Die Ausführungen in Kapitel 2 machen deutlich: Industrie kann nicht als ein klar abgrenzbarer Gegenstand gesehen werden. Vielmehr ist Industrie verankert in einem komplexen Gefüge der Sprache, dem sich die Wissenschaft durch die Diskursforschung zu nähern versucht. Angenommen wird, dass sich Wirklichkeiten[3], auch jene über Industrie, über Sprache konstituieren. Sprache besitzt somit einen performativen Charakter; kann durch ihren Gebrauch Wirklichkeiten erzeugen (Keller et al. 2010: 11). Obgleich Sprache einen performativen Charakter besitzt, darf nicht angenommen werden, dass jede Äußerung eine konstruierende Wirkung entfaltet. Zunächst sind Äußerungen als einmaliges Aussageereignis zu verstehen (Keller 2011: 68), das von einem Individuum ausgeht. Erst das Teilen und Verbreiten von Darstellungen, die dem Begriff ‚Industrie‘ zugeordnet werden können, schaffen Wirklichkeiten durch überindividuell anerkannte und somit gültige, wahre Aussagen. Es ist nicht Ziel der Diskursforschung „extrahieren zu wollen, wie Individuen quasi „aus sich selbst heraus“ je spezifische Zielvorstellungen und Rationalisierungen entwickeln, sondern wie die unterschiedlichen Darstellungen dieser sich zu Mustern zusammenfügen lassen“ (Füller und Marquardt 2009: 99). Demnach enthält erst das wiederholte Auftreten inhaltlich übereinstimmender Äußerung eine Aussage, die dem sprachlichen Gefüge über ‚Industrie‘ zugeordnet werden kann. Unterschiedliche Aussagen bzw. Darstellungen, die an den Begriff ‚Industrie‘ geknüpft sind, bilden so netzwerkartige, komplexe Muster.
Interessant für die Diskursforschung sind auf Grund der Betonung der Wichtigkeit von intersubjektiv geteiltem Wissen, welches sich in Aussagen wiederspiegelt, die „Häufigkeiten und Regelhaftigkeiten, mit der Aussagen erscheinen“ (Martschukat 2010: 74). Das Entstehen von Aussagen impliziert, dass sie nicht konstant sind. Wären sie konstant, wäre ein Erscheinen und Vergehen von Darstellungen nicht möglich, d. h. sie wären durchgehend vorhanden, was ein Untersuchen von Regelhaftigkeiten nichtig machen würde. Diese nicht starre Konsistenz von Diskursen begründet unter anderem, weshalb das Begriffsgefüge um Industrie nicht eindeutig erkannt und zeitlos definiert werden kann. Dieses Phänomen weist auf einen wichtigen diskurstheoretischen Ansatz hin: Aussagenmuster haben keine fixe, sondern eine bewegliche, veränderbare Struktur. Sie sind kontingent und temporär (Nonhoff 2006: 34, Glasze und Mattissek 2009). Sie sind veränderbar, unterliegen als Muster jedoch einer Genealogie. Sie entstammen einstmaligen Aussagen, und an sie schließen sich sinnhafte weitere Aussagen an. Welche Begriffszuschreibungen zur Industrie sich herausbilden, ist Ergebnis vielseitiger, evolutionärer Machteinflüsse, die die verschiedenen Elemente eines Gefüges konstruieren, stabilisieren, hegemonial oder marginal werden lassen. Auch können die Begriffszuschreibungen zur Industrie je nach gesellschaftlichem, historischem und kulturellem Kontext unterschiedlich ausfallen, was der sozialen Entstehung geschuldet ist. Industrie offenbart sich nach dieser Theorie als ein kontingentes Macht-Aussagen-Gefüge.
In der Diskursforschung ist die soziale Konstruktionsleistung eines Begriffs der Industrie, der durch Machteinflüsse beeinflusst wird, jedoch mehr, als eben jener obgleich komplexe Begriff. Die sprachliche Erzeugung von etwas, was Industrie ist, bedeutet, dass gesellschaftliche Wahrheiten und Wirklichkeiten konzeptionalisiert werden, d. h. ‚Fakten‘ an denen sich menschliches Handeln orientiert. Verweissysteme, Kategorien, Bewertungen, aber auch Objekte[4], die der ‚Industrie‘ zugeordnet werden, stellen so einen Teil einer sozialen Welt her (Glasze und Mattissek 2009: 30f).
Überindividuelle Aussagesysteme entwickeln auf Grund eines bestimmten als wirklich befundenen Wissens explizite und implizite Handlungsorientierungen in Form von Normen, Verboten, Beschränkungen, Alltagspraktiken und materielle Arrangements (Glasze und Mattissek 2009: 20), die wiederum bestimmte Aussagen eines Gefüges festigen können.
Entsprechend interessiert sich die Diskursforschung für den „tatsächlichen Gebrauch von (geschriebener oder gesprochener) Sprache[5] und anderen Symbolformen in gesellschaftlichen Praktiken“ (Keller 2011: 9), für die hieraus resultierende (Re-)Produktion des sprachlichen Gefüges, die Machtkonstellationen, die sich auf das gesamte sprachliche System auswirken und vor allem für die Auswirkungen auf die sozialen Akteure und die Beeinflussung des menschlichen Verhaltens, die aus sozial konstruierten, nie konstanten Wirklichkeiten entstehen (Füller und Marquardt 2009: 84).
Durch die theoretische Annahme, dass Wahrheiten und soziale Wirklichkeiten kontingent sind, ergibt sich ein Verständnis darüber, dass diese dadurch auch variabel sind. Hier zeigen sich das verbindende Ziel der unterschiedlichen Ansätze in der Diskursforschung: „Auf der Basis diskurstheoretischer Ansätze kann soziale Wirklichkeit als kontingent, d. h. prinzipiell veränderbar, konzeptionalisiert werden. Damit können scheinbar gegebene und als „normal“ akzeptierte Strukturierungsprinzipien der Gesellschaft problematisiert und Handlungsspielräume in scheinbar eindeutigen Situationen aufgezeichnet werden. […] [Demgemäß kann] auch die Veränderbarkeit bestimmter Verhältnisse gezeigt werden und damit entscheidende Grundlagen für deren Veränderung geliefert werden“ (Glasze und Mattissek 2009. 43f). Wie die soziale Welt konstruiert wird und wie Einfluss auf sie genommen werden kann bzw. in wie weit bereits auf sie eingewirkt wird (durch Macht bzw. Mächte), ist durch divergierende theoretischen Ansatz und Forschungsschwerpunkte nicht einheitlich geklärt. Die Vielzahl der theoretischen Ansätze[6] kann im Rahmen dieser Arbeit nicht ausgeführt werden und beschränkt sich daher auf die in Kapitel 4 ausgewählte Theorie. Für einen näheren Einblick in die theoretischen Ansätze der Diskursforschung sind die Handbücher der Sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse (Keller et al. 2010, Keller et al. 2001) zu empfehlen.
Dem Forschenden offenbart die Diskursforschung ein weites, uneinheitliches theoretisches Feld, das sich durch unterschiedlichste theoretische Ansätze auszeichnet, die untereinander Verschränkungen aufweisen und sich teilweise stark divergierenden Forschungsfragen widmen. Methoden, die den einzelnen Theorien zugeordnet werden können, müssen durch den Forschenden selbst aufgetan werden, denn es gibt keine einheitliche Vorstellung über das methodische Vorgehen innerhalb der Diskursforschung. Somit ist klar das auch in dieser Forschungsarbeit zwischen Diskurstheorie und Diskursanalyse zu unterscheiden ist, obgleich sich beide wechselseitig stützen: „Während Diskurstheorien allgemeine theoretische Grundlagenperspektiven auf die sprachförmige Konstituiertheit der Sinnhaftigkeit von Welt entwickeln, konzentrieren sich Diskursanalysen auf die empirische Untersuchung von Diskursen. Mit dem Begriff der Diskursanalyse wird allerdings keine spezifische Methode, sondern eher eine Forschungsperspektive auf besondere, eben als Diskurse begriffene Forschungsgegenstände bezeichnet“ (Keller 2011: 8f).
Die speziellen theoretischen Überlegungen sind somit Ausgangspunkt für eine bestimmte Forschungsperspektive, wodurch es möglich ist zur Perspektive passende Methoden auszuwählen oder zu entwickeln. Demnach erscheint es sinnvoll erst nach einer theoretischen Einbettung des zu untersuchenden Gefechtes der Industrie eine erneute thematische Eingrenzung des Themas vorzunehmen und tiefergehende Fragestellungen[7] zu entwickeln, die gemäß der Theorie sinnhaft beantwortet werden können.
Aus den hier aufgezeigten allgemein gültigen Ansätzen der Diskursforschung lassen sich jedoch bereits einige Herangehensweisen an das komplexe Gefüge der Industrie ausschließen, die anderen Disziplinen zuzuordnen sind und eine Abgrenzung zur Diskursforschung aufzeigen. Diskursforscher konzentrieren sich in ihren Arbeiten (vor allem aus pragmatischen Gründen) zwar vor allem auf das geschriebene Wort bzw. das schriftlich festgehaltene gesprochene Wort (Protokolle, Transkriptionen, Medienberichte usw.), legen ihren Fokus hier allerdings anders als die Textlinguistik auf Text und Kontext des tatsächlich Geäußerten. Die Textlinguistik untersucht hingegen die sprachlichen Strukturen eines Textes ohne den Kontext außerhalb des Geschriebenen zu analysieren (Nonhoff 2006: 25). Die „sozialstrukturellen Formungen des Sprachgebrauchs“ (Keller 2011: 9) ist für die Diskursforschung nicht von Interesse.
Die Verbindung zwischen Text und Kontext lässt die Diskursforschung als eine hermeneutische Disziplin erscheinen. Zunächst soll die objektive Hermeneutik zur Diskursforschung abgegrenzt werden. Die objektive Hermeneutik betrachtet einen Text als ihr Untersuchungsobjekt. Es wird davon ausgegangen, dass ein Text eine Aussage transportiert und diese vollständig. Die Diskursforschung geht davon aus, dass einzelne Texte lediglich Fragmente des Untersuchungsgefüges transportieren. (Keller 2001: 136). Demnach ist es zur Untersuchung einer sozial konstruierten Wirklichkeit einen Begriff betreffend unumgänglich einen Untersuchungskorpus...