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Die Stunde der Welt

Fünf Dichter - ein Jahrhundert: George - Hofmannsthal - Rilke - Trakl - Benn

AutorFrank Schirrmacher
VerlagBlessing
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783641208141
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Frank Schirrmacher erkundet die Bedeutung von Georg Trakl, Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal, Stefan George und Gottfried Benn, deren ästhetische Errungenschaften die literarische Moderne prägten und bis heute nachwirken.

'Diese fünf Dichter sind Erscheinungsformen jenes Ausbruchs an Begabung, Energie und eines auf Totalität zielenden Verlangens, der die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte. Sie waren Entdecker, Eroberer, Besitzergreifer - und zwar in einer Vollständigkeit, die noch heute die Kunst zu lähmen scheint. Dergleichen hat es später nie wieder gegeben.' Frank Schirrmacher.



Frank Schirrmacher, Jahrgang 1959, Studium in Heidelberg und Cambridge, Promotion. Seit 1994 war er einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 2004 sagte er dem Altersrassismus den Kampf an - für sein Buch Das Methusalem-Komplott erhielt er u. a. den Corine-Sachbuch-Preis und die Auszeichnung Journalist des Jahres 2004. Mit Minimum landete er 2006 erneut einen publizistischen Coup und setzte das Thema des Jahres. 2007 erhielt er als erster Journalist den Jacob-Grimm-Preis-Deutsche-Sprache und wurde 2009 mit dem Ludwig-Börne-Preis ausgezeichnet. 2009 erschien bei Blessing Payback. Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen und 2013 Ego. Das Spiel des Lebens. Frank Schirrmacher verstarb am 12. Juni 2014 in Frankfurt am Main.

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Leseprobe

Einleitung

DIE EROBERUNG DES MONDES ODER EINE ANEKDOTE ÜBER DEN KUNSTWILLEN

Kafka träumte davon, seine Sätze so gegen die Welt zu richten, dass sie wie ein unverrückbar gegen den leeren Himmel gestelltes Teleskop geduldig auf die lang vorausberechnete Erscheinung warten. So wie Kafkas Teleskop scheint uns die literarische Vergangenheit der ersten Jahrhunderthälfte zu erfassen. Denn bis heute prägt sie nicht nur unsere Imagination und Phantasie, sondern sie scheint auch die nachfolgenden Künstler seltsam abhängig und unfrei gemacht zu haben. Vieles spricht dafür, dass wir uns am Ende des 20. Jahrhunderts noch immer im Gesichtskreis des Fin de Siècle befinden.

Die fünf Dichter, die in den folgenden Stücken gestreift werden, sind Erscheinungsformen jenes Ausbruchs an Begabung, Energie und eines auf Totalität zielenden Verlangens, der die erste Hälfte des 20. Jahrhundert prägte. Sie waren Entdecker, Eroberer, Besitzergreifer – und zwar in einer Vollständigkeit, die noch heute die Kunst zu lähmen scheint. Dergleichen hat es später nie wieder gegeben. Vielleicht, so eine der geläufigen Thesen, weil der Wille, der sich darin artikulierte, diskreditiert und unglaubwürdig geworden ist. Sie, die nach den Worten Georges, den »Stern« erobern wollten, waren Kinder einer Zeit, die uns Heutigen fremd und in ihren Motivationszusammenhängen unverständlich erscheint. Ehe man von der Größenphantasie der seit 1868 geborenen Generation redet, von ihren Versmonden und literarischen Sternbildern, den unerreichbaren Zielen, die sie wie die nächste Straßenbahnhaltestelle in ihren Blick nahmen, könnte es hilfreich sein, die Größenphantasie ihrer Zeit zu mustern.

In einer der seltenen poetischen Stellen der Kritik der reinen Vernunft vergleicht Kant sich mit einem Landvermesser, der auf große Seefahrt geht, um einen Ort zu suchen, den er womöglich nie erreichen wird. Das Land des reinen Verstandes habe er jetzt gemeinsam mit dem Leser kartographiert, und nun führe er ihn auf das Meer (»dem eigentlichen Sitze des Scheins«), »um es nach allen Breiten zu durchsuchen, und gewiss zu werden, ob etwas in ihnen zu hoffen sei«. Kants Vermessungs- und Navigationsmotiv steht in der unabsehbaren Kette der Expeditions- und Eroberungsmetaphern, die aus der Lebenswelt in die Wissenschaften und Künste eindringen und bald keinen seiner Nachfolger mehr loslassen. Mitte des 19. Jahrhunderts beginnen die Künstler, gleichsam als Funktionäre einer romantischen Universalkartographie, die Welt ein letztes Mal zu vermessen. Sie koalieren mit der Wissenschaft. Sie erobern sich fremde Gebiete, beanspruchen die Herrschaft, beginnen mit der Topographie der Seele, jagen den weißen Flecken nach, und, wenn diese getilgt sind, dem auf- und abtauchenden Schimmer Moby Dicks, bis am Ende, wenn schon gar nichts mehr zu sagen übrig zu sein scheint, auch das noch gesagt wird, wenn im Bilde von Kafkas Schloss der Landvermesser K. den Sitz des Scheins neu bestimmt und die Geschichte all dieser Entdeckungen und Eroberungen als Satyrspiel den Abschluss findet.

Der Eingeborene, der als erster das Schiff des Kolumbus am Horizont auftauchen sah, machte eine furchtbare Entdeckung. Lichtenbergs berühmter Satz ist aus der Perspektive desjenigen gesprochen, der im Augenblick seiner Entdeckung seine eigene Geschichte verliert. Am Ende des 20. Jahrhunderts müssen wir uns eingestehen, dass es nicht nur einen Kolonialismus des Raumes, sondern auch einen der Zeit gibt. Die Vorstellungswelt der Gegenwart ist von der Vergangenheit besetzt und annektiert, ganze Kontinente der Phantasie und Einbildungskraft sind von ihr ausgebeutet worden. Jetzt zeigt sich, welchen Preis es kostet, eine Jahrhundertwende zu erleben, an dessen Anfang eine visionäre und vorausdeutende Kunst stand. Sie hat, wie einst die Astronomie bei der Bestimmung der Planetenbahnen, scheinbar jede künftige Bewegung und jede Revolution der Einbildungskraft vorherberechnet.

Vor dem Horizont der Moderne wird jeder Nachgeborene zu einem Lichtenbergschen Indianer. Er erlebt nicht nur den Fluch der Entdeckung. Er erlebt alle Formen der Unterdrückung, Enteignung und Selbstentfremdung. Die Vergangenheit, die einmal Gegenwart war, hat ihre Zukunft, die wir geworden sind, bis in die letzten Winkel erfasst und ausgebeutet. Wenn heute so viel von der erschöpften Phantasie die Rede ist und davon, dass die erste Jahrhunderthälfte eine bislang unüberschrittene Steigerungsform der Kunst hervorbrachte, wenn allenthalben die Suche nach den Ursprüngen beginnt und die Entstehung des wissenschaftlichen und ästhetischen Weltbildes in den Schriften der Feyerabend, Serres, Foucault wie die Ankunft einer fremden Macht erzählt wird, dann meint man in diesen Wendungen die Qual und Klage eines seiner selbst und der eigenen Legitimität längst unsicher gewordenen Stammes von Eingeborenen zu hören.

Man kennt die soziale Energie, die sich am Ende des letzten Jahrhunderts in expansionistische und kolonialistische Politik umsetzte. Aber man zögert, dieses Modell auf die Künste und in die Literatur zu übertragen. Der Herrschafts- und Unterwerfungswille, der sie seit Mallarmé den definitiven Vers, das endgültige Bild, den unübertroffenen Ausdruck suchen lässt, die psychischen und physischen Energien, die nun den wie besessen, bis zur Selbstverstümmelung arbeitenden Künstler produzieren, die neuen Idiome der Verrechtlichung, mit der sie moralische und soziale Ansprüche einklagen – dies alles gibt eine Ahnung von Umfang und Kraftzentrum einer kollektiven Anstrengung, die, wie der Literaturkritiker Harold Bloom sagt, die Kinder, Enkel und Urenkel stumm und blind machen sollte angesichts der Größe des Erreichten.

Die Pariser Weltausstellung von 1889 hat den Abdruck der Energien empfangen. In der Mitte der Stadt erhebt sich der Eiffelturm, auf dessen oberster, über dem Dunst liegende Plattform bald wissenschaftliche Experimente durchgeführt werden. Ein Teleskop wird auf der Spitze montiert, eine Sternwarte und ein Laboratorium werten astronomische und meteorologische Daten aus. In gewaltigen Ausstellungen werden neue Mond- und Sternenkarten, Himmelsgloben, Fotografien des Weltalls gezeigt, und gleichzeitig – worauf Albert Boime in seiner Deutung von van Goghs »Sternennacht« hingewiesen hat – werden die neuen Entdeckungen und Eroberungen der Erde vorgestellt. Erde und Himmel treten in den Augen des Betrachters zu einer pathetischen Selbstfeier der französischen Kolonialpolitik zusammen. Die Doppeleroberung des Erreichbaren und des Unerreichten, der Gegenwart und der Zukunft hat von Anfang an eine mondäne und eine ästhetische Variante. Camille Flammarion, einer der bedeutendsten Astronomen seiner Zeit, annonciert die Astronomie als Mittel zur »geläuterten Eroberung«, die anders als die Kolonialisierung der Erde nicht »Blut und Tränen« kostet. Der bloße Anblick des bestirnten Himmels habe den Menschen seit Jahrtausenden Wissen und Herrschaft über die Zukunft versprochen. Nun stehe der Augenblick bevor, da die Zukunft, die eine friedliche sein werde, buchstäblich betreten werden könne.

Nur wenig später bekennt Cecil Rhodes beim Anblick des Sternenhimmels: »Die Welt ist fast vollständig parzelliert. Was übrig blieb, wurde aufgeteilt, erobert und kolonialisiert. Denken wir nun an diese Sterne, die wir nachts über uns sehen, diese ungeheuren Welten, die wir niemals erreichen können. Ich würde die Planeten annektieren, wenn ich könnte. Oft denke ich darüber nach. Es macht mich traurig, sie so klar und doch so unerreichbar zu sehen.« Man muss durch die Resignation hindurch das Bekenntnis einer realpolitischen Wunschvorstellung lesen, um in den Energiekern der kollektiven Wunschvorstellung vorzustoßen.

Hierher, in die ausgestellte Welt des Jahres 1889, gehört eine Äußerung eines in diesem Jahr Geborenen, die in anderem Zusammenhang Hans Blumenberg zitiert und deren Zitation er »hart, aber unumgänglich zur Herstellung des Phrasierungsbogens« nennt. Er »habe veranlasst«, so bemerkt Hitler am Mittag des 5. Juni 1942 in seinem Hauptquartier, »dass – soweit nur irgend möglich – in allen größeren Städten Sternwarten errichtet würden, da Sternwarten erfahrungsgemäß das beste Mittel darstellten, um das Weltbild des Menschen zu vergrößern und damit geistigen Verkümmerungen vorzubeugen«.

Flammarions »Blut-und-Tränen«-Rede, Rhodes’ planetare Annektionsgelüste angesichts der aufgeteilten Welt, Hitlers Sternwarten, die das Bild der Welt vergrößern sollen, die er in Besitz zu nehmen gedenkt – man erlebt hier in der Echtzeit historischer Metaphorik die Geburt einer Größenphantasie, die bis heute jeden in die Zukunft weisenden imaginativen und gedanklichen Willen behelligt und bricht.

Es bedarf nicht der These des Vorläufertums, um von der Zerstörung Europas in der Jahrhundertmitte zu den europäischen Wunschprojektionen um 1890 zurückzurechnen. Aber der Blick zurück zeigt, wie sich damals die Welt um eine noch in den Kinder- und Jugendjahren steckende Generation herum reisefertig machte zu einer Expedition. »Warum, frage ich mich«, notiert van Gogh, »sollten uns die leuchtenden Punkte am Himmelsgewölbe weniger zugänglich sein als die schwarzen Punkte auf der Karte von Frankreich.« Noch glaubt er, dass man, »wie wir den Zug nehmen, um nach Tarascon zu fahren«, den Tod nehmen muss, »um auf einen Stern zu gelangen«. Aber die Verschiebung des Eroberungsimpulses hat bereits begonnen. Die planetarische Phantasie wird von den Künstlern als Erfahrungstatsache verbucht und nun sehr rasch aus dem Raum in die Zeit verlegt.

In einer eminent populären Schrift von 1884...

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