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E-Book

Als Gott mich fallen ließ

Vom Ausharren und Weitergehen mit ihm

AutorJennifer Zimmermann
VerlagSCM R.Brockhaus im SCM-Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783417229516
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Jennifer Zimmermann fühlte sich von Gott verlassen: Ihr Sohn kam mit Fehlbildungen auf die Welt, ihr Vater und ihr Schwager starben kurz danach. Ihre große Sehnsucht nach Gottes spürbarem Handeln blieb unbeantwortet und wurde sogar von dem Gefühl abgelöst, dass Gott sich zurückzieht und sie mit den Fragen und dem Schmerz alleine lässt. Sie beschreibt wie ihr Glauben erschüttert wurde, aber wie sie gleichzeitig gelernt hat, Gott ihre Zweifel und Klagen zu bringen. Am Ende steht eine neue Hoffnung, die aber ohne Leid nicht denkbar wäre!

Jennifer Zimmermann lebt in Bad Homburg. Vor sieben Jahren hat sie ihren Beruf als Sozialarbeiterin zwischengeparkt und verbringt ihren Alltag seither mit ihren drei Kindern und dem weltbesten Ehemann. Nachts strickt und bastelt sie - und sie schreibt, z.B. für die Zeitschrift Family.

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Ausharren


Juli 2014, zu Hause


DIESES GEHEIMNIS vom Gott der Scherben, der das Leid ebenso in der Hand hält wie das Glück, es rückt den Schmerz aus dem Zentrum meiner Gedanken. In mir wächst neue Hoffnung wie Vergiss-mein-nicht. Zart und blauäugig, aber nicht totzukriegen. Jedes Frühjahr wieder da. Es ist ein Funken von einer Idee, von einem Ausblick auf ein Gottesbild, das wieder Sinn ergibt. Wenn Gott wieder Gott wird in meinem Leben, wenn ich ihn wieder »gut« nennen kann, dann kann ich wieder einen Schritt vor den anderen setzen, wieder »jetzt« sagen und glücklich sein, auch mitten im Matsch. Auch wenn dieses »gut« vielleicht ganz anders klingt als das alte, das aus der Zeit vor dem Sonntagskind, bevor mein Papa übers Meer ging, aus diesem alten Leben. Nach diesem Funken von einer Idee strecke ich mich aus, er ist meine letzte, meine einzige Chance, so scheint es. Ich möchte spüren, wie dieser Funke auf meiner Haut brennt, ich sehne mich nach dem Moment, in dem ich wieder lebendig werde, in dem mir eine Träne heiß die Wange runterrollt, ich das Salz auf meinen Lippen schmecke und wieder klarsehe.

Es gab ihn immer, in jeder Krise meines Lebens, diesen Moment, in dem ich Gott all das sagen hörte, was ich vorher nicht hören wollte, all die Wahrheit über mein Leben. Es gab ihn immer, diesen Moment der Erkenntnis und danach war der Berg immer noch steil, aber ich war nicht mehr allein unterwegs. Er war da. Er muss doch auch jetzt da sein. Es muss doch möglich sein, sein Säuseln wieder zu hören, seine blütenöffnende Hand wieder auf meiner Schulter zu spüren. Die Antwort auf meine Fragen, der Moment der Erkenntnis, er steckt irgendwo in diesem Geheimnis vom Gott der Scherben und ich werde eine Lösung finden. Notfalls werde ich sie erzwingen. Und so stehe ich da auf Zehenspitzen, die Stirn in Falten gelegt und beide Hände hoch erhoben, wie besessen von der Idee, einen kleinen, flatterhaften Funken in meiner Handfläche zu spüren, ihn einzufangen, als würde er das überleben. Fanatisch sammle ich alles, was mir in die Hände fällt, alles was ansatzweise hilfreich erscheint, um dieses uralte Rätsel zu lösen: Warum lässt der gute Gott das Leid zu? In meinem Regal stehen die Bücher bald zweireihig. Ich sammle Ratschläge wie mein Wolkenmaler Fußballkarten und setze gewissenhaft alles um, immer auf der Suche nach dem Durchbruch, nach dem einen bisschen mehr, das Gott dazu veranlassen wird, sein Schweigen zu brechen. Sitze und bete und spiele die Rolle der demütig Hörenden, der Frau, die Gott nicht bittet, sondern die nur auf seine Stimme hört.

Dabei reicht eine harmlose Kinderkrankheit, eine durchfieberte Nacht und die flehenden Bitten scheinen wieder zu ihm empor zu explodieren, sprengen jede Rolle, jede Maske, und ich liege bettelnd am Boden und schäme mich, dass ich wieder nicht gut genug sein konnte. Es stecken Tonnen von Angst in mir, die jederzeit hochgehen können, sie brechen in Wutanfällen aus, in unausstehlicher Gereiztheit, in unangebrachter Härte und mir fällt niemand ein, zu dem ich mit diesem leicht entzündlichen, hochexplosiven Gemisch gehen könnte. Ich befehle die Angstgedanken weg, verweise das Böse in seine Grenzen. Schlage schließlich Kreuze vor meinen Fenstern, würde sogar Weihwasser versprengen und sehe mir dabei selbst nicht mehr ähnlich. Bald bin ich so weit gegangen, dass ich meine eigenen Erinnerungen an die Gottgeschichten, die Erlebnisse mit meinem Gott, nicht mehr ernst nehmen kann. Sie erscheinen mir nur noch als kläglicher Versuch, mich an den eigenen Haaren aus dem Dreck zu ziehen. All meine Mutanfälle und Visionen, all das leise Gottgeflüster, war das alles nur Staub, den ich im Vorübergehen aufgewirbelt habe? Brannte da gar kein Feuer, war da gar nichts Großes im Gange, nur der übliche Dreck des Menschseins? Alles bröckelt. Bislang gab es in der Dunkelheit immer einen Gedanken, der mir zum Wegbegleiter wurde, der mir gezeigt hat, wo die Lebensfreude, die Sorglosigkeit zu finden sind in dieser neuen Situation. Doch jetzt scheint es, als schließen sich die Freude hier im Leben und die Sehnsucht nach Gott gegenseitig aus.

Es gibt wenige Menschen, die eine solch explosive, zerstörerische Sehnsucht aushalten. Es tut weh, neben jemandem zu sitzen, der bittere Tränen vergießt, weil Gott den Vorhang zugezogen hat. Es gibt so viele Menschen, deren Umgang mit dem Leid leichter mitzutragen ist. Wer sich von Gott getragen weiß, der blüht im Leid zu ungeahnter geistlicher Kompetenz auf. Weiß von faszinierenden Einblicken zu berichten, hat Gott womöglich gehört und kann seinen Trost jetzt mit einer solchen Ausstrahlung weitergeben, dass man mit Tränen in den Augen lächeln muss. Den aber auszuhalten, der Gott nicht mehr sieht, der sich heimatlos fühlt, weil er sein Gottesbild bröckeln, stürzen sieht, ist eine völlig andere Sache. Die Reihen von Ratgeberliteratur in unseren Buchläden bezeugen, dass wir alle nicht besonders gut darin sind. Wir möchten einen guten Rat weitergeben und das Problem lösen. Ich habe sie alle beherzigt, diese guten Ratschläge. Gelöst haben sie nichts. Eher noch den Zweifel festgeschnürt.

Einer, der das erkannt hat, ist Tomáš Halík. Der tschechische Soziologe und Theologe nimmt die existenziellen Zweifel an Gott mitten hinein in den Glauben und die Kirche. Vielleicht weil er weiß, wie es sich anfühlt, entwurzelt und heimatlos zu sein. Während des Prager Frühlings wurde ihm als Oppositionellem die Lehrtätigkeit verboten. Halík ließ sich im Geheimen zum katholischen Priester weihen, wirkte an illegalen Veröffentlichungen mit, bewegte sich in einer Welt der Kritik an Gott und an seinen Leuten.27 Vielleicht ist ihm deshalb eine befreiende Klarheit im Umgang mit dem Zweifel zu eigen, eine geradezu erlösende Haltung angesichts der Fesseln der Ratschläge. Er nennt diese Haltung schlicht »Geduld mit Gott«. »Geduld … schließt zwei wesentliche Aspekte ein, nämlich Vertrauen und Treue. In gewissen Situationen sind Glaube und Geduld nur andere Namen für ein und dasselbe Verhalten.«28

Ich versuche Gottes Reden zu erzwingen. Die alten, lebensverändernden Momente herbeizubeschwören. Geduldig bin ich nicht, ganz sicher nicht. Irgendwo auf der Fahrt von der Klinikstadt in die Heimatstadt, irgendwo zwischen den grölenden Fußballfans, als Deutschland die WM gewinnt, irgendwo im Dschungel des Lebens stehe ich und schüttele den Kopf. Ich habe meinen Glauben an Gott verloren im Gewirr der Gänge, durch die die Betten der Kinder auf dem Weg zur OP rollen. Und es zerreißt mir das Herz vor Sehnsucht nach diesem Gott. Wie könnte ich da hupend durch die Stadt fahren wegen eines runden Balls in einem eckigen Tor? Ich verstehe die Welt nicht mehr, die Menschen, die auf ihr wohnen, noch viel weniger. Alles, was jetzt noch hält, sind diese drei Worte: »Geduld mit Gott«. Halík wirft mir keinen neuen Rat vor die Füße, er zwingt mich nicht weiterzugehen, den Kopf oben zu halten und zu lächeln. Er appelliert nicht an meine Lebensfreude, er will mich nicht ablenken. Stattdessen räumt er die Dreckwäsche vom Sofa und sagt: »Setz dich doch. Das könnte länger dauern.« Und ich könnte ihm um den Hals fallen, weil er der Erste ist, der ehrlich zu mir ist. Denn es gibt keine schnelle Lösung für dieses Problem. Es gibt ihn nicht, den Satz, auf den hin Gott sich zu mir umdrehen und sein Schweigen beenden wird. Er wird nicht kommen und sich für sein Schmollen entschuldigen. Um Himmels willen, es ist Gott! Was habe ich mir nur gedacht? Was um alles in der Welt habe ich gedacht, was passiert? Er würde einen Engel schicken, wenn ich mich nur genug anstrenge? Jesus würde mir eine SMS schicken?

Halík ist der erste, der mir und meiner Geschichte Platz macht. Sie nicht wegredet oder -schreibt. Aushält, was ich aushalten muss. Was zu viele aushalten müssen. Ich bin so unendlich erleichtert, weil ich nicht mehr zwanghaft lächeln muss. So erleichtert, dass ich lachen muss. Es gibt ein Wort für die Arbeit, die ich seit Monaten leiste. Ausharren. Es ist ein altes, ein sperriges Wort. Eins, das im Hals kratzt und in den Fingern juckt. Ausharren. So wie Aussitzen. Auch ein bisschen wie Sitzengelassen. Sitzengelassen auf einer Tonne explosiver Angst und Wut und Enttäuschung. Auf tausend unbeantworteten geheulten Fragen. Ich habe mir diesen Platz nicht ausgesucht, aber es ist meiner. Hier wird geschrien, geschimpft und geklagt, gebetet und geschmollt. »Gott, du hast mich benutzt; du hast mir ein Leben gegeben, das ich so nicht gewollt habe. Jetzt bin ich so hineinverwickelt, dass ich nicht mehr anders kann, aber ich lehne es nach wie vor ab, was du mit mir machst.«29 Die überraschenden Worte, diese so ganz unfrommen, mit denen Richard Rohr Jeremia sprechen lässt30, sie hallen wider an diesem Ort, an dem ich ausharre wie in einem Wartezimmer. Ein Wartezimmer, so groß wie ein Leben. Hier wohnt der Schmerz, aber hier wohnt auch die Hoffnung. Die Hoffnung, dass Gott sich eines Tages zu mir setzt und mir die Welt erklärt. Von hier aus kann man den Scherbenhaufen in all seinen Schattierungen sehen, all die Spitzen und Kanten, das Blut, das an ihnen klebt. Halík nennt diesen Scherbenhaufen die »verborgene Narbe im Herzen des Daseins«31. Ja, es gibt diese Narbe. Ich kann sie sehen, wenn ich die Nachrichten einschalte. Ich kann sie spüren, wenn ich in das Schlafzimmer meiner Eltern gehe und über das immer gemachte Bett meines Vaters fahre. In meiner Welt verläuft diese Narbe quer über den Bauch meines kleinen Sonntagskindes.

»Tritt doch aus dem Himmel hervor, komm herab und lass die Berge in deiner Gegenwart...

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