumpenmajestät nebst Hofnarr der weiten Welt klarzumachen, dass diese die zwei Tagediebe gefälligst mal an den vier Buchstaben lecken könne. Zu dem Duo gesellte sich nach kurzer Zeit noch eine Rabenkrähe. Der arme Vogel war als Küken aus dem Nest gefallen und wurde von König Brandan und Andre »Dr. Pymonte« wieder aufgepäppelt. Klara, so hieß das pechschwarze Federvieh, saß ganztags auf des Königs Schulter und saute das majestätische Gewand mit Krähenscheiße ein.

Im Jahr 1989, kurz vor der Wende und dem Fall der Berliner Mauer, wurde der damals 21-jährige Pymonte zum Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee eingezogen. Diesen zu verweigern, war keine Option, denn das hätte Arrest zur Folge gehabt und – für Andre noch viel schlimmer – Studienverbot. Wissen, Können und schulische Leistungen galten in der DDR oftmals nur als Sekundärtugenden. Wer jedoch über den Grundwehrdienst hinaus der Fahne diente und zudem noch Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) war, dem standen die Türen zu den Universitäten und diversen Wunschstudiengängen sperrangelweit offen. Nun hieß es also für den Naturburschen, sich in einer Kaserne wegschließen zu lassen und den Grundwehrdienst abzureißen. Natürlich konnte das nicht gut gehen: Während eines Kurzurlaubs vergrub Andre seine Uniform im Wald und fuhr mit seinem Kumpel Brandan, der später Corvus Corax ins Leben rufen sollte, nach Berlin, um Straßenmusik zu machen. Straßenmusik! In der DDR! Das war Anstiftung zur Anarchie, beinahe schon ein Kapitalverbrechen, denn die Staatsmacht setzte dies mit Arbeitsverweigerung und Bettlerei gleich, und Bettler auf der Straße gab es im Arbeiter- und Bauernstaat offiziell nicht. Es kam, wie es kommen musste: Das Duo wurde auf dem Berliner Alexanderplatz verhaftet, und Andre, der als Angehöriger des Militärs keinen Personalausweis, sondern seine Armee-Blechmarke bei sich trug, wurde in die berüchtigte Keibelstraße verschleppt, wo sich das Ministerium für Staatssicherheit befand. Ein Verhör folgte dem nächsten, und nachdem unserer Straßenmusiker mürbe gemacht wurde, brachte man ihn vors Militärstrafgericht, und von dort aus in Haft. Doch die Leipziger Montagsdemonstrationen, die politische Wende und der damit verbundene Untergang der DDR retteten den jungen Mann. »Gerade die Wende war für mich eine sehr wilde, sehr schöne und romantische Zeit«, erinnert sich Pymonte. »Durch meine stetige Flucht ins Mittelalter war ich relativ unpolitisch. Mir gingen alle Politiker, ob aus dem Osten oder aus dem Westen, auf die Eier. Ich wollte mit diesen Schauspielern, Aufschneidern und Nichtskönnern nix zu tun haben. Und all die Mittelaltermärkte boten einen guten Schutz vor diesen Zeitgenossen.«

Eigentlich wollte Abiturient Pymonte nach seiner abgeschlossenen Berufsausbildung als Mechaniker ein Kybernetik-Studium in Rostock zu seinem Ende bringen, doch die Wendezeit verbrachte der Dudelsackspieler viel lieber auf der Straße und auf Mittelaltermärkten, um zu musizieren, und in Dänemark, weil dort seine Freundin lebte. Pymonte: »Als Kind hatte ich oft in Rostock am Strand gehockt und versucht, mir vorzustellen, wie es da drüben in Dänemark wohl so ist. Ich habe sogar unter den Tagesgästen in Warnemünde mal einen Dänen gesehen, der genau so wie der Bankräuber Egon Olsen aussah: piekfeiner Anzug, Goldring am Finger, Zigarre im Maul.«

Die Wendemonate und die Zeit der Wiedervereinigung waren für Pymonte und Brandan die schönste Zeit auf Erden. Während sich in Deutschland alles um Geldumtausch, neue Postleitzahlen, Politik und Existenzialismus drehte, kosteten die beiden Musiker das wahre, pralle Leben aus. Nach einigen Wochen der Straßenmusik in Berlin verschlug es das Duo mal wieder in Richtung Ostsee. Die Taschen waren bereits voller Geld aus der Hauptstadt, als die zwei in Neustrelitz den Zug verließen, um frische Luft zu schnappen und sich einen Joint zu drehen. Da erblickten ihre geschäftstüchtigen Augen ein Provinzrestaurant nebst Hochzeitsgesellschaft. Ohne lange zu fackeln stimmten Andre und Brandan fix ihre Dudelsäcke, schmissen sich in ihre mittelalterlichen Lumpenkostüme und enterten mit lauten »Hallo!« das Gelage. »Wir sind die Geheimüberraschung!«, rief Brandan, und die zwei Vagabunden spien Feuer, wälzten sich in Glasscherben, musizierten und alberten herum, und marschierten schlussendlich mit dem Hut durch die Gästeschar, um Münzgeld abzugreifen. Danach schlugen sich die Überraschungsgäste ihre Bäuche voll, verschafften sich per Druckbetankung einen amtlichen Sektrausch, und während Pymonte auf dem Klo einen Joint durchzog, schnappte sich Brandan den Brautvater und ermahnte diesen, ihm die vereinbarten 300 Mark umgehend auszuzahlen. Voll gefressen, beschwipst und vorübergehend reich setzte das Duo seine Reise an die See fort.

Wenige Wochen danach, das mittelalterliche Duo Unbehout hatte gerade in Leipzig sein Quartier aufgeschlagen, um Straßenmusik zu machen, torkelten Brandan und Pymonte vormittags in die Universität der Stadt und platzten sternhagelvoll in eine Vorlesung, um einen Spontanvortrag über Mittelaltermusik und deren geeignete Instrumentierung zu halten. Nach etwa fünfzehn Minuten stürmten Polizisten in den Hörsaal, um die Tagediebe abzuführen. König Brandan jedoch krähte den Hauptwachmeister an: »Wache! Majestät werden bedroht! Sofort alle festnehmen und in den Turm werfen, bei Wasser und trocken Brot!« Wegen des Polizeieinsatzes mussten die beiden Mittelaltermusiker ihr akademisches Wissen leider für sich behalten, konnten es aber einigen auserwählten Studentinnen nachts in deren Betten vermitteln. Dort schien es ohnehin besser aufgehoben …

Mit stetig gedrückter Vorspultaste unter Strom zu stehen – dies war zwar spannend und spaßig, ging auf Dauer aber gewaltig an die psychische und physische Substanz. Und so trennten sich Pymonte und Brandan Anfang 1993, und Andre machte mit der Band Cradem Aventiure weiter. Musik und Natur statt Abenteuer lautete nun die Devise – für Andre das optimale Umfeld, sich als Mensch in den Wirren der Zeit selbst zu entdecken. Und so zog der Dudelsackexperte in eine Wohnkommune auf einem Bauerngehöft am Saaler Bodden bei Ribnitz. Genau genommen waren Cradem...

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