Gesundheit und Krankheit sind untrennbare Attribute des menschlichen Lebens. Menschen hoffen, ihr Leben in „guter Gesundheit“ verbringen zu können. Doch jeder Mensch wird auch im Verlaufe seines Lebens unweigerlich mehrere Male krank.
Entgeltfortzahlungsgesetz (EntgFG) und Sozialgesetzbuch (SGB) räumen kranken Berufstätigen die Möglichkeit ein, der Arbeit unter Fortzahlung der Bezüge bzw. unter Zahlung von Krankengeld fernzubleiben (vgl. §3 EntgFG; §44 SGB V). Die sog. „Krankmeldung“ oder „Krankschreibung“ bedarf der initialen, persönlichen Entscheidung des Betroffenen, der Arbeit fernbleiben zu wollen. Diese Entscheidung wiederum ist abhängig von dessen persönlicher Bewertung seines Wohlbefindens bzw. Gesundheitszustandes.
Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang auch die missbräuchliche „Krankmeldung“ ohne Vorliegen einer rechtfertigenden Erkrankung.
Dieses Kapitel entwickelt eine erste Perspektive auf Gesundheit und Krankheit als dynamische Prozesse. Im Folgenden wird die individuelle Dimension im Zustandekommen des Krankenstandes erörtert.
Jeder Mensch hat eine individuelle Vorstellung davon, was für ihn Gesundheit bedeutet. Dementsprechend ist die Beurteilung des eigenen Gesundheitszustandes stark von der individuellen Sicht auf Gesundheit und ihre Bedeutungszuschreibung geprägt. „Subjektive Vorstellungen von Gesundheit enthalten verschiedene Dimensionen:
• negative Abgrenzungen - wie ... frei von Belastungen zu sein;
• positive Bestimmungen - wie sich wohl fühlen;
• Beschreibungen eines Zustandes - wie ‚mit sich einig sein‘;
• Gesundheit als Voraussetzung - ‚die anderen Sachen kommen dann schon selber‘;
• Gesundheit als Ergebnis bestimmter Handlungsweisen (Ernährung und Vorsorge) und
• Gesundheit als Phänomen des sozialen Funktionierens“ (Flick 1998: 8).
Ebenso vielfältig sind die Versuche, Gesundheit wissenschaftlich zu beschreiben. Im Pschyrembel, einem klinischen Standardwörterbuch, wird Gesundheit wie folgt definiert:
„Gesundheit: 1. i.w.S. ist Gesundheit nach der Definition der WHO der Zustand völligen geistigen, seel. u. sozialen Wohlbefindens; 2. i.e.S. kann G. verstanden werden als d. subjektive Empfinden des Fehlens körperl., geistiger und seel. Störungen bzw. Veränderungen; 3. im sozialversicherungsrechtl. Sinn bedingt G. die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit“ (Pschyrembel, Zink 1986: 587).
Dabei beschreibt 1. Gesundheit als positive Bestimmung, 2. als negative Abgrenzung im Sinne der Flickschen Nomenklatur (s. oben). Beide Definitionen verfolgen ein eindimensionales Gesundheitsverständnis; man ist gesund – oder nicht. Sie setzen die subjektive Empfindung des Betroffenen in das Zentrum der Beurteilung. 3. betont den Zusammenhang zwischen Gesundheit und Arbeitsfähigkeit.
Dem eindimensionalen Gesundheitsverständnis folgend, wird Krankheit folgerichtig als das Fehlen von Gesundheit definiert. Erneut wird der Zusammenhang zwischen Krankheit als fehlende Gesundheit und Arbeitsunfähigkeit hergestellt.
„Krankheit: ... i.w.s. Fehlen von Gesundheit, i.e.s. Vorhandensein von subjektiv empfundenen u./od. objektiv feststellbaren körperl., geistigen u./od. seelischen Veränderungen bzw. Störungen. Im sozialversicherungsrechtlichen Sinn das Vorhandensein v. Störungen, die Krankenpflege u. Ther. erfordern u. Arbeitsunfähigkeit zur Folge haben ...“ (Pschyrembel, Zink 1986: 905).
Der Pschyrembel bezieht sich auf die Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation WHO aus dem Jahre 1964, gibt diese aber nur unvollständig wieder. Korrekt zitiert lautet sie:
„Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen“ (WHO 1946, zitiert nach Stürzer, Cornelißen 2005: 473).
Die WHO beschreibt Gesundheit als einen fast unerreichbaren Idealzustand. Obwohl Krankheit als Gegenpol von Gesundheit undefiniert bleibt, erschließt sich bereits aus dieser Definition, dass zwischen Gesundheit und Krankheit nicht zwingend ein dichotomes Verhältnis hergestellt werden muss. Die Abwesenheit von Krankheit bedeutet nicht zwingend Gesundheit. Es bleibt Raum für ein mehrdimensionales Verständnis von Gesundheit und Krankheit.
Beide Definitionen verfolgen ein statisches Konzept. Ihnen zufolge ist ein Mensch gesund oder nicht bzw. krank oder nicht.
Andere Konzepte nähern sich den Begriffen Gesundheit und Krankheit aus einer dynamischen Perspektive. Einer der prominentesten Vertreter dieser Sichtweise ist der amerikanische Soziologe Aaron Antonovsky. In seiner Salutogenesetheorie beschreibt er Gesundheit und Krankheit als integralen Bestandteil des Lebens. Er betrachtet den Gesundheitszustand eines Menschen als permanent veränderlich und abhängig von der Wechselbeziehung einwirkender Stressoren und vorhandener Widerstandsressourcen. Der Gesundheitszustand eines Menschen ist gekennzeichnet durch die jeweils aktuelle Position innerhalb eines zweidimensionalen Kontinuums, in dem Gesundheit und Krankheit jeweils die Extrempole bilden (vgl. Antonovsky, Franke 1997: 23). Eine nähere Beschreibung der Salutogenesetheorie und des aus ihr folgenden Gesundheitsverständnisses erfolgt in Kapitel 3.
Für den deutschen Soziologen Klaus Hurrelmann ergibt sich der Gesundheitszustand eines Menschen aus dem Prozess der Bewältigung des Spannungsverhältnisses zwischen der physischen und psychischen Konstitution eines Menschen und den Anforderungen der sozialen und materiellen Umwelt (vgl. Hurrelmann 2006b: 146). Kapitel 4 widmet sich der Beschreibung seines Sozialisationsmodells und seiner Definitionen von Gesundheit und Krankheit.
Interessant ist, dass für Antonovsky das subjektive Wohlbefinden in der Bestimmung des Gesundheitszustandes keine wesentliche Rolle spielt, während Hurrelmann ihm eine zentrale Bedeutung zuweist (vgl. Antonovsky, Franke 1997: 23; Hurrelmann 2006b: 146).
Krankheit bzw. ein reduzierter Gesundheitszustand steht immer auch in Bezug zu einer Einschränkung der Leistungsfähigkeit und des Wohlbefindens. Der persönliche Gesundheitszustand ist damit immer auch durch die subjektive Bewertung der gegenwärtigen Befindlichkeit definiert.
Aus dem Befund des eingeschränkten Gesundheitszustandes ist arbeitsrechtlich eine Alternativentscheidung abzuleiten. Arbeitsrechtlich gilt ein Arbeitnehmer entweder als arbeitsfähig oder, wenn sein Gesundheitszustand ihn an der Erbringung seiner Arbeitsleistung hindert, als arbeitsunfähig (vgl. §3 EntgFG).
An der Beurteilung der Arbeits(un)fähigkeit ist der Arbeitnehmer maßgeblich beteiligt. Es hängt nicht zuletzt von ihm ab,
• ob er trotz eines eingeschränkten Wohlbefindens weiter zur Arbeit geht,
• ob er ohne ärztliche Beratung der Arbeit fernbleibt,
• ob er zur Entscheidungsfindung eine ärztliche Beratung in Anspruch nimmt,
• ob und wann er die Beurteilung seiner Arbeitsfähigkeit vollständig in ärztliche Hände gibt.
In seiner Entscheidung ist er jedoch nicht frei. Gemäß EntgFG ist die Arbeitsunfähigkeit durch einen Arzt zu bescheinigen, wenn sie länger als drei Kalendertage andauert (vgl. §5 EntgFG). Der Gang zum Arzt ist also bei längerdauernden Erkrankungen nicht zu vermeiden. Natürlich kann es ebenso vorkommen, dass die Schwere der Erkrankung dem Betroffenen keine Entscheidungsoption lässt, ob und wann ärztliche Behandlung unvermeidlich ist.
Ob aus einer Befindlichkeitsstörung oder einer Krankheit ein Fernbleiben von der Arbeit resultiert, hängt von einer Vielzahl von Variablen ab. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier genannt:
• der Grad des subjektiven Wohlbefindens,
• die Einstellung zu Krankheit,
• die Einstellung zu Arbeit, Beruf und aktueller Tätigkeit,
• die Haltung zum Arbeitgeber,
• das soziale Klima in der Organisation,
• das Gefühl der Eingebundenheit im Unternehmen,
• die Zufriedenheit mit Beruf und aktueller Tätigkeit,
• Möglichkeiten der Partizipation und Einflussnahme,
• …, (vgl. Schmidt, Schröder 2010: 93–94; Wenderlein 2005: 15).
Die missbräuchliche Krankmeldung, bei der „… der Mitarbeiter zwar mit einem ärztlichen Attest, aber ohne eine medizinische Notwendigkeit zu Hause bleibt…“ (Nieder 1998: 12) wird als Absentismus bezeichnet. In diesem Fall hatte der Mitarbeiter „… keine ‚Lust‘ und entscheidet sich, zu Hause zu bleiben“ (Nieder 1998: 12).
Die Grenzen...