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Curry-Connection

Wie ich zu fünf Tanten, 34 Cousins und einem neuen Namen kam

AutorBruno Ziauddin
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783644423312
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Für seine Herkunft hat sich Bruno Ziauddin nie interessiert. Erst nach dem Tod der Eltern beschließt er, in das Geburtsdorf des Vaters zu fahren - ein entlegenes Nest an der Südspitze Indiens. Dort lernt er nicht nur seine fünf Tanten und 34 Cousinen und Cousins kennen, während er permanent Tee trinken, Geschenke in Empfang nehmen und dabei unzählige Kommunikationsprobleme umschiffen muss. Die abenteuerliche Reise bildet auch den Ausgangspunkt, um mehr über den ungewöhnlichen Werdegang des Vaters (und letztlich sich selbst) in Erfahrung zu bringen. Die Spurensuche führt nach London, Ghana und zurück nach Indien. Die Familiengeschichte eines Multikultikindes, berührend und amüsant.

Bruno Ziauddin, geboren 1965, ist Journalist, Buchautor sowie Dozent an der Schweizer Journalistenschule in Luzern. Der Sohn eines indischen Ingenieurs und einer Schweizer Krankenpflegerin ist in Zürich aufgewachsen. Für seine Texte, die unter anderem in der Weltwoche, im Süddeutsche Zeitung Magazin und der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen sind, wurde er mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Mit seinem Erstling 'Grüezi Gummihälse', einer satirischen Betrachtung des Verhältnisses zwischen Schweizern und Deutschen, landete er gleich einen Bestseller.

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Leseprobe

ZÜRICH


Die Geschichte beginnt mit dem Ende. Der 17. Dezember 2001 war ein eisig kalter Wintertag. Nach Feierabend fuhr ich zu einem schicken, in einer alten Fabrikhalle untergebrachten Lokal, wo die Weihnachtsfeier unserer Redaktion stattfand. Mit einem Glas Sekt in der Hand gesellte ich mich zu zwei Kollegen, die sich bereits in Festlaune tranken. Wir unterhielten uns im sarkastischen Tonfall über die düstere Lage unserer Branche, als mein Handy zu surren begann. Auf dem Display erschien die Nummer meiner Eltern.

Die Teenager- und Studentenjahre, in denen man sich über vermeintlich zur Unzeit erfolgende Anrufe der Eltern ärgert, lagen hinter mir. Ich nahm den Anruf mit einem aufgeräumten «Hallo» entgegen. Zwar stutzte ich, als nicht die Stimme meiner Mutter oder meines Vaters ertönte, sondern jene der Nachbarin. Ich dachte mir aber nichts weiter dabei und setzte zu ein paar freundlichen Fragen an. Wie es ihr denn so gehe und ob sie die Weihnachtseinkäufe schon erledigt habe. Die Nachbarin ging nicht auf meine Fragen ein, und erst jetzt realisierte ich, dass etwas nicht stimmte. Warum klang ihre Stimme so merkwürdig? Und was war das für ein Geräusch im Hintergrund? Weinte da jemand? War das nicht meine Mutter? Die Nachbarin sagte nur zwei Worte, doch ich verstand sofort: «Dein Vater.»

Ich nahm meinen Mantel, taumelte in die Kälte und stieg in ein Taxi. Wie die meisten Menschen Mitte dreißig war ich noch nie wirklich mit dem Tod konfrontiert worden. Als kleiner Bub bekam ich die aufgebahrte Leiche einer entfernten Tante zu Gesicht. Das bedeutete: keine sonderbaren Pfefferminzbonbons mehr in die Hand gedrückt zu kriegen. In der dritten Klasse verunglückte der Sohn des Bäckers tödlich. Ich vergaß rasch. Die Großeltern väterlicherseits lebten und starben fast achttausend Kilometer entfernt, ohne dass ich ihnen je begegnet war. Die anderen, die richtigen Großeltern, waren nach der Pensionierung von Zürich nach Südfrankreich gezogen, in die Heimat der Großmutter. Ich war dreizehn, als sie kurz hintereinander starben. Natürlich war ich traurig. Aber nicht so traurig wie an dem Tag, an dem ich die schöne Maria, die ich seit Wochen umwarb, beim Herumknutschen mit einem älteren Jungen sah.

Auf der Fahrt zur elterlichen Wohnung versandte ich rastlos Textnachrichten an Freunde und Arbeitskollegen. «Lieber Stefan, komme morgen nicht in die Redaktion. Mein Vater ist gestorben.» Ich war gleichzeitig benommen und überdreht, leer und voller Gedanken. In den folgenden Tagen und Wochen sollten noch zahlreiche schlimme, aufwühlende, manchmal auch auf eigenartige Weise schöne Momente folgen. Einer der schlimmsten Momente jedoch kam ganz am Anfang: Als das Taxi in die Straße der Eltern einbog, sah ich schon von weitem den Krankenwagen, der vor der Haustür stand. Das Blaulicht war ausgeschaltet. Ich begriff, dass es endgültig war.

 

Einholung der ärztlichen Todesbescheinigung, Anmeldung des Todesfalls beim Bestattungsamt, Anforderung des amtlichen Todesscheins beim Zivilstandesamt, Aufgabe der Todesanzeige und Versenden der Trauerkarten; Unterredung mit dem Friedhofsverwalter zwecks Grabwahl, Bestellung des provisorischen Holzkreuzes inklusive Festlegung der Inschrift, Auswahl des Sargtyps, Erstellung eines Inventars zu Händen des Steueramts, Abteilung für Inventarisation. Wer kennt einen guten Organisten für die Abdankungsfeier? Braucht es einen Grabkranz? Wo soll das Leichenmahl stattfinden?

Was grausam tönt, wurde in Wahrheit von einer weisen und gütigen Fee ersonnen. Der bürokratische Irrsinn der ersten Tage ist die einzige Medizin gegen Verzweiflung, Hilflosigkeit, Panik und Lethargie.

Auf der Beerdigung mimte ich den Tapferen, notgedrungen. Außer mir – Nachteil der modernen Einkindfamilie – war ja keiner da, der der untröstlichen Mutter wirklich hätte Trost sein können. Ein paar Freunde und Bekannte kondolierten. Silvia, meine Freundin, warf Blumen auf den Sarg, ebenso die Mikroverwandtschaft, bestehend aus einem Onkel zweiten Grades und meinem französischen Cousin.

Am Rande der Trauergemeinde stand Joseph. Die Hände gefaltet, den Kopf gesenkt, in einer für die Jahreszeit zu dünnen Windjacke. Joseph wohnte in der Nachbarschaft und stammte wie mein Vater aus Südindien. Die beiden hatten sich einige Jahre zuvor auf einem Straßenfest kennengelernt. Er war so ziemlich der einzige Inder, mit dem mein Vater in den vielen Jahren, die er in Europa verbrachte, Umgang pflegte. Ansonsten mied er den Kontakt zu Landsleuten. Ebenso machte er, der geborene Muslim, einen Bogen um die Moschee, die sich unweit der elterlichen Mietswohnung befand. Mir empfahl er, dereinst meinen Familiennamen abzulegen. Zu kompliziert, zu fremd, bringt nur Nachteile. Und er warnte eindringlich vor Reisen in den arabischen Raum. Lauter religiöse Eiferer, die nur darauf warteten, einen wie mich, einen getauften Katholiken mit muslimischen Ahnen, als Konvertiten zu brandmarken und in ein orientalisches Verlies zu sperren.

Mein Vater war nach dem Krieg nach England gegangen, um Ingenieurwissenschaften zu studieren. In fünfzig Jahren kehrte er nur viermal in seinen Geburtsort zurück, ein entlegenes Dorf namens Srivaikuntam, siebzig Kilometer vom Südkap Indiens entfernt, wo Arabisches Meer, Golf von Bengalen und Indischer Ozean zusammenfließen. Erreichte ihn ein Brief aus der weitverzweigten Verwandtschaft, etwa von einem Neffen, der um Geld für den Hadsch, die Pilgerreise nach Mekka, bat, dann schrieb er ein paar scharfe Zeilen an Mister Yusuf, seinen Vertrauten im Dorf. Man möge ihn bitte mit Bettelbriefen, Hochzeitseinladungen oder den Schilderungen irgendwelcher Familienzwistigkeiten verschonen. All das raube ihm den Schlaf und halte ihn von der Arbeit ab. Selbst seine Muttersprache, Tamilisch, so behauptete er, habe er verlernt.

Lieber erinnerte er sich an seine Studentenzeit in London. An den köstlichen britischen Humor der Kommilitonen, an die langen Abende im Labor der Ingenieursfakultät, an die Beethoven-Konzerte in der Royal Albert Hall, die mit dem, was man heutzutage auf dem europäischen Festland zu hören bekam, nicht zu vergleichen waren. Oder er sprach mit Wehmut von Ernst, seinem leider allzu früh verschiedenen Schweizer Freund, diesem, wie er es nannte, hochkultivierten Unternehmer, mit dem es sich so herrlich bei einem Glas Scotch über Gott, die Welt und die fehlenden Manieren der heutigen Jugend reden ließ.

«Kultiviert» war ohnehin ein wichtiges Wort im Vokabular des Vaters. Eine Art Gütezeichen für alles, was seinem gestrengen abendländischen Wertesystem genügte, vor dem sich Humboldt, Knigge und Queen Victoria gemeinsam verneigt hätten. Er war für Bach und gegen die Beatles, für Krawatten und gegen lange Haare, für Schach und gegen Fußball, für die Herald Tribune und gegen Privatfernsehen. Indien, so schien es mir damals, spielte in seinem Leben nahezu keine Rolle, und indisch an ihm dünkte mich höchstens seine dunkle Haut und die Vorliebe für infernalisch scharfe Currys.

Kein Wunder also, dass auch ich mich kaum für seine Heimat interessierte und von ihr etwa gleich viel Ahnung hatte wie ein Bewohner der Malediven vom Eiskunstlaufen oder ein Sextourist von der Literaturszene Bangkoks. Lange Zeit wusste ich nicht einmal, dass mein auf «Din» endender Familienname genauso unverkennbar auf eine muslimische Herkunft verwies wie bei dem legendären Feldherrn Saladin (Salah ad-Din) oder dem Wunderlampen-Jungen Aladin aus 1001 Nacht. Entsprechend unverständlich war mir das Interesse weltoffener Mitbürger in Gestalt von Lehrern, Schulzahnärzten und Nachbarn an meinen «exotischen Wurzeln». Wurzeln! Sehe ich aus wie ein Mangobaum?

Nach dem Tod des Vaters begannen sich die Dinge zu ändern. Allmählich nur und ohne dass ich mir dessen zunächst bewusst war. Den Anfang machte das Wiedersehen mit Joseph am Begräbnis. Seine Anwesenheit war für mich irgendwie tröstlich, und ich spürte eine unerklärliche Verbundenheit mit ihm. Obwohl uns in Wahrheit außer ein paar gemeinsamen Sonntagsessen bei meinen Eltern wenig verband. Und obwohl sich mein Vater und er in fast allem unterschieden: Heimatstaat, Muttersprache, Religion; kontaktfreudig und aufbrausend der eine, still und fromm der andere. Nur Inder waren sie beide.

Das neue Jahr brach an, und ich begann wieder zu arbeiten. Die Abende verbrachte ich oft bei meiner Mutter, von der ich manchmal den Eindruck hatte, der Verlust ihres Gatten, mit dem sie vierzig Jahre verheiratet gewesen war, mache ihr mehr zu schaffen als die Krebsdiagnose, die man ihr kürzlich gestellt hatte. Im Stapel der Beileidsschreiben auf ihrem Küchentisch fand ich eine sperrige Karte. Sie zeigte ein kitschiges Blumenarrangement und war mit pompösen Lettern verziert. Den Text konnte ich nicht lesen, Tamilisch vermutlich. Aus den beiden in lateinischen Buchstaben hinzugefügten Namen schloss ich, dass es sich um eine Hochzeitsannonce handelte. Ein Mohammed aus Srivaikuntam würde wohl demnächst eine Afrah aus der Ortschaft Tirunelveli heiraten. «Müssten wir nicht Papas Verwandte benachrichtigen?», fragte ich meine Mutter.

Sie ging in sein Arbeitszimmer, wohl zum ersten Mal seit seinem Tod, und holte einen dicken Ordner, in dem lauter Luftpostbriefe abgelegt waren. Je älter mein Vater wurde, desto mehr Papier archivierte er – Zeitungsausschnitte, Faltprospekte, Gebrauchsanleitungen, Merkblätter, handschriftliche Notizen, die gesammelten Taschenkalender 1987  2001. Dass er auch die Briefe aus Indien säuberlich aufbewahrte, überraschte mich allerdings. Und wie viele es waren! Fast zuoberst fand ich einen Brief von Mister Yusuf, dem Vertrauten meines Vaters. Darin...

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