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Das Scheitern Mitteleuropas

1918-1939

AutorWalter Rauscher
VerlagVerlag Kremayr & Scheriau
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783218010535
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Walter Rauscher, der sich mit Biografien über Karl Renner und Reichspräsident Hindenburg sowie mit der Doppelbiografie 'Hitler und Mussolini' als Sachbuchautor einen Namen machte, zeigt in seinem neuen Buch auf, wie der Frieden in Europa in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf dramatische Weise scheiterte. Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, erbitterte Streitigkeiten um territoriale Grenzen bestimmten zwei Jahrzehnte lang das politische Geschehen. Nationale Egoismen und ein wachsender Antisemitismus vergifteten das gesellschaftliche Klima. Staatenbund- und Zollunionsprojekte, die eine Entspannung der politischen und wirtschaftlichen Lage bringen sollten, scheiterten. Damit wurde der Boden für den Siegeszug der faschistischen Diktaturen bereitet: Mussolini in Italien, autoritäre Regime in Ungarn, Jugoslawien, Polen, Rumänien und dem restlichen Osteuropa, Ständestaat in Österreich und schließlich das Dritte Reich. Als Hitler Österreich annektierte und die Tschechoslowakei zerschlug, sahen die westeuropäischen Mächte tatenlos zu. Die Folgen sind bekannt: Der Zweite Weltkrieg entbrannte und brachte millionenfachen Tod, Vernichtung, Vertreibung und verheerende Zerstörung.

Walter Rauscher ist Historiker und Spezialist für die europäische Ge­schichte des 19. und 20. Jahrhun­derts. Als Forscher, zunächst des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts und danach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, veröffentlichte er zahlreiche, teilweise auch in andere Sprachen übersetzte Bücher und gab gemeinsam mit anderen Historikern über zwei Jahrzehnte lang die Serie 'Außenpolitische Dokumente der Repu­blik Österreich 1918-1938' heraus.

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Leseprobe

I
1918: Das Ende der Alten Welt


Mitteleuropa war nie ein Staat oder gar ein Reich. Als Phantom, Mythos, Niemandsland, Hassgemeinschaft oder Nostalgie bezeichnet, ist es weder geografisch noch politisch oder kulturell eindeutig zu definieren. Welche Staaten oder Nationen Mitteleuropa zuzuschreiben sind, wird durch das Fehlen eindeutiger Abgrenzungskriterien und wegen zahlloser Überschneidungen stets strittig bleiben.1 Ist also Mitteleuropa bloß ein Synonym für eine Zusammenfassung der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Nachfolgestaaten der Doppelmonarchie? Gehört Deutschland dann nicht zu Mitteleuropa? Oder soll als Mitteleuropa all das bezeichnet werden, was einmal den Habsburgern gehörte und dem sie als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches oberster Souverän waren? Schließt Mitteleuropa daher, abgesehen von den deutschen Ländern, auch Norditalien, Elsass-Lothringen und Luxemburg mit ein? Ist die Schweiz dagegen bloß geografisch, aber nicht politisch ein Teil dieses Raums?

Vor dem Hintergrund der Konkurrenz zwischen Berlin und Wien um die Lösung der deutschen Frage entstand um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Alternatividee Mittele­uropa. Anders als die rein deutschen Pläne umfasste sie, gleichsam von Hamburg bis Triest, Deutschland und die gesamte Habsburgermonar­chie. Der österreichische Ministerpräsident Fürst Schwarzenberg sprach dabei von einem „Reich der 70 Millionen“. Aber sowohl damals als auch in weiterer Folge ging es beim Begriff Mitteleuropa in letzter Konsequenz stets um die Vorherrschaft der Deutschen in diesem Raum. Im Ersten Weltkrieg erfuhr der Begriff Mitteleuropa zu guter Letzt durch alldeutsche Fantasien eines Staatenbunds unter der Führung Berlins eine surreal anmutende Ausdehnung vom Nordkap bis zum Persischen Golf.2

Die Habsburgermonarchie, jene „Experimentieranstalt für Weltuntergänge“, wie sie Karl Kraus einmal gewohnt spöttisch bezeichnete, lebte Mitteleuropa. Doch das Vielvölkerreich befand sich im Zeitalter des Nationalismus in der Dauerkrise. Sein eklatanter Reformstau forderte seit der Revolution von 1848 die politische Intelligenz heraus, sich mit der Nationalitätenfrage, einem zumeist föderalen und demokratischen Umbau der Donaumonarchie und damit auch mit der Gestaltung Mitteleuropas zu beschäftigen. Nicht alle diese Vordenker, ob sie nun aus der Sozialdemokratie stammten oder dem Kreis um Thronfolger Franz Ferdinand angehörten, blieben machtlose Intellektuelle, Ex-Politiker oder Emigranten. Zwei von ihnen wurden sogar zu Staatsgründern: Tomáš Garrigue Masaryk und Karl Renner. Aber auch andere spielten nach dem Zerfall der Doppelmonarchie in der Zwischenkriegszeit eine wichtige politische Rolle, wie etwa Otto Bauer oder Milan Hodža. Ganz ohne Sarkasmus nannte der Begründer der österreichischen Sozialdemokratie, Viktor Adler, die Habsburgermonarchie eben auch eine „Experimentierkammer der Weltgeschichte“.3

Der Zusammenbruch


Historisch unbestreitbar umfasste Mitteleuropa bis zum November 1918 zwei Kaiserreiche: das deutsche der Hohenzollern und das multiethnische der Habsburger. Beide Monarchien überlebten die Niederlage im Ersten Weltkrieg nicht. Während in Deutschland die Staats- und Regierungsform wechselte, zerfiel Österreich-Ungarn in die sogenannten Nachfolgestaaten. Für die vor allem durch die Sozialdemokratie repräsentierten fortschrittlichen Kräfte beider europäischer Großstaaten und die mittlerweile die nationale Selbstbestimmung fordernden Völker der Donaumonarchie bedeuteten die Revolutionen im Herbst 1918 den Aufbruch in eine neue, bessere Zeit, für die konservativen, monarchistischen und weitgehend unpolitischen Bevölkerungsteile hingegen das Ende der Alten Welt.

Das Habsburgerreich hatte, der Unterstützung Deutschlands gewiss, mit seinem Feldzug gegen Serbien im Sommer 1914 den Ersten Weltkrieg entfesselt. Im Herbst 1918 stand zwar das k. u. k. Heer noch tief im „Feindesland“, aber die Überlegenheit der Gegner an allen Fronten machte die Niederlage der Mittelmächte unausweichlich. Nach den schweren Verlusten in den Schlachten gegen Russland, Serbien und Italien hatten sowohl die Armee als auch die Heimat besonders im letzten Kriegsjahr als Folge der alliierten Blockade unter Hunger und größten Versorgungsproblemen zu leiden. Zu allem Übel kam noch die Spanische Grippe hinzu, die weltweit Millionen Opfer forderte. Österreich-Ungarn hatte seit Jahrzehnten mit dem Konflikt seiner Nationalitäten leben gelernt; nicht einmal jene Völker, die sich unterdrückt fühlten, erwogen in Friedenszeiten, der Donaumonarchie die Treue aufzukündigen. Im Krieg bewährten sich alle Nationalitäten im Verband der bewaffneten Macht – trotz der verfehlten Planungen des Generalstabs. Desertionen blieben fast bis zum Ende der Kampfhandlungen die Ausnahme.4

Im Oktober 1918 war jedoch der Sieg der mittlerweile aus den USA, Großbritannien, Frankreich und Italien bestehenden Entente nicht mehr abzuwenden. Die Nationalstaatsidee verdrängte das Zugehörigkeitsgefühl gegenüber der Monarchie. Das jahrhundertealte Habsburgerreich löste sich auf, die Soldaten gingen heim, die Völker verließen die Donaumonarchie. Kaiser Karl unternahm einen letzten Versuch, seine Herrschaft zu retten. In einem Manifest vom 16. Oktober forderte er die Völker Österreichs – aber nicht jene Ungarns – auf, sich an einer föderalen Umgestaltung zu beteiligen.5 Doch eine Union unter habsburgischer Führung hatte keine Zukunft mehr. Die Monarchie hatte sich aufgrund vieler Sünden der Vergangenheit überlebt, das alte System seine Autorität verloren.6 Binnen weniger Tage gründeten die Nationalitäten ihre eigenen Staaten – ohne auf nennenswerten Widerstand der macht- und ratlosen habsburgischen Staatsmacht zu stoßen.7

Die Gründung der Tschechoslowakei


Die Tschechen, die drittgrößte Nationalität der Donaumonarchie, hatten zwar seit Jahrzehnten ihre benachteiligte Stellung innerhalb der Doppelmonarchie heftig beklagt, trotz aller Kritik und Opposition aber nicht an einen eigenen, völlig unabhängigen Staat gedacht. Wirtschaftlich und im Hinblick auf die Bildung der Bevölkerung auf hohem Niveau forderten sie als gesellschaftlich voll entwickelte Nation die Verwirklichung des historischen Böhmischen Staatsrechts und befanden sich dadurch mit den Deutschen in den Ländern der Wenzelskrone in Konflikt, die für autonome Kreise und die Beibehaltung des habsburgischen Zentralismus eintraten.8 Nach Ausbruch des Krieges ging ein Teil der prononciert antihabsburgischen Politiker ins Exil, allen voran der Philosophieprofessor und Reichsratsabgeordnete Tomáš G. Masaryk und sein engster Mitarbeiter, der Soziologe Edvard Beneš. Im Ausland trieben sie sodann mit verschiedenen slowakischen Persönlichkeiten vehement das Projekt eines eigenen Staates voran, obwohl sie innerhalb der Bevölkerung bislang noch auf keine größere Anhängerschaft verweisen konnten. Ihr propagandistisches Wirken sowie die Bildung der aus Deserteuren und Kriegsgefangenen gebildeten „Tschechoslowakischen Legion“ trugen maßgeblich dazu bei, dass die Alliierten die Tschechen als kriegführenden Partner akzeptierten. Noch am Tag vor der Veröffentlichung von Kaiser Karls Völkermanifest hatte Frankreich eine provisorische tschechoslowakische Regierung anerkannt und ihr Unterstützung bei der Staatenbildung zugesagt. Masaryk wiederum veröffentlichte als Antwort auf Karls Manifest drei Tage später eine Erklärung der formellen Unabhängigkeit der tschechoslowakischen Nation.9

Die tschechischen Aktivitäten im westlichen Exil fanden ihr Pendant schließlich auch in der Heimat, in dem im Sommer 1918 von allen tschechischen Parteien gegründeten Nationalausschuss, dem auch einige Slowaken angehörten. Am 21. Oktober machte dieser deutlich, „dass es für uns keine andere Lösung der böhmischen Frage gibt, als die absolut staatliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit des tschecho-slowakischen Vaterlandes.“10 Das Ersuchen des Ballhausplatzes gegenüber US-Präsident Woodrow Wilson um Verhandlungen für einen Waffenstillstand und um einen Sonderfrieden wirkte auf die Tschechen endlich wie ein Fanal. Bereits im Besitz der böhmischen Verwaltung, proklamierte der Nationalausschuss schon tags darauf, am 28. Oktober, den selbständigen tschechoslowakischen Staat. An das Volk sandte er die Botschaft: „Dein uralter Traum ist Wirklichkeit geworden. Der tschechoslowakische Staat trat am heutigen Tage in die Reihe der selbständigen Kulturstaaten der Welt.“11

Die Tschechen feierten ihre Staatsgründung und trachteten danach, so rasch als möglich alles Habsburgische abzuschütteln. Ihr Parlament, die „Revolutionäre Nationalversammlung“, verkündete am 14. November die Republik und wählte unter „nicht enden wollenden Ovationen“ Masaryk zum Staatspräsidenten.12 Der lange Zeit prominenteste tschechische Oppositionelle, der begnadigte „Hochverräter“ Karel Kramář, bildete eine Regierung – mit Beneš als Außen-, den beiden „Männern des 28. Oktober“, Alois Rašín als Finanz- und Antonín Švehla als Innen-, sowie mit der slowakischen Leitfigur, dem Militär Milan Rastislav Štefánik, als Kriegsminister.

Prag verschrieb sich einer Grenzziehung, die auf historischen, strategischen und verkehrspolitischen Motiven beruhte. Die Tschechen betrachteten daher auch die deutschbesiedelten Gebiete als unverzichtbare Teile des neuen Staates. Im Zuge der Ausrufung der Republik erklärte Ministerpräsident Kramář, „dass das deutsche Volk innerhalb der Grenzen unseres Staates nicht den geringsten Grund hat, für seine nationale...

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