Sie sind hier
E-Book

Angst in der Eidgenossenschaft

AutorNicole J. Bettlé
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl133 Seiten
ISBN9783638896443
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Lizentiatsarbeit aus dem Jahr 2006 im Fachbereich Geschichte Europa - and. Länder - Mittelalter, Frühe Neuzeit, Note: summa cum laude, Université de Fribourg - Universität Freiburg (Schweiz) (Philosophische Fakultät), 143 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Das Buch 'Angst in der Eidgenossenschaft' ist ein Beitrag zur historischen Angstforschung und bietet einen Überblick über das Angstverständnis der Neuzeit (1300-1800). Zwei Hauptthemen stehen im Mittelpunkt der Arbeit: einerseits die natürliche Funktion der Angst (Lebenserhaltung und Fortpflanzung) und andererseits die kulturellen Ängste, die durch den Menschen und seine Institutionen geschaffen werden (u.a. Religion, Politik, Recht). Im ersten Teil der Arbeit werden individuelle und kollektive Angstauslöser sowie Taktiken zur Angstbewältigung aufgezeigt. Das zweite Kapitel widmet sich der mündlichen und schriftlichen Überlieferung der Angsterfahrungen über die Generationen hinweg (Kollektivgedächtnis). Im dritten Teil steht die während der Neuzeit und insbesondere durch die Juristen und Mediziner injizierte Neubewertung der Angst als eine Krankheit im Mittelpunkt. Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern sich das heutige Angstverständnis von demjenigen der Neuzeit unterscheidet - oder auch nicht. Dazu werden die Ergebnisse der Arbeit mit dem heutigen Gesundheitszustand der schweizerischen Bevölkerung verglichen.

2013 Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Staatsarchiv Basel-Stadt. 2012 Promotion in Allgemeiner und Schweizer Geschichte der Neuzeit. Universität Freiburg (Schweiz) 2010-2011 Stipendiatin des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) Forschungsjahr an der Universität des Saarlands. 2001-2006 Studium Geschichte und Neuere Deutsche Literatur, Universität Freiburg (Schweiz).

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

2. Die Rezeption der sozialpolitischen Angst

 

2.1. Die Kommunikation

 

Die Kommunikation spielt in Bezug auf das Angstthema die wichtigste Rolle, da sie schliesslich die Angstvorstellungen und -erfahrungen von einem Raum zum anderen transportiert. Bei der Angstverbreitung wirkt die mündliche Kommunikation als stärkster Faktor.[304] Ihre zentralen Merkmale waren die ungeheure Geschwindigkeit und weite Ausdehnung, die sowohl Sprachunterschiede zu überwinden als auch abgelegene Orte zu erreichen wusste.[305] Diese Eigenschaften führten schliesslich auch dazu, dass die Menschen stets davon ausgingen, dass die Angst überall zur gleichen Zeit ausgebrochen sei. Zumeist war es eine einzelne Person ohne Auftrag, von der aus die Angst durch das Streuen eines Gerüchts Verbreitung fand und daher weit seltener durch Gebirgszüge aufzuhalten war, als durch einen Fluss ohne Brücke. Das Gerücht selbst war grösstenteils eine Mischung aus Erinnerungen an mündliche oder schriftliche Überlieferungen sowie Alltagsgeschichten, die von furchterregenden Zuständen berichteten. Die Geschichten vom Viehverderben durch Hexerei beispielsweise mutierten sogar zur „Wandersage“, wurden sie doch bis in die Zeit der Aufklärung und darüber hinaus als Tatsachenbericht ausgegeben.[306] Als Angsterfahrung weitererzählt, konnten diese Gerüchte im Generationen- und Kollektivgedächtnis Eingang finden.

 

2.1.1. Mündliche Überlieferung der Angst

 

„Ängste, die ältere Menschen bewußt oder unbewußt in dem kleinen Kinde hervorrufen, schlagen sich in ihm nieder und reproduzieren sich von nun an zum Teil auch mehr oder weniger selbsttätig“.[307] Die Angsterfahrung wird durch die ältere Generation mittels Märchen und Erzählungen weitergegeben und der Jugend eingetrichtert, die ihrerseits mit einer Einverleibung deren Gefühlswelt bzw. psychischer Anpassung reagiert.[308] Der Zuwachs an Erfahrungs- und Gefühlsvorsagen bewirkt einen Zuwachs an Unruhe, die das Kind oder den Jugendlichen schliesslich sich zu ängstigen lehrt.[309] Es handelt sich dabei also nicht um einen Lernprozess als solchen, sondern um einen Anpassungsmechanismus.[310] In wunderbaren Worten überlieferte U. Bräker das reine Angstgefühl eines Kindes, das diesen Mechanismus noch nicht verinnerlicht hat: „ich wußte nur von meiner Angst, nichts von Gefahr“.[311] Bei der Überlieferung von Angstvorstellungen bzw. -objekten spielten besonders Frauen eine grosse Rolle. Bräkers Mutter ängstigt ihren Sohn mit Geschichten aus dem Krieg: „Ich hörte meine Mutter viel davon erzählen, das mich zittern und beben machte“.[312] Th. Platter berichtete von seiner ungeheuren Furcht vor dem Geier, von dem die alten Weiber berichteten, er könne Kinder und Geissen wegtragen.[313] Sein Sohn Felix berichtet in seinen Tagebuchblättern: „Ich hörte sehr gerne zu, wenn man Geschichten und besonders, wie die Jugend zu tun pflegt, Fabeln und Märchen erzählte. Weil damals die alten Weiber, denen ich ernsthaft zuhörte, viel von Geistern redeten, wurde ich so schreckhaft und furchtsam, dass ich nirgends allein sein durfte, besonders nachts nicht allein liegen wollte und mich so fürchtete, dass ich schrie“.[314] Im Gegensatz zu den Frauen ängstigten die Väter ihre Kinder vielmehr durch religiöse Anschauungen und warnten vor unchristlichem Verhalten. Th. Platter predigte seiner Familie gerne aus der Heiligen Schrift vor. Sein Sohn Felix über die Lehrstunden: „Das ging mir Jungen also mächtig zu herzen, daß ich oft dachte, wie kommt`s, daß es gottlose Leute gibt? Fürchten sie nicht die hölle?“[315] In Bräkers Vaterhaus pflegte man aus dem Buch der flüchtige Pater vorzulesen, das vom Fall des Antichrists und vom Strafgericht resp. dem Weltende erzählte. Der junge Bräker berichtet davon:

 

„Auch Ich las` viel darinn; predigte etlichen unsrer Nachbarn mit einer ängstlich andächtigen Miene, [...] und gab ihnen alles vor baare Münz aus; und dieß nach meiner eignen völligsten Ueberzeugung. [...] Aber das brachte mich dann eben auf allerley jammerhafte Vorstellungen. Und was das Schlimmste war, so verlor ich ob dieser Ueberzeugung gar alle Freud` und Muth“.[316]

 

Pubertierende Jungen, die sich unchristliche und unmoralische Phantasien erzählten, versetzten ihre Kameraden gleichermassen in Angst und Schrecken:

 

„Daheim durft`ich nichts merken lassen von dem, was ich bey diesen Cameraden sah` und hörte: genoß aber nicht mehr meine vorige Fröhlichkeit und Gemüthsruhe. Die Kerls hatten Leidenschaften in mir rege gemacht, die ich noch selbst nicht kannte [...]. [...] Jetzt kamen mir die bösen Neigungen in meinem Busen abscheulich vor, und machten mir angst und bang. Ich betete, rang die Hände, [...] faßte einen Vorsatz über den andern, und machte mir so strenge Pläne für ein künftiges frommes Leben, daß ich darüber allen Frohmuth verlor. [...] Ich machte mir alles zur Sünde“.[317]

 

Die mündliche Kommunikation resp. die durch diese verbreitete Angsterfahrung wusste sich hartnäckig in der Erinnerung zu bewahren. Als U. Bräker als Jugendlicher die Heimat verliess, wurde in seinem Dorf erzählt, er wäre aufs Meer verkauft worden. Zukünftig ängstigte man die Kinder mit diesem Gerücht und warnte sie, besser in der Nähe des Hauses zu bleiben und sich nicht in die böse, weite Welt zu wagen.[318]

 

2.1.2. Angstverbreitung durch Klerus und Obrigkeit

 

Philosophen und Juristen definierten die Gefahr als ein mögliches Geschehen, welches eintreten kann. Damit ging bereits mit der Definition eine Angstvorstellung einher, die im Vorfeld aus der Erfahrung abgeleitet wurde.[319] Geistliche sowie Herrschende waren es schliesslich, die das Volk schon im Vorfeld vor einer bestimmten Gefahr zu warnen versuchten, da sie dies als ihre Pflicht ansahen.[320] Dabei zeigte sich die Angstverbreitung durch ausgesandte Diener und Boten als besonders wirksam, die aus Furcht für feige gehalten zu werden, die Gefahr gerne übertrieben. Zumeist wurde die Angst nicht von Haus zu Haus weitergetragen, sondern von Pfarrer zu Pfarrer resp. von städtischer oder ländlicher Verwaltung zur anderen.[321] In der Tat streuten selbst gelehrte Männer so manches Gerücht. Als J. Wettstein die Geschichte hörte, dass 11`000 Jungfrauen zu Köln gemartert worden seien, schrieb er in sein Tagebuch: „Ist ein Wunder, daß solche hochverstendige Leuthe sich mitt dergleychen Fablen und Tandtwerkh schleppen“.[322] Wohl zur Disziplinierung wiederum verlas man in einer Stadt das Gerücht um die Verstümmelung von Kindern durch Sektenmitglieder, das ein Bote gestreut hatte, obwohl man wusste, dass es sich um eine Lüge handelte.[323] Natürlich betrachtete es auch das einfache Volk als seine Pflicht, die nächsten Städte oder näheren Regionen über nahende Gefahrensituationen zu informieren.[324] F. Platter erzählt von einer Reise mit Freunden, auf der sich ein Fremder ihnen anschliessen wollte:

 

„Da [...] der Wirt uns warnte, erhoben wir uns vor Tag in aller Stille, sattelten die Pferde und ritten davon. Wir waren nicht weit von der Stadt, so kommt er uns nachgeritten, worüber wir sehr erschraken. Als wir zu einem Wald kamen, gaben wir vor, wir hätten etwas vergessen und näherten uns der Stadt; [...]. Sobald er uns nicht mehr sehen konnte, schlugen wir einen andern Weg ein, dem Walde zu, indem wir uns verbargen, in steter Sorge, er würde uns erwischen.“[325]

 

2.1.3. Die Hexen, die jedermann doch nur mit der eigenen Zunge geschaffen hat

 

Der Arzt und Gegner der Hexenverfolgung Johann Weyer (1588 †), dessen Aussage hier als Titel genannt wird, betrachtete die Hexenverfolgung als eine Folge des Altweibergeredes und der Einbildung eines melancholischen Volkes oder Herrschers.[326] Tatsächlich wurden vermeintliche Hexen bzw. Zauberer ausschliesslich auf Grund von „Hörensagen“ bzw. „mündlichen Berichten“ hin verdächtigt sowie verurteilt, und selbst die Ungläubigkeit von Gehörtem konnte zu Verfolgungen führen.[327] Auf Gerüchte und Anzeigen hin begannen Amtleute Material gegen Verdächtige zu sammeln, wobei die Suche nach Beweisen nicht ausschliesslich auf den eigenen Bezirk begrenzt blieb, sodass auch ein Wohnsitzwechsel einen schlechten Leumund nicht aufhalten konnte.[328] Zumeist traf es Menschen, die bereits im Vorfeld mit einem schlechten Ruf zu kämpfen hatten.[329] Die üble Nachrede verfolgte die zumeist rechtlich schwächer gestellten Gesellschaftsmitglieder Zeit ihres Lebens und sogar darüber hinaus, wurde sie doch zumeist auf deren Familienmitglieder sowie Nachkommen ausgeweitet.[330] Da die Justiz davon ausging, dass die Hexenkünste innerhalb der Lebensgemeinschaft weitergegeben...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Europa - Geschichte und Geografie

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Spätmoderne

E-Book Spätmoderne
Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa I Format: PDF

Der Sammelband „Spätmoderne" bildet den Auftakt zur Reihe „Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa" und widmet sich zuvorderst osteuropäischen Dichtwerken, die zwischen 1920 und 1940…

Spätmoderne

E-Book Spätmoderne
Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa I Format: PDF

Der Sammelband „Spätmoderne" bildet den Auftakt zur Reihe „Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa" und widmet sich zuvorderst osteuropäischen Dichtwerken, die zwischen 1920 und 1940…

Weitere Zeitschriften

Archiv und Wirtschaft

Archiv und Wirtschaft

"Archiv und Wirtschaft" ist die viermal jährlich erscheinende Verbandszeitschrift der Vereinigung der Wirtschaftsarchivarinnen und Wirtschaftsarchivare e. V. (VdW), in der seit 1967 rund 2.500 ...

Ärzte Zeitung

Ärzte Zeitung

Zielgruppe:  Niedergelassene Allgemeinmediziner, Praktiker und Internisten. Charakteristik:  Die Ärzte Zeitung liefert 3 x pro Woche bundesweit an niedergelassene Mediziner ...

Baumarkt

Baumarkt

Baumarkt enthält eine ausführliche jährliche Konjunkturanalyse des deutschen Baumarktes und stellt die wichtigsten Ergebnisse des abgelaufenen Baujahres in vielen Zahlen und Fakten zusammen. Auf ...

küche + raum

küche + raum

Internationale Fachzeitschrift für Küchenforschung und Küchenplanung. Mit Fachinformationen für Küchenfachhändler, -spezialisten und -planer in Küchenstudios, Möbelfachgeschäften und den ...

dental:spiegel

dental:spiegel

dental:spiegel - Das Magazin für das erfolgreiche Praxisteam. Der dental:spiegel gehört zu den Top 5 der reichweitenstärksten Fachzeitschriften für Zahnärzte in Deutschland (laut LA-DENT 2011 ...

Der Steuerzahler

Der Steuerzahler

Der Steuerzahler ist das monatliche Wirtschafts- und Mitgliedermagazin des Bundes der Steuerzahler und erreicht mit fast 230.000 Abonnenten einen weitesten Leserkreis von 1 ...