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Der Preis des Wandels

Geschichte des europäischen Ostens seit 1989

AutorReinhold Vetter
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783451815355
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
1989/90 ging von den Gesellschaften östlich des Eisernen Vorhangs ein großer Freiheitsimpuls aus. Doch der brachte dort den Verlust von Arbeitsplätzen, sozialer Sicherheit und politischen Gewissheiten. Die jüngste Geschichte Ostmitteleuropas ist voller Brüche, Neuanfänge und Umwälzungen. Viele Staaten haben eine atemberaubende Entwicklung hinter sich. Aus ihr erklären sich auch viele der Phänomene, die uns mit Blick auf Ungarn, Polen u. a. beschäftigen. Reinhold Vetter fasst seine profunden Kenntnisse dieser Region zu einer Zeitgeschichte insbesondere der östlichen EU-Staaten zusammen.

Reinhold Vetter, geboren 1946, Studium von Journalistik und Politikwissenschaft, jahrzehntelang als Korrespondent für ARD und dann Handelsblatt in Warschau und Budapest; lebt und arbeitet derzeit als freier Publizist in Warschau und Brüssel; zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte und Gegenwart der ostmitteleuropäischen Staaten, insbesondere Polen und Ungarn.

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Leseprobe

Einleitung – Das epochale Jahr 1989

6. Februar: In Warschau treffen sich Abgesandte der kommunistischen Macht und führende Köpfe der demokratischen Opposition zum ersten Mal zu den berühmten Beratungen am Runden Tisch. In den folgenden zwei Monaten einigen sie sich auf tief greifende Reformen, die Polen den Weg in eine demokratisch-parlamentarische und marktwirtschaftliche Zukunft eröffnen. Nach der Parlamentswahl im Juni desselben Jahres wird die erste nachkommunistische Regierung gebildet.

19. August: In der Nähe der österreichischen Grenze findet auf ungarischem Boden ein paneuropäisches Picknick statt. Mit Genehmigung der Behörden wird der Eiserne Vorhang für einige Stunden geöffnet. Einige Hundert DDR-Bürger nutzen dies zur Flucht in den Westen. Schon seit mehreren Monaten treffen sich auch in Ungarn Vertreter der kommunistischen Staatspartei MSZMP und der Opposition an einem Runden Tisch. Ihre Beratungen münden in eine Modifizierung der Verfassung, wodurch allgemeine, gleiche und geheime Wahlen ermöglicht werden. Nach der Parlamentswahl im März und April 1990 entsteht die erste nachkommunistische Regierung unter Führung des Konservativen József Antall als Ministerpräsident.

23. August: Am 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Stalin-Hitler-Pakts bilden mehr als eine Million Menschen eine 600 Kilometer lange Kette, die von Vilnius bis Tallinn reicht. Die Demonstration ist der bis dahin spektakulärste Protest gegen die völkerrechtswidrige Annexion der drei baltischen Republiken durch die Sowjetunion. Litauen und Lettland erklären 1990 ihre Unabhängigkeit, Estland folgt 1991.

9. November: Nach 28 Jahren fällt die Berliner Mauer, Symbol der Trennung Deutschlands, aber auch des geteilten Europas. In der Folge strömen Millionen von DDR-Bürgern nach Westberlin und in die Bundesrepublik. Von der Maueröffnung bis zum Vollzug der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 vergehen ganze elf Monate.

25. Dezember: Der rumänische Diktator Nicolae Ceauşescu und seine Frau Elena werden von einem Militärgericht zum Tode verurteilt und gleich danach erschossen.

29. Dezember: In Prag wählt die Nationalversammlung den Schriftsteller und Bürgerrechtler Václav Havel zum Nachfolger des zurückgetretenen kommunistischen Staatspräsidenten Gustáv Husák. In der Tschechoslowakei war die kommunistische Staatspartei KPČ unter dem Druck anhaltender Massendemonstrationen und Streiks im November/Dezember zusammengebrochen und hatte in der am 10. Dezember gebildeten neuen Regierung keine Mehrheit mehr.

Sechs Daten, sechs Ereignisse, die die historische Zäsur des Jahres 1989 verdeutlichen. Sie leiten den Zusammenbruch der kommunistischen Staatenwelt in Ostmittel- und Südosteuropa ein und lassen erkennen, dass eine Rückkehr zum Alten kaum mehr möglich sein würde. Selbstverständlich hatten auch diese Ereignisse wie alles eine Vorgeschichte, doch der Zerfall der kommunistischen Machtsphäre erfolgte so überraschend, so vollständig, so friedlich und so rasant, dass der englische Historiker Timothy Garton Ash damals vom »Jahr der Wunder« sprach.

Die Ereignisse des Jahres 1989 und die folgende Entwicklung im östlichen Europa setzten bei den Menschen dort gewaltige Hoffnungen und Erwartungen frei. Nun, so war man sich einig, sollten Freiheit und Demokratie die kommunistische Diktatur ablösen, würde man bald in einer parlamentarischen Republik mit Gewaltenteilung und einem für alle verbindlichen Rechtsstaat leben. Die Hoffnungen richteten sich auch auf eine liberale Marktwirtschaft bzw. ein ökonomisches System mit gemischten Eigentumsformen statt der sozialistischen Kommandowirtschaft. Der Wunsch nach Wohlstand und einer Warenwelt wie im Westen war gewaltig. Man wollte wieder eine freie Presse lesen, statt sich durch zensierte Parteizeitungen langweilen zu lassen, und auch alle jene Länder in Europa und auf der ganzen Welt in Augenschein nehmen, derer Besuch vorher verwehrt war. Die Menschen sehnten sich nach einem allseits beachteten Frieden, der das jahrzehntelang herrschende System des Kalten Krieges ablösen würde, das echten Fortschritt behindert hatte. Kurzum: 1989 blühte der Traum auf von einem freiheitlichen, grenzenlosen, völkerverbindenden Europa. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler und Politikberater Francis Fukuyama verstieg sich gar euphorisch dazu, das »Ende der Geschichte« zu verkünden, was allerdings schon damals eine unrealistische Annahme war.1

Eigentlich sollte 2019 im östlichen Europa (und nicht nur dort) ein Jahr der großen Feiern werden: 30 Jahre Überwindung der kommunistischen Regime in Europa, 20 Jahre Nato-Osterweiterung, 15 Jahre große Osterweiterung der Europäischen Union. Doch für Feierlichkeiten gab und gibt es relativ wenig Anlass. Die Euphorie ist längst verflogen, Ernüchterung und Enttäuschung haben sich breitgemacht. Politikverdrossenheit ist vielfach an die Stelle des politischen Gestaltungswillens getreten, Nationalismus blüht in Ost und auch in West, neue Grenzzäune werden in Europa errichtet, alte Grenzkontrollen wiederbelebt, die soziale Ungleichheit ist keineswegs verschwunden; der kapitalistische und liberale Westen ist für viele Menschen in Ostmittel- und Südosteuropa nicht mehr besonders attraktiv, die Europäische Union noch weniger.

Dabei sind die negativen Entwicklungen vor allem in Polen, Ungarn und Rumänien, wo autoritäre Systeme wachsen, die Justiz politisch instrumentalisiert sowie der Kultur und der Geschichtsbetrachtung eine nationalistische Zwangsjacke verpasst wird, nur ein Element der Krise, in die Europa und speziell die Europäische Union geraten sind. Besonders 2018 erwies sich als Jahr zunehmender Unordnung auf dem Kontinent. Die zentrifugalen Kräfte waren überall spürbar, auch wenn es dem Europäischen Rat in Ausnahmefällen gelang, einstimmig Beschlüsse zu fassen. Rechte und linke, populistische wie nationalistische EU-Gegner betrieben im Inneren der Gemeinschaft deren Zerstörung, und nach außen hin hatte es die EU mit einem erratischen Präsidenten in Washington und einem dementsprechend orientierungslosen Amerika zu tun. Das zentralistische China erschien zunehmend selbstbewusster auf der internationalen Bühne, ein im Inneren reformunfähiges Russland betätigte sich international als Unruhestifter. Europa droht zum Schauplatz eines neuen atomaren Wettrüstens zu werden, nachdem die USA und Russland erklärten, sich nicht mehr an den INF-Abrüstungsvertrag gebunden zu fühlen. Mit Großbritannien trat erstmals ein Land den Rückzug aus der EU an. Der Wille zu einem stärker integrierten Europa war nur noch in einigen Ländern zu spüren, in den übrigen dominierte eine pragmatische oder gar nationalistisch-destruktive Haltung zur EU.

Besonders gefährlich dabei war und ist, dass die Erosion der Rechtsstaatlichkeit und die Geringschätzung der Menschenrechte zunehmen. Die vielfach beschworenen Werte der Europäischen Union erweisen sich mehr und mehr als Fiktion, auch wenn sich die europäischen juristischen Instanzen dem entgegenstemmen und dabei in einzelnen Fällen sogar Erfolg haben.

Die negativen Phänomene in den östlichen und südöstlichen Mitgliedstaaten haben natürlich Einfluss auf den Westen der EU und die gesamte Gemeinschaft. So war Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán zunehmend bemüht, sich als gesamteuropäischer Vorkämpfer gegen jedwede Migration sowie für antiliberale Staatsformen zu profilieren und von bestimmten Parteien in der EU auch als solcher feiern zu lassen. Neue Bündnisse deuteten sich an. Die österreichische FPÖ und die italienische Lega kündigten eine Kooperation im europäischen Wahlkampf an. AfD-Chef Meuthen sprach von einer möglichen gemeinsamen Fraktion der AfD, Lega und anderer gleichgesinnter Parteien im künftigen Europäischen Parlament. Seine Partei votierte sogar für den italienischen Innenminister der Lega, Matteo Salvini, als künftigen Präsidenten der EU-Kommission. Dieser wiederum reiste nach Polen, um sich mit Jarosław Kaczyński abzusprechen. Die Aggressivität in der politischen Auseinandersetzung in ganz Europa nahm zu.

Was ist in den vergangenen drei Jahrzehnten im östlichen Europa geschehen, dass es zu solch einer Abkühlung der einstigen Ideale und zu einer Distanzierung vom Traum Europa gekommen ist?

Die Motive und Gründe sind vielfältig in den einzelnen östlichen Staaten und Gesellschaften, wenngleich es auch Gemeinsamkeiten gibt. Um ihnen nachzuspüren, sollen in diesem Buch die Transformations- und nachfolgenden Reformprozesse in den Ländern Ostmittel- und Südosteuropas nachgezeichnet und untersucht werden, die ehemals kommunistisch regiert heute in die europäische Staatengemeinschaft der EU integriert sind: Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie die ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien und Kroatien. Die Transformationsprozesse in den ostdeutschen Bundesländern (dem Gebiet der einstigen DDR) werden nicht eigens untersucht, weil sie sich innerhalb eines anderen Staates vollzogen; gleichwohl werden sie später zum Vergleich herangezogen. Doch zunächst gilt es, die nach 1989 neu entstandenen Rahmenbedingungen zu beleuchten, die für die jeweiligen Transformationsprozesse von großer Bedeutung waren.

1 Zu den Ereignissen des Jahres 1989 siehe insbesondere H.A. Winkler, Vom Kalten Krieg zum Mauerfall, München 2014; U. Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014; I.-S., Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR,...

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