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E-Book

Eine große Freude?

Der innerdeutsche Paketverkehr im Kalten Krieg (1949-1989)

AutorKonstanze Soch
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl319 Seiten
ISBN9783593438832
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis41,99 EUR
Während der Teilung Deutschlands war der Päckchen- und Paketverkehr zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland für viele Menschen die einzige Möglichkeit, mit Verwandten und Bekannten zu kommunizieren und sie mit Geschenken zu bedenken. In beiden Staaten kam ihm daher schnell auch eine politische Funktion zu. Wie gestaltete sich der innerdeutsche Päckchen- und Paketverkehr? Welche Vorstellungen vom Leben 'hüben wie drüben' und vom jeweiligen Gegenüber prägten den Versand? Welche Bedeutung hatte dies nach der Wiedervereinigung für die Versender und Empfänger? Konstanze Sochs Studie, eine Beziehungsgeschichte der politischen Kultur im geteilten Deutschland, führt direkt in das Herz der Abgrenzungs- und Annäherungsversuche beider deutscher Staaten.

Konstanze Soch, Dr. phil., promovierte an der Universität Magdeburg.

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Leseprobe
1. Einführung 'War das eine freudige Überraschung, als Ihr liebes Paket hier eintraf mit so vielen schönen Dingen. Wir freuen uns alle drei sehr [...]!' Mit diesen Worten eröffnete die Dresdenerin Frau Ziegler am 18. November 1980 ihren Brief an Frau Geiß aus Karlsruhe und bedankte sich so für das Weihnachtspaket, mit dem sie bedacht worden war. Neben der Freude war es vermutlich eine Mischung aus Scham und dem Wunsch sich zu rechtfertigen, die sie unmittelbar nach der Danksagung folgende Zeilen schreiben ließ: 'So früh habe ich meine Weihnachtsgaben noch gar nicht parat, bei uns ist ja alles mit viel Lauferei und langem Warten verbunden.' Als Familie Ziegler kurz vor Weihnachten ein zweites Weihnachtspaket erreicht, ohne dass sie bisher eine Reaktion auf das von ihnen versandte Päckchen erhalten hätten, beschreibt Frau Ziegler dies in einem zweiten Brief wie folgt: 'Nun haben Sie sicherlich gedacht, ich schicke Ihnen einen Dresdener Christstollen, aber da hätte ich ja erst anfragen müssen, ob Sie so etwas mögen! Da wird mein kleines Päckchen sicher eine Enttäuschung gewesen sein! Ihr 2. Riesen-Paket von beträchtlichem Gewicht kam zu unser aller Überraschung gut hier an, es hat hellste Begeisterung hervorgerufen und wir alle drei danken Ihnen ganz herzlich!' Nicht nur, dass Frau Ziegler fürchtete, ihr Paket wäre zu klein; vielmehr war es die Sorge darum, ob dessen Inhalt auf der anderen Seite - im Westen - auch dieselbe Freude ausgelöst hatte wie das Westpaket in ihrer eigenen Familie im Osten. Diese Unsicherheit wurde durch eine zunächst ausbleibende Reaktion aus Karlsruhe verstärkt. Weil Frau Geiß auf das Päckchen aus dem Osten erst Mitte Januar antwortete, plagte auch sie ein schlechtes Gewissen. Sie nahm Frau Ziegler die Unsicherheit über die ausgesuchten Geschenke, indem sie beschrieb, wie sich die Familie, vor allem ihre Kinder, über den Nussknacker und den Stern, die im Paket enthalten waren, gefreut hätten. Gleichzeitig bringt sie selbst Unsicherheit zum Ausdruck, indem sie fragt, ob die Backzutaten, die sie nach Dresden versandt hatte, dort wirklich ausschließlich Freude auslösten. Dieser Auszug aus einem Briefwechsel, der den Beginn einer fast 20-jährigen Freundschaft darstellt, verdeutlicht gleich auf mehreren Ebenen die Schwierigkeiten und Herausforderungen, die es bei einer deutsch-deutschen Freundschaft zu bestehen galt. So scheint es bei beiden Frauen zunächst einmal das Gefühl zu sein, nicht recht zu wissen, worüber sich das jeweilige Gegenüber tatsächlich freuen würde. Eine Unsicherheit, welche zunächst einmal nicht überrascht - begleitet sie doch auch heutzutage viele Menschen, selbst wenn Schenkende und Beschenkte schon lange freundschaftlich verbunden sind. Das gegenseitige Schenken war und ist oft mit Schwierigkeiten verbunden. Für das Schenken unter der besonderen Bedingung der deutschen Teilung - mit den unterschiedlichen Lebensverhältnissen in beiden Teilen - gilt dies in besonderer Art und Weise, denn es 'gab [...] keine sozialen Regeln, an denen man sich orientieren konnte' - sie mussten sich erst entwickeln. Darüber hinaus existierten verschiedene Vorstellungen von Nützlichkeit und davon, was im Alltag gebraucht werden könnte. Neben dem Inhalt war es immer wieder auch die Frage, ob das Päckchen oder das Paket das Gegenüber unversehrt erreicht hatte. Denn 'wer weiß, ob ansonsten nicht ein Teil ?Beine? bekommen hätte?' , erkundigte sich beispielsweise Frau Mettner bei ihren Verwandten in der DDR. Der Päckchen- und Paketverkehr war während der jahrzehntelangen Teilung Deutschlands ein wichtiger Bestandteil der deutsch-deutschen Kommunikation - stand doch die Möglichkeit des Telefonierens nur den allerwenigsten zur Verfügung. Das Päckchen und das Paket verbanden Freunde, Verwandte, Bekannte sowie ehemalige Arbeitskollegen und stellten weit mehr als einen bloßen Warenaustausch dar. Für unzählige Familien und Freunde war dieser Postverkehr die wichtigste Möglichkeit, Kontakt zu halten sowie sich über das Leben und den Alltag dies- und jenseits der Grenze auszutauschen. So wie die beschriebenen Familien aus Karlsruhe und Dresden verschickten Millionen von Menschen Geschenksendungen. Der Aufruf 'Dein Päckchen nach drüben ...' mahnte die Bürger im Westen Deutschlands regelmäßig, ihren 'armen Brüdern und Schwestern' im Osten Deutschlands Päckchen und Pakete zu schicken. Und das taten sie auch. Viele erinnern sich auch heute noch an die große Freude, die die Westpakete ins Haus brachten. Vor allem die unverwechselbare Duftmischung aus Kaffee, Kakao, Seife, Schokolade sowie Orangen und Puddingpulver, die beim Öffnen den ganzen Raum erfüllte, ist vielen Paketempfängern noch präsent. Doch auch die Menschen in der DDR schickten oft und regelmäßig Päckchen und Pakete - nennen wir sie 'Ostpakete' - an ihre Verwandten und Bekannten in die Bundesrepublik und bemühten sich, mit klassischer Literatur, Schallplatten, kunstgewerblichen Gegenständen und Backwerk Freude zu bereiten. Und so ist es nicht verwunderlich, dass auch die Empfänger im Westen die Geschenksendungen meistens mit einem bestimmten Geruch verbanden - dem Geruch nach selbstgebackenem Stollen. Auch heute, fast 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung, sind die Geschenksendungen zwischen 'hüben' und 'drüben' einmal mehr im Fokus der Erinnerungskultur. Dabei werden sie nur allzu oft als verbindende Elemente über die Mauer hinweg konstruiert, welche vor allem auf die Empfänger der Westpakete eine große Wirkung hatten. So äußerte sich beispielsweise die Bundeskanzlerin Angela Merkel 2014 in jenem beginnenden Doppeljahr der Gedenkfeiern wie folgt: 'Ein Teil der Anziehungskraft, die von der freien Welt ausging, beruhte natürlich auch auf der bunten Warenvielfalt, die es im Westen gab. Ich persönlich erinnere mich noch gut daran, als die Westpakete ankamen. Die Vielfalt war weitaus größer als in der DDR.' Betrachtet man die Erinnerungen im öffentlichen Diskurs zum deutsch-deutschen Päckchen- und Paketverkehr genauer, so scheint es zunächst, als ob ausschließlich die Menschen aus der Bundesrepublik - also aus dem vermeintlich 'goldenen Westen' - ihre Verwandten und Bekannten in der DDR mit Geschenksendungen bedachten. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es deshalb nicht, nur das Westpaket oder nur das Ostpaket zu untersuchen, sondern beide Paketarten miteinander in Beziehung zu setzen. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, welche Rolle der innerdeutsche Paketverkehr zwischen der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) auf der einen und der Bundesrepublik Deutschland (BRD) auf der anderen Seite einnahm. Besonders die Fragen nach Versand und Erhalt sowie nach der Motivation auf beiden Seiten, aber auch die dadurch entstandenen Bilder des 'anderen Deutschlands' werden im Mittelpunkt der Arbeit stehen. Die mediale Berichterstattung zum Thema kommt oft nicht über einen anekdotischen Charakter hinaus. Vielfach sind es lediglich Erinnerungssplitter Einzelner, welche auf die eine oder andere Facette des Versands eingehen. Meist enden diese Erinnerungen mit der Bemerkung, es wäre gut, dass Deutschland nun wiedervereinigt ist, aber dennoch schade um die Geschenksendungen, die viel Freude ins Haus gebracht hätten. Gerade der anekdotische Charakter und die immer wieder erzählten Erlebnisse im Zusammenhang mit den Geschenksendungen zeigen, dass das Thema nicht nur zu belächeln ist und bei genauerer Betrachtung umfassende Erinnerungen zu Tage treten. Besonders lohnend ist diese Untersuchung, da der Päckchen- und Paketverkehr bereits früh ein Politikum war. Wurde der Paketversand in Westdeutschland teilweise subventioniert und sogar staatlich gelenkt, war der ostdeutsche Staat vor allem auf dessen Kontrolle und Reglementierung bedacht. Die Aufrechterhaltung der individuellen Kommunikation über den Paketverkehr entsprach der westdeutschen Vorstellung und Motivation, dass es nur ein gemeinsames Deutschland geben könne, solle und dürfe. Bei näherer Betrachtung der Literatur fällt auf, dass auch die Beschreibungen und Untersuchungen in der Forschung keineswegs ausgewogen sind. So ist festzustellen, dass sowohl das Westpaket als auch das Ostpaket ein Desiderat sind. Während zum Westpaket ein Sammelband von Christian Härtel und Petra Kabus sowie vereinzelte Aufsätze existieren, muss für das Ostpaket eine nahezu vollständige Forschungslücke konstatiert werden. Sogar im Sammelband von Härtel und Kabus wird nur sporadisch auf das Ostpaket als Gegenstück zum Westpaket eingegangen. Auch der Aufsatz 'Hannover: ?Wie es geduftet hat...?' von Isabell Müller schenkt hautsächlich dem Versand aus der Bundesrepublik Beachtung. Nichtsdestotrotz gelingt es der Autorin, deren Aufsatz in der Forschungsgemeinschaft leider nur am Rande Aufmerksamkeit geschenkt wurde, einen interessanten Einblick in das Thema zu geben. So verharrt sie nicht auf der Ebene der Aufrufe und Bestimmungen, sondern unternimmt den Versuch, durch die Betrachtung einzelner Briefe offen zu legen, was es für die Menschen bedeutete, ein Paket zu verschicken und zu empfangen. Selbst die Publikation 'Ein offenes Geheimnis. Post- und Telefonkontrolle in der DDR' der Museumsstiftung Post und Telekommunikation widmet sich vorrangig den eingehenden Paketen aus der Bundesrepublik. Die Päckchen und Pakete aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland bleiben nahezu unbeschrieben. Und sogar in dem Band 'Einheitsfarbe Ginstergelb. Die Postler in West und Ost als Praktiker der Einheit' , der sich, wie der Titel bereits ankündigt, der Geschichte der Post in Ost- und Westdeutschland annehmen und dabei speziell die Rolle der Post als 'Praktiker der Einheit' beleuchten will, geht an keiner Stelle auf den Versand von Ostpaketen ein. Dies verwundert umso mehr, da die Deutsche Bundespost nicht nur für die Teilstrecke des Transports von Geschenksendungen aus dem Westen, sondern auch für jene aus dem Osten zuständig war. Der Aufsatz 'Handelsware, keine Geschenksendung' von Annett Gröschner geht neben der Beschreibung des Westpakets vereinzelt auch auf das Ostpaket ein, insbesondere auf die Schwierigkeit, welchen Inhalt die Ostpakete annehmen sollten, um eine adäquate Antwort auf die Westpakete darzustellen. Cornelia Crohn entschied sich beim ihrem Buchtitel, ähnlich wie Kabus und Härtel, für 'Westpaket: Geschenksendung, keine Handelsware'. Dieser führt in die Irre, denn die Westpakete werden ausschließlich zu Beginn des Buches als eine Art Einleitung verwendet, ohne dass man sich ihnen jedoch ausführlicher widmet. In der Einleitung beschreibt die Autorin insbesondere die eigene Wehmut darüber, eben jene Pakete nicht mehr zu empfangen. In erster Linie stellt dieses Buch ein Kompendium autobiografischer Erlebnisse und Episoden zu Schul- und Studienjahren sowie zum Berufsleben dar. Am Ende bleibt Crohn dem Leser schuldig, warum sie gerade das Westpaket als eine Art Symbol für ihr Leben wählte, um, dem Klappentext zufolge, 'eine[n] kleinen Teil deutscher Befindlichkeiten während der Teilung' näher zu beleuchten. Volker Ilgen fokussiert sich in seiner Monografie , die längsschnittartig die Paketgeschichte des 20. Jahrhunderts darstellt, für die Zeit des Kalten Krieges auf das Westpaket. Nur vereinzelt werden dem Leser die sogenannten 'Solipakete' vorgestellt, welche die DDR Mitte der 1950er-Jahre an streikende Metallarbeiter versandte. Ansonsten beruht auch hier der Schwerpunkt auf der Postkontrolle seitens der DDR. Dass die DDR-Bürger allerdings auch Päckchen und Pakete in den anderen Teil Deutschlands schickten, bleibt nahezu unerwähnt. Der Postkontrolle widmen sich ebenfalls die Untersuchungen von Jörn-Michael Goll für die Deutsche Demokratische Republik sowie Josef Foschepoth für die Bundesrepublik Deutschland. Beide Publikationen ermöglichen es dem Leser, einen guten Einblick in die jeweiligen Kontrollmechanismen zu erhalten, die bei Briefen Anwendung fanden. Speziell die Kontrollen des Päckchen- und Paketverkehrs werden in beiden Publikationen jedoch nur am Rande dargestellt. Der Monografie 'Die Postkontrolle der Staatssicherheit. Aus der Sicht eines Zeitzeugen' von Peter Hellström gelingt es im Rahmen ihrer Möglichkeiten gut, das Thema zu beleuchten. Darin wird - im Unterschied zu Foschepoth und Goll - sogar explizit auf die Paketkontrolle eingegangen. Die Publikation besticht vor allem dadurch, dass Hallström umfangreich die Quellen sprechen lässt und ausführlich - aber deswegen nicht minder interessant - technische Begebenheiten und Abläufe der Kontrolle auf dem Gebiet der DDR erläutert. Ein Aufsatz , der sich ebenfalls dem Westpaket widmet, erschien in dem vielbeachteten Sammelband 'Erinnerungsorte der DDR'. Dieser skizziert auf wenigen Seiten die Charakteristika eben jenes Pakets. Erstaunlich ist auch hier, dass die Ostpakete nicht einmal als eine Form der Erwiderung genannt werden - ganz so, als ob sie niemals existiert hätten. Lediglich Rainer Gries widmet sich in seinem Aufsatz 'Dein Päckchen nach drüben. Antikommunismus für jedermann' beiden Paketarten und stellt dar, welche Bedeutung die Geschenksendungen für beide Teile Deutschlands hatten. Wie selbstverständlich der Versand von Paketen in den Osten war, verdeutlicht das Lexikon des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen mit den Titel 'A bis Z. Ein Taschen- und Nachschlagebuch über den anderen Teil Deutschlands'. Unter dem Stichwort 'Geschenksendung' wird - im Unterschied zu anderen Begriffen - keine Definition des Ausdrucks an sich vorgenommen. Vielmehr besteht der Eintrag aus einer umfassenden Aufzählung von Versandbestimmungen. Ein Hinweis, warum beispielsweise der Geschenkversand im Sinne des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen zu unterstützen sei, findet sich nicht. Dies schien zur damaligen Zeit allgemeingültiges Wissen gewesen zu sein. Da es sich jedoch mitnichten um einen einseitigen Versand handelte - wie es der öffentliche Diskurs zur Alltaggeschichte von DDR und BRD sowie die Forschung nahelegen -, sollen vor allem die wechselseitigen Beziehungen analysiert werden, die die Geschenksendungen ermöglichten. Eine Auseinandersetzung mit dem Paketverkehr zwischen 'Ost' und 'West' als eines Gegenstands der innerdeutschen Kommunikation, als einer Plattformen des sozialen Austausches ist lohnenswert, da auf diese Weise die Verflechtungen im sozialen und kulturellen Raum unter Beachtung wechselseitiger Bezugnahme analysiert werden können. Eine solche Analyse ist in der Forschung bisher ausgeblieben, da eine Vielzahl der Publikationen die Geschichte der Bundesrepublik als 'Erfolgsgeschichte', die der DDR hingegen als 'Misserfolgsgeschichte' beschreibt und aus diesem Grund Verflechtungen nur selten in den Blick genommen werden. Wie gestaltete sich also - so die grundlegende Frage für dieses Forschungsprojekt - der innerdeutsche Päckchen- und Paketverkehr in Ost- und Westdeutschland und welche Bedeutung hatte er nach der Wiedervereinigung für die Versender und Empfänger? Der Frage nach Versand und Erhalt der Pakete, sowohl für die DDR als auch für die Bundesrepublik, soll dabei gleichermaßen nachgegangen werden. Eng mit diesem Anliegen verbunden sind die jeweiligen Vorstellungen vom Leben 'hüben wie drüben', wie sie die Kommunikation miteinander und daraus resultierend auch den Inhalt der Geschenksendungen beeinflussten. Es wird also danach gefragt werden, ob sich bestimmte Vorstellungen in Bezug auf das jeweilige Gegenüber festigten und wie mit diesen umgegangen wurde. Waren auch die Versender in der Bundesrepublik selbst davon überzeugt, im 'goldenen Westen' zu wohnen, und bedauerten sich die Versender in der DDR dafür, in der 'Zone' zu leben? Zu betonen sei bereits an dieser Stelle, dass sich eben jene Vorstellungen und Rollenbilder keineswegs ausschließlich aus dem Päckchen- und Paketverkehr entwickelten. So ist zu prüfen, inwieweit der öffentliche Diskurs in jener Zeit und über die Jahre hinweg die Vorstellungen geprägt hat beziehungsweise ob sich das Bild der Versender und Empfänger auf beiden Seiten durch die Geschenksendungen differenzierte. Aus diesem Grund ist die Rückbindung in den jeweiligen zeitlichen Kontext und ihre Veränderlichkeit für die Arbeit von größter Wichtigkeit. Sie wird die Untersuchung stets begleiten und für sie den Rahmen aufspannen. Keineswegs soll der innerdeutsche Päckchen- und Paketverkehr nur während der Zeit der Teilung untersucht werden. Dies wäre für das Ziel der Forschungsarbeit zu kurz gedacht. So ist es eben auch von besonderem Interesse zu untersuchen, wie sich die persönlichen Beziehungen zwischen den Versendern und Empfängern nach der Wiedervereinigung weiterentwickelten. Trug also der Versand, wie von der Bundesrepublik in ihren Werbekampagnen so oft gefordert, tatsächlich dazu bei, die 'Verbindung mit ?drüben? [zu] halten' und 'die drüben' nicht zu vergessen, sodass sich die Menschen nicht fremd wurden? Oder kam der Paketversand über die Jahre beziehungsweise spätestens mit der Wiedervereinigung zum Erliegen? Dieses Forschungsvorhaben untersucht somit das gesamte Bedeutungsspektrum des Päckchenverkehrs zwischen Ost- und Westdeutschland und stellt dadurch nicht nur einen unübersehbar wichtigen Beitrag zum Verständnis deutsch-deutscher Kommunikation dar. Vielmehr trägt es zur deutsch-deutschen Geschichtsschreibung an sich bei und zeigt eine Möglichkeit auf, diese aus anderen Blickwinkeln zu betrachten. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, wurde für die Arbeit der Zugriff der Histoire Croisée gewählt, also ein Verflechtungsansatz, der es erlauben wird, die Geschenksendungen und ihren Weg zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands grundlegend in all ihren Facetten nachzuvollziehen. Die Bearbeitung des Themas erfolgt mit Hilfe dieses Ansatzes, der in der Forschungsarbeit eine ganz praktische Umsetzung erfährt. So wird in jedem der Kapitel, welche sich dem Geschenkpaketverkehr über die Jahrzehnte hinweg widmen, stets auf die grundlegenden Themen wie den Versand, die Kontrolle und den Empfang eingegangen. Dabei verharrt die Analyse nicht in der Beschreibung der Situation in Ost und West, sondern thematisiert konkret die wechselseitigen Austauschbeziehungen. Die Forschungsarbeit führt deshalb direkt ins Herz der Abgrenzungs- und Annäherungsversuche der beiden deutschen Staaten und somit unmittelbar in das Wesen der politischen Kulturen im geteilten Deutschland. An dieser Stelle sei zusätzlich darauf hingewiesen, dass die Untersuchung keineswegs nur auf den rein privaten Versand der Pakete aus der BRD und der DDR beschränkt ist. So sind es für die Bundesrepublik vor allem der Deutsche Frauenring, die Deutsche Bruderhilfe sowie die Hilfe zum Versand durch Firmen wie Siemens, die in die Untersuchung aufgenommen werden. Diese stellen eine Art des halborganisierten beziehungsweise halbprivaten Versands dar, der nicht außer Acht gelassen werden soll. Für die DDR sind es hier vor allem die Pakete der 'Werktätigen' an ihre Kumpel im Bergbau beziehungsweise an die 'eingekerkerten Freiheitskämpfer', die auf diese Weise versandt wurden. Der Hauptuntersuchungszeitraum der Arbeit erstreckt sich von 1949 bis 1990. Diese Begrenzung ergibt sich zum einen aus dem Gründungsjahr von BRD und DDR und zum anderen aus dem Jahr der Wiedervereinigung, in dem der innerdeutsche Geschenkpaketverkehr größtenteils zum Erliegen kam. Dennoch soll auch ein Blick auf die Anfänge vor 1949 geworfen werden. Denn bereits ab 1945 wurde der Paketversand genutzt, um weite Strecken zu überwinden und Verwandten und Bekannten, die durch den Krieg zumeist über ganz Deutschland verteilt waren, Unterstützung zukommen zu lassen. Daneben sind es vor allem die berühmten CARE-Pakete , die geradezu symbolhaft ihren Teil zum immer wieder gezeichneten Bild des Nachkriegsdeutschlands beitrugen. Es ist hervorzuheben, dass der Versand von Päckchen und Paketen nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann, sondern auf eine lange Tradition zurückgeht. Solcherart Unterstützungspakete wurden bereits im Ersten Weltkrieg - hier als 'Liebesgaben' bezeichnet und mit warmen Socken sowie Tabak gefüllt - an die Front verschickt. Ähnlich wie der Beginn des Untersuchungszeitraums, der auf die Anfänge unmittelbar nach Kriegsende zurückgeht, wird auch sein Ende im Jahr 1990 nicht als starre Grenze aufgefasst. Die Wiedervereinigung hatte die Situation zunächst einmal vollkommen zu verändert. Päckchen und Pakete schienen nicht mehr nötig zu sein, da der 'goldene Westen' nun auch im Osten Deutschlands Einzug hielt. Eben deshalb soll mit dem Jahr 1990 die Betrachtung der Päckchen und Pakete nur partiell enden. Denn nichts könnte deutlicher die tatsächliche Funktion der Geschenksendungen für die zwischenmenschlichen Beziehungen zu Tage treten lassen als die eben nicht mehr bestehende Notwendigkeit des Versands. Die Wiedervereinigung ließ somit die bis zu diesem Zeitpunkt eingeübte Rollenmuster - auch über den Päckchen- und Paketverkehr - obsolet erscheinen. Doch was bedeutete dies konkret für die über Jahrzehnte eingeübten Verhaltensmuster und Zuschreibungen? Und wie gestalteten sich die familiären Beziehungen - jetzt, da die Möglichkeit bestand, die Verwandten und Bekannten jederzeit besuchen zu können? So kann durch die Wiedervereinigung analysiert werden, ob die Päckchen und Pakete dazu beitrugen, dass sich die Menschen diesseits und jenseits der nun nicht mehr existierenden Mauer wirklich näher gekommen sind - oder ob die Trennung in den Köpfen der Menschen vielleicht eher gefestigt wurde. Die Arbeit wird auch dies untersuchen, denn gerade die neue Bedingung der Wiedervereinigung lässt uns heute erkennen, welche Funktion der Päckchen- und Paketverkehr - nun, da er nicht mehr notwendig war - während der Zeit der Teilung einnahm. 2. Die theoretisch-methodischen Grundlagen 2.1. Der theoretische Zugriff Sich einer deutsch-deutschen Geschichtsschreibung zu widmen, stellt ein Wagnis dar. Zu unterschiedlich scheinen die Anforderungen, die an eben solche Forschungen gestellt werden, beziehungsweise leuchten jene wenigen Untersuchungen mit einem deutsch-deutschen Bezugsrahmen nur selten auf. Doch wie sollte eine deutsch-deutsche Geschichte im besten Sinne geschrieben werden? In den letzten 25 Jahren gab es eine Vielzahl von Veröffentlichungen, die sich sowohl der bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung als auch der der Deutschen Demokratischen Republik widmen. Dies geschieht jedoch meist in einer Weise, die die Geschichte der Bundesrepublik Deutschlands als Erfolgsgeschichte und die der DDR als Misserfolgsgeschichte beschreibt. So konstatiert Konrad H. Jarausch zu Recht, dass sich ein Großteil der Gesamtdarstellungen entweder der BRD oder der DDR zu wenden und somit 'eigentlich nur ?Halbgeschichten? erzählen. Symptomatisch für diese Sichtweise steht die Publikation Peter Graf Kielmanseggs, der festhält, dass wir uns in Deutschland im Grunde genommen nur zwei Geschichten gegenübergestellt sehen, 'einer mit Zukunft und einer ohne Zukunft. An der zweiten interessiert vor allem, warum sie keine Zukunft hatte' . Dass beide Staaten - in welcher Art und Weise sei zunächst einmal dahingestellt - miteinander in Beziehung standen, scheint mitnichten im Forschungsinteresse Kielmanseggs zu liegen. Günther Heydemann hingegen billigt den beiden Teilen Deutschlands zwar eine Verflechtung zu, reduziert diese jedoch darauf, dass '[w]ährend die DDR für die (Alt-)Bundesbürger, von Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen abgesehen, kaum einen Bezugspunkt und Vergleichsmaßstab bildete, [...] die (frühere) Bundesrepublik für die DDR in nahezu allen Belangen und auf allen Ebenen den entscheidenden Vergleichsparameter dar[stellte]'. Durch die einseitige Bezugnahme, die Heydemann sich zu eigen macht, steht auch seine Sichtweise in der Denktradition von Misserfolgs- und Erfolgsgeschichte. Dass dies zu kurz gedacht ist, lässt sich besonders gut am deutsch-deutschen Päckchen- und Paketverkehr nachvollziehen. Denn gerade hier sind es nicht nur die familiären Bindungen, die dazu veranlassen, den Kontakt nach 'drüben' zu halten. Oft sind es sich zunächst vollkommen fremde Menschen, die Pakete in den Osten oder den Westen Deutschlands schicken. Dennoch - und dies soll nicht unterschlagen werden - waren so manchem Paris, London, Washington und die Kinder in Afrika näher als die Menschen in der DDR. Christoph Kleßmann geht einen Schritt weiter und versucht mit der von ihm entwickelten 'asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte' zum einen nicht nur die Symmetrien, sondern auch die Asymmetrien in den Blick zu nehmen, da die historische Forschung seiner Meinung nach nicht in einen Zustand verfallen sollte, in dem sie teleologisch die Geschichte nach Gemeinsamkeiten und Anzeichen für eine Wiedervereinigung überprüft. Vielmehr plädiert er dafür, sich der Unterschiede zwischen beiden deutschen Staaten bewusst zu werden. Die gewählte Parallelisierung gelingt ihm schließlich für seinen ersten Band , der die Jahre 1945-1955 der Deutschen Geschichte untersucht, wesentlich besser als für den zweiten Band , der sich auf die Jahre 1955-1970 fokussiert. Für die Zeit 1955-1970 sei der Anspruch, einer stärkeren Verklammerung methodisch und darstellerisch gerecht zu werden, - wie er selbst feststellt - nur schwer einzulösen.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Danksagung8
1. Einführung10
2. Die theoretisch-methodischen Grundlagen20
2.1. Der theoretische Zugriff20
2.2. Die Quellen und Methoden32
3. Der Päckchen- und Paketverkehr 1945–199043
3.1. Die internationale Hilfe durch CARE und CRALOG45
3.2. Die Formen des innerdeutschen Versands50
3.2.1. Der organisierte Versand52
3.2.1.1. Die Propagandapakete aus Ost und West52
3.2.1.2. Der GENEX-Geschenkversand56
3.2.2. Der halb-private Versand64
3.2.2.1. Der Hilfsring e.V.65
3.2.2.2. Der Deutsche Frauenring e.V.69
3.2.2.3. Die Deutsche Bruderhilfe79
3.2.2.4. Die Siemens & Halske AG82
3.2.3. Der private Versand89
3.2.3.1. Das Lindern der Not (1949–1957)89
3.2.3.2. Der Versand auf Augenhöhe (1958–1961)124
3.2.3.3. Die Rückkehr zur ursprünglichen Versandmotivation (1961–1972)133
3.2.3.4. Die Päckchen und Pakete zwischen Routine und Freude (1972–1980)196
3.2.3.5.Die Renaissance des Päckchen- und Paketverkehrs (1981–1989)242
4. Der Päckchen- und Paketverkehr nach der Wiedervereinigung263
5. Resümee279
6. Literatur294
7. Quellen302
8. Abkürzungen311
Anhang313

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