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E-Book

Klinische Ethikberatung

Ein Praxisbuch für Krankenhäuser und Einrichtungen der Altenpflege

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl242 Seiten
ISBN9783170266612
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Dieses bereits in zweiter Auflage erscheinende Buch ist eine interdisziplinäre, praxisorientierte Einführung in die Tätigkeitsfelder Klinischer Ethikberatung und spiegelt die Erfahrungen der Autoren aus eigener Unterrichts- bzw. Beratungspraxis wider. Behandelt werden unter anderem medizinethische Grundlagen, verschiedene Modelle, Strategien zur Implementierung sowie Organisations- und Rechtsfragen. Für die zweite Auflage wurde der Band aktualisiert und um ein ausführliches Kapitel zur Ethikberatung in der Altenpflege erweitert.

Dr. med. Andrea Dörries, Direktorin des Zentrums für Gesundheitsethik (Hannover); Dr. med. Gerald Neitzke, Medizinethiker an der Medizinischen Hochschule (Hannover); PD Dr. phil. Alfred Simon, Geschäftsführer der Akademie für Ethik in der Medizin (Göttingen); Professor Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann, Lehrstuhlinhaber für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin an der Ruhr-Universität (Bochum).

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Leseprobe

1 Ethik im Krankenhaus


Andrea Dörries

1.1 Einleitung


Die derzeit schwierige Situation der Krankenhäuser ist durch drei parallel verlaufende gesellschaftliche Entwicklungen charakterisiert.

Erstens: Die Gesellschaft ist pluralistischer geworden, Behandlungsentscheidungen werden von den Patienten individuell nach den eigenen Wertmaßstäben getroffen; es gibt divergierende Lebensentwürfe.

Zweitens: Zu diesen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen kommt eine Reihe neuer medizinisch-technischer Möglichkeiten. Es ist fast schon Routine geworden, eine Niere zu transplantieren; Frühgeborene unter 1.000 g können mit teilweise sehr guten Entwicklungsmöglichkeiten überleben; der Tod und das langandauernde Leiden vieler Schwerverletzter und Schwerkranker können aufgrund einer guten Intensivbehandlung vermindert oder gar vermieden werden. Die Anwendung dieser Behandlungstechniken greift jedoch tief in das überlieferte Verständnis vom Umgang mit Leiden und Sterben ein. Dies kann zu ethischen Konflikten führen.

Drittens: Seit einigen Jahren besteht verstärkt das Problem begrenzter finanzieller Mittel im Gesundheitssystem. Krankenhäuser werden geschlossen, zusammengelegt oder umstrukturiert; sie treten in Konkurrenz zueinander. Es ist damit ein erheblicher Umstrukturierungsprozess in Gang gesetzt worden. Das löst Unruhe unter den Mitarbeitern aus.

Durch die erwähnten Entwicklungen geraten tradierte Muster der Kommunikation und des Umgangs miteinander in der Organisation Krankenhaus in Bewegung. Die bisherigen Lösungsstrategien im beruflichen Miteinander scheinen nicht mehr auszureichen. Das schafft Unruhe, Unbehagen und Unzufriedenheit, führt – wie immer wieder berichtet wird – zum Burn-out-Effekt und bringt damit die Leitungsorgane in Schwierigkeiten. Natürlich ist durch diese Schwierigkeiten auch der Patient direkt oder indirekt betroffen. Er wird jede Unstimmigkeit innerhalb des Personals sehr genau registrieren und unter Umständen verunsichert werden. Er erwartet bei seiner Betreuung und bei der Beratung über seine Behandlung eine einheitliche Strategie und klare, angemessene Informationen.

1.2 Das Krankenhaus als Organisation


Krankenhäuser sind komplexe und komplizierte Organisationen, in denen kranke Menschen behandelt, gepflegt und beraten werden. In Krankenhäusern arbeiten sehr unterschiedliche Berufsgruppen, wie z. B. Ärzte, Pflegende, Verwaltungsangestellte, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Laboranten, Sozialarbeiter und Seelsorger. Man wird in jedem Krankenhaus jeder Trägerschaft von mehreren Dutzend Berufen und Funktionsbezeichnungen ausgehen müssen.

Jede der erwähnten Berufsgruppen vertritt dabei mehr oder weniger das eigene berufliche Selbstverständnis, was im Arbeitsablauf zu Konflikten mit den Patienten, aber auch der Mitarbeiter untereinander führen kann. Sowohl Ärzte als auch Pflegende haben ein festes professionsspezifisches Selbstverständnis entwickelt. Typisch für Ärzte ist das traditionelle Arzt-Patient-Verhältnis, das den Anspruch auf die persönliche Zweierbeziehung ausdrückt, wobei bei der Behandlung eines Patienten die ärztliche Berufsethik und ärztliche Tugenden eine Rolle spielen. Die Pflege bezieht ihr Selbstverständnis traditionell aus der Zuwendung zum Kranken, dessen persönlicher Pflege und Versorgung. Sie befindet sich mittlerweile in einem Akademisierungs- und Professionalisierungsprozess, der neue Elemente in das traditionelle hierarchische Gefüge der Krankenhäuser einbringt.

Neben dem jeweiligen Professionsverständnis finden sich unter den Mitarbeitern Personen verschiedener Religionen und Glaubensrichtungen sowie unterschiedlicher kultureller Herkunft. Zusätzlich bringt jeder Mitarbeiter individuelle Wertvorstellungen ein, die in klinischen Entscheidungssituationen, bei denen es häufig um existentielle Fragen geht, zum Tragen kommen. Dies trifft sowohl für die Krankenhausmitarbeiter als auch für den Patienten und sein familiäres Umfeld zu. Die individuellen Wertvorstellungen beruhen auf privaten und beruflichen Erfahrungen sowie der Biographie und Persönlichkeit des Einzelnen.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass im Krankenhaus häufig Konflikte auftreten. Es gibt wie in anderen Betrieben Konflikte um Arbeitszeiten, um Dienstpläne und Nachtdienste; es gibt Konflikte um berufliche Förderung, um Freistellung zur Weiterbildung und Kostenübernahme; es gibt Konflikte zwischen den einzelnen Stationen über die Aufnahme von Patienten, innerhalb der Stationen über Arbeitsverteilungen; es gibt Konflikte um die finanzielle Ausstattung der einzelnen Abteilungen und etliche weitere. In der hohen Konfliktdichte innerhalb der Organisation Krankenhaus treffen damit berufsspezifische, kulturelle und individuelle Wertmaßstäbe aufeinander – und die Betroffenen müssen miteinander kommunizieren und kooperieren.

In den letzten Jahren sind die ethischen Konflikte zunehmend in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt. Obwohl wertgebundene Entscheidungen im Krankenhaus schon immer und häufig getroffen worden sind, besteht seit einiger Zeit zunehmend das Bedürfnis und die Notwendigkeit, ethische Fragestellungen zu diskutieren. Dies erfordert ein großes Maß an Verständnisfähigkeit, Gesprächsbereitschaft, Frustrationstoleranz, Organisationstalent sowie an Fachkenntnissen, u. a. über ethische Urteilsbildung. Hierzu gibt es jedoch kaum Elemente in der Aus-, Fort- und Weiterbildung. Eine systematische ethische Reflexion im Krankenhaus ist unüblich.

Unter den heutigen Bedingungen wird aber neben guter Kommunikation eine strukturierte Reflexion benötigt.

1.3 Die Gesundheitsberufe und der Patient


Krankenhäuser ähneln anderen Organisationen in vielen Aspekten: bürokratische Arbeiten müssen erledigt werden, Schriftverkehr muss erfolgen, Bestellungen müssen aufgeben, Waren einsortiert werden; es gibt Auseinandersetzungen zwischen Abteilungen und Probleme der Mitarbeiter untereinander. Aber in einem bedeutsamen Aspekt unterscheidet sich das Krankenhaus grundsätzlich von anderen Organisationen: In Krankenhäusern leiden und sterben Menschen. Mit diesem Leiden und Sterben umzugehen ist der entscheidende Aspekt für diejenigen, die im Krankenhaus tätig sind.

Für Patienten ist das Krankenhaus häufig eine ausgesprochen fremde Umgebung, die die normalen Regeln des gesellschaftlichen Miteinanders entscheidend verändert. Der Patient wird nach Symptomen befragt, die er im Alltag nicht ohne weiteres gegenüber Fremden preisgeben würde; er wird von Fremden körperlich untersucht; er wird – häufig mehrfach täglich – von Fremden für Blutentnahmen, subkutane Injektionen, Infusionen oder andere Untersuchungen gestochen; er sieht Bilder, die seinen Körper in einer Form darstellen, die er nicht gewohnt ist. Die Welt eines Krankenhauses ist für die meisten Patienten fremd, erschreckend und stellt eine radikale Veränderung ihres Alltagslebens dar.

Für die Ärzte, Pflegenden und anderen Mitarbeiter des Krankenhauses ist all dies Alltagsroutine, die sie professionell erledigen und bei der es notwendig ist, eine gewisse Distanz zu dem Leiden, das täglich gesehen und erlebt wird, zu wahren. Die Patienten aber befinden sich – zumindest teilweise – in einer existentiellen Extremsituation, in der sie auf sich selbst zurückgeworfen und überaus verletzlich sind. Diese medizinisch-professionelle und die Perspektive des Patienten treffen im Krankenhaus aufeinander und können Ursache für eine Vielzahl wertgebundener Fragen bei Behandlungsmaßnahmen sein.

Der Soziologe David Chambliss hat dies folgendermaßen dargestellt: »The moral system of the [...] hospital is quite different from that of the lay world. In the hospital it is the good people, not the bad, who take knives and cut people open; here the good stick others with needles [...]; here the good, doing good, peel dead skin from the screaming burn victim’s body and tell strangers to take off their clothes« (Chambliss 1996, 12). Er fasste zusammen, dass die moralische Ambivalenz dieser Handlungen nur durch Routine und damit Professionalität handhabbar wird. Infolgedessen werden nur wenige Konflikte, die dann meistens außerhalb des routinemäßigen Ablaufs liegen, von Ärzten und Pflegenden als ethisch problematisch wahrgenommen.

Was hat sich im Umgang mit dem Patienten in den letzten Jahren verändert? Bisher blieb die direkte individuelle Versorgung des Patienten der Krankenhausleitung oder den Kostenträgern weitgehend verschlossen. Hier deuten sich derzeit neue Steuerungseingriffe an: Die Verwaltungen der Krankenhäuser und die Krankenkassen, vertreten durch ihren Medizinischen Dienst, versuchen zunehmend Einblick in ärztliches und pflegerisches Handeln zu gewinnen und Einfluss darauf zu nehmen. Der entschiedene Protest der Ärzte gegen Eingriffe in die Therapiefreiheit seitens der Krankenkassen oder gegen die Weitergabe von Patientendaten kann verstanden werden als die Furcht vor einem Einbruch in diesen bisher bestehenden Schutzraum.

Weiterhin ändert sich bei einem Teil der Patienten das Verhalten bei der Inanspruchnahme des Gesundheitswesens. Gefördert wahrscheinlich durch die Budgetierung im Gesundheitswesen und durch die schleichende Veränderung gesellschaftlicher Vorstellungen von Krankheit (Stichwort: Lifestyle-Medizin) entwickelt sich derzeit bei einem Teil der Patienten eine Tendenz, bei bestimmten gewünschten Therapieverfahren, die nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung enthalten sind, die Kostenübernahme durch die Solidargemeinschaft – notfalls auch gerichtlich – durchzusetzen. Informationsbedürfnisse und Misstrauen gegenüber Ärzten und Krankenkassen sowie Kunstfehlerprozesse...

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