Bevor Dokumentarfilme in Bezug auf ihre Dramaturgie und Narrativität in den Fokus genommen werden können, sollten grundlegende Begriffe geklärt werden, um den Aufbau und die Wirkung von dramaturgisch ausgestalteten Filmen zu verstehen. Insbesondere der populäre Spielfilm bedient sich spezifischen Regelwerken, um gute Geschichten auf die Leinwand zu bringen. Dieses Grundmuster einer dramatischen Struktur wird in angeblich allen guten Drehbüchern angewandt bzw. findet sich in nahezu jedem Drehbuchratgeber. Aufgrund dieser Bewährtheit und dem offensichtlichen Erfolg werden im Folgenden die einzelnen Dramaturgie-Elemente näher beschrieben, bevor sie im weiteren Verlauf der Arbeit hinsichtlich der möglichen Umsetzung im Dokumentarfilm diskutiert werden.
Da der Hauptkern dieser Arbeit auf die Zusammenarbeit zwischen Regie und Protagonisten gelegt wird, soll im vorliegenden Kapitel insbesondere auf die dramaturgische Funktion und Wirkung des Protagonisten bzw. „Helden" hingearbeitet werden.
Alle Erzählungen haben die Gemeinsamkeit, dass sie Geschichten erzählen. Die Narration umfasst hierbei die Gesamtheit der Erzählung, indem sie neben der Entwicklung, Anordnung und Darstellung der einzelnen erzählerischen Elemente auch auf der Filmebene die Kameraführung und die Montage mit einbezieht.[26]
Eine Erzählung definiert sich durch ihren „Anfang, das Ende und die dazwischen liegende Durchführung eines Vorganges"[27]. Hierbei wird die Abfolge der Handlungen in der Art dargestellt, dass am Ende der Erzählung ein anderer Zustand vorherrscht, als es noch zu Beginn der Geschichte der Fall war. Somit durchleben Objekte, Personen, Geschehnisse eine Veränderung bzw. Transformation, die sogenannte „konstitutive narrative Operation".[28] DieTransformation muss mindestens ein Merkmal enthalten, welches in der Ausgangssituation noch nicht vorhanden war (Minimalstruktur).[29]
Die Erzählung definiert sich über eine bestimmte zeitliche Spanne und räumliche Ausdehnung.
Die Träger der Handlung sind „menschliche oder anthropomorphisierte Subjekte."[30]
Die Erzählung muss komische, schreckliche, andersartige oder gefährliche Informationen enthalten, die unerwartet sind. „Handlungsabläufe, die Erwartungen entsprechen, schaffen keine Geschichte."[31]
Geschichten werden aus der Perspektive eines Erzählers erzählt. Dabei wird sie durch die Weltsicht, Wahrnehmung und Gefühlen gestaltet bzw. subjektiv geformt.[32]
Die Erzählungen sind nach einem Ursache-Wirkungs-Schema aufgebaut, indem Situationen, Akteure und Handlungen kausal miteinander zu einer Geschichte verknüpft sind.[33] „Eine Erzählung kann als Verkettung von Situationen, in der sich Ereignisse realisieren und in der Personen in spezifischen Umgebungen handeln, bezeichnet werden."[34] Somit sind die gezeigten Ereignisse nicht zufällig aneinandergereiht, sondern bedingen sich gegenseitig, sodass Ereignis B in Folge von Ereignis A passiert. Folgendes erfundenes Beispiel, das an den Dokumentarfilm heimsucht angelehnt wurde, veranschaulicht das Prinzip:
Ereignis A: Hossein und seine afghanische Familie haben ein gefährliches Leben. Durch den Krieg im Afghanistan sind sie in den Iran geflohen. Doch auf derSuche nach Sicherheit mussten sie auch dort kapitulieren: Die Iraner verhalten sich wie die bestimmende Macht in ihrem eigenen Land und machen den Afghanen das Leben schwer. Diebstähle auf offener Straße, gesonderte Preise für Afghanen und Ausgrenzung bei der Arbeitsplatzvergabe treiben Angst in Hosseins Familie und gefährden deren Existenz zunehmend.
Ereignis B: Der Vater von Hossein hilft einer anderen afghanischen Familie ihr Haus zu renovieren, um ein wenig Geld für die Familie zu erwirtschaften. Der Mann erzählt von seinem Sohn, der aus dem Iran gen Westen geflüchtet ist, um ein besseres Leben zu finden. Er erfragt den Kontakt zu dem Schlepper, der ihn den Weg in die neue Welt geebnet hat.
Ereignis B: Hosseins Familie legt ihr letztes Geld zusammen, um dem ältesten Sohn Hossein eine sichere Zukunft zu ermöglichen. Auch erhoffen sie sich, dass Hossein der Familie bald finanziell helfen kann. Hossein beginnt die Flucht mithilfe des Schleppers. Sein Ziel ist Deutschland.
Ereignis C ist eine Folge der vorangegangenen Ereignisse und löst das Problem, welches in Ereignis A dargestellt wurde. Wir können Zusammenhänge zwischen den einzelnen Ereignissen herstellen und sie zeitlich und kausal einordnen.
Jedoch müssen die Ereignisse innerhalb des Films nicht zwangsläufig linear erzählt werden. Lediglich die Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung müssen am Ende des Films verstanden werden, um die Gesamtheit der Geschichte zu verstehen. Hierfür muss eine Abfolge von Handlungen beschrieben werden, die die zugrunde liegende Story erkennen lässt.[35]
Die Handlung in der Abfolge, wie sie ein Zuschauer in einem Film sieht, kann linear oder nichtlinear angeordnet sein, auch eine Mischung ist möglich. Diese Präsentation und Auswahl nennt man Handlung, Sujet oder Plot.
Erst am Ende der Filmhandlung kann der Zuschauer verstehen, wie das Erzählte zeitlich und kausal zusammenhängt, nun erst erschließt sich ihm die Gesamtheit der Geschichte, die sich durch die Abfolge der Filmhandlung allmählich enträtseln lässt. Diese gesamte Geschichte nennt man auch Fabula oder Story."[36]
Wenn demnach die Story sprachlich wiedergegeben wird, so erhält man eine kausalchronologische Nacherzählung der Geschichte vom Anfang bis zum Ende. Beim Plot erhält man indessen ein Protokoll der Sequenzen, wie sie im Film hintereinander angeordnet wurden.[37]
Dieses Wissen von der Unterscheidung Plot und Story lässt sich nutzen, um viele Variationen einer Geschichte zu entwickeln. Je nachdem, wie eine Geschichte gestaltet ist, lassen sich verschiedene Wirkungen erzielen, wie Angst, Überraschung oder Spannung.[38]
Zum Beispiel kann das oben dargestellte Ereignis C im Plot am Anfang des Films erzählt werden, da der Plot die einzelnen Elemente nicht nach dem Ursache-Wirkungs-Prinzip darstellen muss.[39] Dramatische und angstbeladene Einstellungen würden Hossein auf seiner Flucht über Berge und auf dem Wasser zeigen. Vor ihm befinden sich nur andere Männer mit schmutzigen Gesichtern und halb gefüllten Rucksäcken. Die starken Bilder rufen Emotionen wie Ungewissheit, Angst und Unsicherheit hervor. Die Szene wird noch nicht verstanden, ruft aber durch die aktionsbeladenen Einstellungen Spannung hervor und bietet dadurch einen stark wirkenden Einstieg in den Film. Es entsteht eine Welt voller Rätsel, da das Publikum keine Informationen über die Motive von Hossein hat und sich so Frage um Frage in den Raum stellt: Woher kommt Hossein? Warum hat er Angst? Wohin flüchtet er und vor wem? Um den Zuschauer nicht allzu lang im Ungewissen zu lassen, sollten bald danach die Ursachen der Flucht dargestellt werden (Ereignis A und B). In einem Flashback geraten wir in die Gedankenwelt von Hossein. Blass und lückenhaft werden die Probleme im Iran anhand einzelner Schlüsselmomente (z.B. Diebstahl von Geld) visualisiert. Auch das Gespräch mit seinem Vater über die Möglichkeit mit einem Schlepper nach Deutschland zu flüchten findet hier Platz. Die Ereignisse können im Plot also vertauscht werden, indem in einer Szene zunächst die Wirkung gezeigt werden kann, bevor in einer späteren Szene de Ursache präsentiert wird.[40]
Besonders eindrucksvoll meistern dieses Vorgehen Filme, wie Memento (2000), in dem die Ereignisse des Plots zeitlich rückwärts angeordnet sind - von der Gegenwart bis in die Vergangenheit. Der Schluss der Erzählung, die letztendliche Wirkung, wird bei Memento an den Anfang des Films gestellt. Er stellt dar, wie die Hauptperson Leonard einen Mann erschießt und dann ein Foto von der Leiche macht.[41] Jedoch hat Leonard sein Kurzzeitgedächtnis verloren und versucht nun im Film die Ursachen aufzuspüren.
Der Film verfolgt zwei Erzählstränge: Zum einen wird die eigentliche Geschichte des Films erzählt. Damit der Zuschauer, wie der Protagonist Leonard Shelby, das Gefühl sich nicht zu erinnern, selbst erfahren kann, laufen die farbigen Szenen chronologisch rückwärts ab. Man befindet sich damit permanent in einer Handlung, ohne deren Vorgeschichte zu kennen, wodurch es erschwert wird, das Gesehene zu ordnen und in Bezug zu setzen. Zum anderen werden Geschehnisse unmittelbar vor dieser Handlung gezeigt. Die dazugehörigen Szenen sind schwarzweiß, laufen chronologisch vorwärts und über den ganzen Film verteilt.[42]
Wie ein Plot geordnet wird, hängt von der Dramaturgie des Films ab. Die Dramaturgie entscheidet, in welcher Reihenfolge die Ereignisse im Plot dargestellt werden und zu welchem Zeitpunkt die Handlung sich entscheidend wendet durch die so genannten „Plotpoints", die die Protagonisten in ihrer weiteren Handlung beeinflussen.[43]
Das obige Beispiel zeigt, dass es die Aufgabe bei der Gestaltung eines...