Seit mehr als 25 Jahren wird in der Sozialwissenschaft ein wachsender Einfluss des globalen Finanzmarktes auf die Struktur und Strategie der Unternehmen beobachtet (Vgl. Windolf 2005: 8). Dabei herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass die Globalisierung der Finanzmärkte die Spielregeln des ökonomischen Handelns grundlegend verändert hat (Vgl. Dörre 2007: 104).
Geld hat seit seiner Erfindung eine zentrale Rolle im gesellschaftlichen Leben der Menschen. Seine Bedeutung nahm im Zeitalter des Handelskapitalismus im 17. und 18. Jahrhundert zu. Für die wirtschaftstheoretischen Systeme des Monetarismus und Merkantilismus galt daher uneingeschränkt: Kapitalismus ist Geldwirtschaft. Im 19. Jahrhundert kam es zu einer weiteren bedeutenden Etappe. An die Seite von Papier- und Münzgeld kamen Kredite und Kreditgelder hinzu. Die Kreditwirtschaft wurde zum prägenden Element des Industriekapitalismus. Dabei zeichneten sich bis zum Jahrhundertwechsel bereits länderspezifische Unterschiede ab. So überwog in Deutschland und Kontinentaleuropa bis Ende der 1970er Jahre die langfristige Kreditfinanzierung. Das Bankenwesen und die wirtschaftlichen Beziehungen waren korporativ geprägt und es wurde sich am Stakeholder-Modell nachhaltiger Gewinnerzielung orientiert (Vgl. Busch 2008: 805f.). Die USA entwickelte sich hingegen zum „Land des Trusts und der anarchischen Konkurrenz“ (Windolf 2005: 13). Die Unternehmensfinanzierung erfolgt überwiegend am Kapitalmarkt über Aktien und Anleihen, womit das Shareholder-Value-Prinzip einhergeht (Vgl. Busch 2008: 806).
Durch die kreditbasierenden Beziehungen in Deutschland und Kontinentaleuropa entwickelte sich eine spezifische Form der „corporate governance“ zwischen den wirtschaftlichen Akteuren. Durch die Vergabe eines Investitionskredites bindet sich die Bank langfristig an ein Unternehmen. Die Bank hat kein Interesse daran, dass ihre Schuldner eine Strategie der Profitmaximierung verfolgen und damit möglicherweise hohe Risiken eingehen. Vielmehr besteht ein Bedürfnis an einem verlässlichen und (rück-)zahlungsfähigen Unternehmen (Vgl. Windolf 2005: 21f.). In Deutschland etablierte sich ein System, was im sozialen Bereich als „Rheinischer Kapitalismus“ und in der wirtschaftlichen Sphäre als die „Deutschland AG“ bezeichnet wird. Diese Phase war geprägt durch kooperative Beziehungen von Banken, Unternehmen und Gewerkschaften (Vgl. Köppen 2007: 2).
Der „Finanzmarkt-Kapitalismus“ unterscheidet sich von diesem interdependenten System des „organisierten Kapitalismus“[9]. Die Beziehungen zwischen dem Finanzmarkt und der Realökonomie werden nicht durch kreditbasierte Verträge zwischen einer Hausbank und dem Unternehmen, sondern durch die aktienbasierte Funktionsweise globaler Finanzmärkte dominiert (Vgl. Windolf 2005: 21ff.). Die Finanzierungsstruktur der deutschen Unternehmen (siehe Abbildung 2) hat sich in den letzten Jahrzehnten von der Kredit- zur Wertpapierfinanzierung verschoben (Vgl. Huffschmid 2006: 16).
Abbildung 2: Finanzierungsstruktur der Unternehmen in Deutschland 1970 - 2000
Quelle: Huffschmid (2006): 16; eigene Abbildung.
Von 1970 bis 2000 hat sich der relative Finanzierungsanteil im Unternehmenssektor durch die Aufnahme von Krediten von 36 auf 24 Prozent reduziert und die Wertpapierfinanzierung über die Emission von Aktien und Anleihen von 45 auf 63 Prozent erhöht. Der Aktienanteil ist von 38 auf 55 Prozent gestiegen (Vgl. Huffschmid 2006: 16). Der Finanzmarkt-Kapitalismus löst damit spätestens seit Ende der 1990er Jahre in den Zentren der globalen Wirtschaft den Industriekapitalismus ab, wodurch die produktiven Industrie- und Dienstleistungsunternehmen selbst zum Anlageobjekt geworden sind (Köppen 2007: 1). Die ursprüngliche Finanzierungsfunktion – obgleich sie nach wie vor eine elementare Rolle spielt – wurde in den letzten Jahrzehnten durch ein Spekulationsmotiv abgelöst (Vgl. Huffschmid 2002: 22f.). Huffschmid (2006: 14) bezeichnet diese Veränderung prägnant als einen Prozess „von der Investitionsfinanzierung zur Finanzinvestition“.
Mit diesem Wandel geht gleichzeitig eine tiefgreifende Veränderung im System der Unternehmenskontrolle einher (Vgl. Dörre 2006: 78). Das Kontrollinstrument ist nicht mehr der Kredit sondern die Aktie, mit deren Besitz die Aktionäre Eigentumsrechte erhalten (Vgl. Windolf 2005: 23). Aglietta (2000) charakterisiert diese strukturelle Veränderung als „Akkumulationsregime des Vermögensbesitzes“. Der Aktiengewinn und die Eigenkapitalrendite stellen in diesem Regime die Leitvariablen für das Verhalten der Unternehmen dar. Durch die Unternehmenskontrolle der institutionalisierten Anleger sind die Unternehmen gezwungen diese Variablen zu maximieren (Vgl. Aglietta 2000: 94ff.). Die dominierenden Elemente des Finanzmarkt-Kapitalismus sind die Aktienmärkte (Kapitalisierungsfunktion), die Investment-Fonds[10] (Eigentümer), Analysten und Ratingagenturen sowie Transfermechanismen wie (feindliche) Übernahmen (Vgl. Dörre 2006: 78; Windolf 2005: 20).
Die Investment-Fonds übertragen ihren „Renditedruck“ auf das Management der Unternehmen. Dementsprechend erfolgt eine Konzentration auf die profitabelsten Kerngeschäfte und die Quersubventionierung von weniger rentablen Unternehmensbereichen fällt weg. Durch Ausgründungen (Spin-Offs) und Auslagerungen (Outsourcing) sind kleinere Organisationseinheiten entstanden, die in einem höheren Maße von Konjunkturschwankungen und Gewinnvorgaben abhängig sind. Ein wachsender Vergütungs- und Leistungsdruck sowie marktförmig angepasste Arbeitsbeziehungen sind die Kennzeichen dieses Wandels (Vgl. Dörre 2006: 78f.). Damit einher geht die Umgestaltung der Produktionsweise von der fordistischen Massenproduktion zu einem flexibilisierten postfordistischen Produktionsmodell. Obgleich sich dieses Produktionsmodell weder vollständig noch flächendeckend ausgebreitet hat, prägt es mehr und mehr das Gesicht der Arbeitsgesellschaft. Das postfordistische Produktionsmodell manifestiert sich in einem Prozess, in dem tendenziell alle Bereiche der Arbeitsgesellschaft – ob im Bereich der Produktion, Dienstleistung oder Bildung – „marktförmigen Steuerungsmechanismen und Finanzkalkülen“ unterworfen werden (Vgl. Dörre/Brinkmann 2005: 86).
Analysten erfüllen eine kalkulatorische und stabilisierende Funktion im System des Finanzmarktes. Sie transformieren Unsicherheit in Risiko, indem sie die zukünftigen Gewinne eines Unternehmens schätzen. Die Investoren erwarten von Ihnen eine Empfehlung: kaufen oder verkaufen. Die Analysten liefern dabei den Risikofaktor, der zur Feststellung des Aktienkurses und damit zur Kalkulation des Preises für Zahlungsversprechen (Kapitalisierung) benötigt wird. Hierfür werden sie von Investment-Fonds und Wertpapierhändlern (Broker) bezahlt, die gleichzeitig ein großes Interesse am Inhalt der von den Analysten publizierten Prognosen haben. Daraus resultiert ein offensichtlicher Interessenkonflikt. Einerseits sind Analysten den Anlegern gegenüber zu korrekten Prognosen verpflichtet und andererseits erwartet die Investment-Bank „optimistische“ Vorhersagen als Verkaufshilfe. Letztlich agieren Analysten als Verkaufshelfer für die Investment-Fonds, da ihre berufliche Zukunft von ihnen abhängt. Zudem erhöht sich ihre Chance von einem Top-Wertpapierhaus wie Merrill Lynch oder Morgan Stanley beschäftigt zu werden, wenn überdurchschnittliche Gewinne prognostiziert werden. Der institutionelle Kontext begünstigt daher die Gelegenheit für Korruption (Vgl. Windolf 2005: 40ff.).
Die Ratingagenturen erfüllen auf dem Finanzmarkt die Funktion, die Zahlungsfähigkeit von den Markteilnehmern zu beurteilen, die als Kreditnehmer oder Emittent von festverzinslichen Wertpapieren auftreten. Sie analysieren sowohl gegenwärtige als auch zukünftige Faktoren, die die Tilgung einer Schuld gefährden könnten (Vgl. Bloss u. a. 2008: 88). Dabei werden in standardisierter und komprimierter Form drei Typen von Informationen ermittelt. Erstens die ökonomische Effizienz (Ertragsentwicklung), zweitens die Einhaltung ethischer Prinzipien (ehrbarer Kaufmann) und drittens normative Standards, die auf dem Finanzmarkt als „best practice“ bezeichnet werden. Ratingagenturen sind privatwirtschaftlich organisiert und werden von den Marktteilnehmern finanziert, die sie beurteilen[11]. Auch hierbei ist ein offensichtliches Risiko für Korruption erkennbar, dass allerdings geringer als bei Analysten einzuschätzen ist. Es gibt mit Moody´s Investors, Standard & Poors und Fitch Ratings weltweit nur drei große Ratingagenturen.[12] Sie orientieren sich an einem „Code of Practices and Procedures“, der sich weitestgehend durchgesetzt hat und einen Beurteilungsrahmen vorgibt (Vgl. Windolf 2005: 43ff.). Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise hat jedoch große Schwachstellen bei der Marktregulierung durch Ratingagenturen offenbart.
Mit dem Wandel zum Finanzmarkt-Kapitalismus hat sich auch eine Veränderung in der Kapitalakkumulation vollzogen. Chesnais (2004) begründet mit einem Rückgriff und einer Weiterentwicklung des Marxschen Begriffs des „fiktiven Kapitals“ (Vgl. Marx 1968, MEW 25: 481ff.; 521ff.), dass „Vermögen“ und...