TEIL 2
Bindungsentwicklung im Kindergartenalter
Gesunde Entwicklung
Ein Kind sollte bis zum Erreichen des Kindergartenalters eine sichere Bindung an zumindest eine Person entwickelt haben, die für es Schutz und Sicherheit bedeutet. Das Kind sollte bis dahin eine innere emotionale Repräsentation der Bindungsperson entwickelt haben; diese ermöglicht es ihm zum einen, bei Angst und Gefahr zur Bindungsperson zu laufen und dort wie in einem »sicheren Hafen« Schutz zu suchen, und sorgt zum anderen dafür, dass das Kind innerlich auf die emotional positive Erfahrung von Schutz und Geborgenheit aus vielen solchen früheren Erlebnissen zurückzugreifen und sich durch den Rückgriff und die Erinnerung an das gute Gefühl bei Aktivierung der Bindungsrepräsentation emotional selbst beruhigen kann. Jetzt muss die Bindungsperson nicht mehr real vorhanden sein, es genügt vielmehr, an sie und die guten Erfahrungen mit ihr zu denken und sich diese vorzustellen, damit die emotionale Erfahrungswelt einer sicheren Bindungsrepräsentation aktiviert wird. Gelingt dies, so hat es dieselben positiven Auswirkungen, wie wenn die Bindungsperson real anwesend ist: Das Kind beruhigt sich, kann seine Angst, wenn es gestresst ist, selbst regulieren und mit einem inneren Gefühl von emotionaler Sicherheit weiter die Welt erkunden. Das innere Arbeitsmodell einer sicheren Bindung, die Bindungsrepräsentation, ist dafür die Voraussetzung.
Ob die Aktivierung der Bindungsrepräsentation genügt oder ob die Bindungsperson real gegenwärtig sein muss, um das Kind zu beruhigen und ihm Sicherheit zu geben, ist von der Schwere der Bedrohung abhängig: Es macht einen Unterschied, ob die Aktivierung des Bindungssystems durch eine lebensbedrohliche Situation, wie etwa die Aufnahme ins Krankenhaus nach einem Unfall, hervorgerufen wird oder ob es sich um kleinere Bedrohungen wie die Verletzung durch einen Sturz und den damit verbundenen Schmerz handelt. Im zweiten Fall kann die Bindungsperson durch die innere Erinnerung ersetzt werden. Ist die Gefahr von außen wie im ersten Fall oder auch von innen (extreme Alpträume) sehr groß, so braucht das Kind die reale Anwesenheit seiner Bindungsperson. Das Kind sucht dann üblicherweise Körperkontakt und möchte auf den Arm genommen werden, um sich über den Körperkontakt zu beruhigen. Insgesamt ist Körperkontakt die beste Methode, um ein aktiviertes Bindungssystem des Kindes zu beruhigen, nicht nur bei Säuglingen und Kleinkindern, sondern auch im Kindergartenalter!
Weil die Kinder in diesem Alter bei einer guten Bindungsentwicklung bereits eine innere Bindungsrepräsentation – ein inneres Arbeitsmodell – von Bindungssicherheit haben, wird es ihnen auch möglich, eine Trennung von der Bindungsperson besser und für längere Zeit zu überstehen. Nach einer individuellen Eingewöhnung im Kindergarten können sie sich einer Erzieherin langsam anvertrauen und mit dieser Kontakt aufnehmen. Insbesondere, wenn die Erzieherin feinfühlig ist und auf die Signale des Kindes sehr gut eingeht, fühlen sie sich relativ rasch auch bei dieser sicher und geborgen und können die positiven Erfahrungen einer sicheren Bindung, z. B. zu ihrer Mutter, auf die Kindergartenerzieherin übertragen. Dies gelingt vor allem dann, wenn die Mutter in der Eingewöhnungsphase am Anfang anwesend ist und die Trennungen sehr kleinschrittig sind, so dass die Trennungsphasen am Anfang nur so lange dauern, wie sie das Kind ohne zu große Angst aushält. Es ist zu vermeiden, dass das Kind »wie am Spieß« schreit, seine Mutter vermisst, das Bindungssystem maximal aktiviert ist, weil dann nur Angst und Schrecken zurückbleiben und es für das Kind aus dieser Situation heraus sehr schwierig ist, sich an die Erzieherin sicher zu binden. Die Erzieherin wird dann eher mit Angst assoziiert, weil das Kind sie als diejenige identifiziert, welche die Trennung bewirkt hat und verhindert, dass das Kind zur Mutter zurücklaufen kann. Normalerweise würden Kinder hinter der Mutter herlaufen, wenn die Erzieherin aber das Kind festhält, es auf den Arm nimmt, die Tür zuhält, ist sie diejenige, die dem Kind – in seinen Augen – extremen Stress bereitet und das Wiederherstellen der Bindungssicherheit bei der Mutter unmöglich macht. Weinen, der Bindungsperson hinterherlaufen, Protest des Kindes – dies sind Verhaltensweisen, die das Kind während der Evolutionen als potentielle Bindungsverhaltensweisen entwickelt hat und die sein Überleben sichern, weil es auf diese Weise eher den Kontakt zur Bindungsperson aufrechterhalten kann und eine größer Chance hat, mit deren Hilfe zu überleben.
Die Dauer der Eingewöhnung muss individuell gestaltet werden und kann unterschiedlich lang sein. Sie ist abhängig vom inneren Arbeitsmodell von Bindung des Kindes, seiner Mutter resp. seines Vaters (bzw. derjenigen Person, die das Kind zur Eingewöhnung begleitet) und vom inneren Arbeitsmodell der Erzieherin, welche die Eingewöhnung auf der Kindergartenseite durchführt. Wenn es bei der Eingewöhnung Schwierigkeiten gibt, ist dies keinesfall immer durch ein Problem des Kindes bedingt, die Ursache kann vielmehr auch aufseiten der Mutter oder der Erzieherin liegen, wie die Behandlungsbeispiele in diesem Buch zeigen.
Das Autonomiebedürfnis der Kinder – im Sinne von: »Ich kann alleine essen, ich will mich alleine anziehen, ich bin schon ganz groß« – ist in dieser Zeit enorm. Im günstigen Fall fördern die Eltern die Selbstwirksamkeit des Kindes in adäquaten Schritten, ohne es zu unter- oder zu überfordern. So kann das Kind ständig die Erfahrung machen, dass es in der Lage ist, neue und wichtige Schritte zu erlernen. Dabei sieht man, wie sich das Kind über seine Selbstwirksamkeit und die neue Selbständigkeit, die sich aus dem Lernen neuer Aktivitäten ergibt, freut. Besonders glücklich ist es, wenn diese Freude – sein Stolz, Glück und seine Begeisterung – von den Bindungspersonen geteilt wird; dies muss nicht einmal offen ausgesprochen werden, denn ein Kind sieht am Glanz in den Augen seiner Bindungsperson, dass sich diese über seine Lernfortschritte und seine neuen Fähigkeiten freut. Der Stolz in den Augen der Bindungsperson fördert das Selbstwertgefühl des Kindes, es fühlt sich nicht nur in seiner gelungenen Aktivität gesehen und wahrgenommen, sondern auch wertgeschätzt. Wird dieses Gefühl verinnerlicht, so wächst langsam und allmählich auch im Kind selbst ein Gefühl, das sich in den Worten ausdrücken lässt: »Ich bin es wert, gesehen, geliebt und gefördert zu werden, meine Eltern lieben mich, so wie ich bin und wie ich mich entwickle, so wie ich die Welt erkunde; und selbst dann, wenn die Dinge schiefgehen, nicht gelingen, freuen sie sich mit mir, unterstützen und motivieren mich, noch mal von vorne zu beginnen, und mit dieser Rückendeckung kann ich die ganze Welt erobern.« Manchmal geraten die Kinder geradezu in einen Rausch: »Ich kann schon so groß sein wie Papa und Mama und habe ähnliche Fähigkeiten – wenn noch nicht ganz, dann aber schon bald!«
Ganz im Vordergrund steht jetzt auch das Erkundungsverhalten des Kindes. Es hat das Bedürfnis, die »Kreise« seiner Exploration immer größer zu ziehen – etwa vom eigenen bis zu Nachbars Garten, dann will es alleine in den Kindergarten gehen, an verschiedenen Gruppenaktivitäten – wie Kinderturnen, musikalische Früherziehung, Schwimmen, Sport – teilnehmen. In diesem Alter sind die Kinder in ihrem Expansionsdrang kaum aufzuhalten. Aus diesem Grunde sind Kinder dieser Altersgruppe auch besonders unfallgefährdet, denn sie können bei ihren Aktivitäten das Ausmaß der Gefährdung nicht immer abschätzen. Sie wissen noch nicht, wie gefährlich die Autostraßen sind, wenn sie mit ihren Laufrädern und Dreirädern oder auch schon mit kleinen Fahrrädchen, die sie aber noch nicht so gut steuern oder abbremsen können, flott unterwegs sind.
Hier ist ganz besonders eine gute, feinfühlige Betreuung durch die Eltern notwendig, damit die Kinder immer wissen, dass Papa und Mama sie im Auge haben. Manchmal gelingt dies nicht, weil die Eltern für einen Moment unaufmerksam sind; umso erschrockener sind sie dann, wenn sie die Kinder auf einem Baum sitzen sehen oder auf dem Schrank und weder sie noch das Kind selbst wirklich wissen, wie es denn da hochgekommen ist. Die Fähigkeiten, zu rennen, zu klettern, zu springen sind enorm, und die Kinder lieben es, all dies zu erproben, ohne dabei merklich zu ermüden, so dass sie selbst nach einem äußerst erkundungsfreudigen Tag abends noch mit voller Energie auf den Bettmatratzen umherspringen, so als begänne der Tag gerade erst. Die Eltern stehen dann ungläubig und erschöpft daneben und fragen sich, wo diese ganze »Power« jetzt in den Abendstunden herkommen mag.
Diese Zeit ist aber für Eltern nicht nur manchmal anstrengend, sondern auch besonders beglückend, weil sich die Eltern an den Fortschritten der Kinder, ihrer Neugier, ihrer Wissbegierde unendlich erfreuen können. Auch wenn die ständigen »Warum«-Fragen wahrlich nervtötend sein können, ist es doch wunderbar zu sehen, wie die Kinder sich voller Neugier auf die Welt stürzen und alles, aber auch wirklich alles mit großem Erkundungsdrang und oft einer gewissen »Erkundungsaggressivität« kennenlernen oder gar auseinandernehmen wollen – auch wenn dies, zum Leidwesen der Eltern, ein gerade neu gekaufter Wecker, ein neuer DVD-Player etc. sein mag.
Da die Kinder in diesem Alter auch ungeheuer viele Reize aufnehmen, die sie meistens überfordern, weil sie von ihnen noch nicht gut verarbeitet werden können, sind die Nächte oftmals von Alpträumen geprägt. Die Kinder wachen dabei im Status des »Nachtschrecks« (auch mit dem lateinischen Begriff als Pavor Nocturnus =...