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Eine sowjetische Nation

Nationale Sozialismusinterpretationen in Armenien seit 1945

AutorMaike Lehmann
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl442 Seiten
ISBN9783593412160
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis45,99 EUR
Der Genozid von 1915 im Osmanischen Reich und die Demonstrationen von 1988, die den Zusammenbruch der Sowjetunion mit anstießen, bestimmen unser Bild von Armenien. Doch nicht allein das nationale Trauma oder Repressionen im Staatssozialismus prägten die armenische Nation. Maike Lehmann zeigt, welche Handlungs- und Interpretationsspielräume sich armenische Bürger an der sowjetischen Peripherie in den Jahrzehnten nach 1945 erarbeiteten und wie sie dabei das sozialistische Projekt mit neuen, lokalen Bedeutungen versahen. So trugen sie gleichermaßen zur Legitimierung und Stabilisierung wie auch zur Erosion des Staatssozialismus bei.

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Leseprobe
Einleitung

'Lenin hatte Recht.' Mit diesem Satz brachte mich Roland Vardanjan im Herbst 2005 zur Tür. Zwei Stunden hatte er mir in seinem Esszimmer in einem Eriwaner Plattenbau aus seinem Leben erzählt. Als er meinen erstaunten Gesichtsausdruck sah, machte der pensionierte Biologe mit den vielen Lachfalten im Gesicht nochmals klar, dass es ihm mit Lenin ernst war: 'Ja, man muss Lenin lesen. Auch heute!'

Diese Aussage mag zunächst paradox erscheinen. In diesem Moment überraschte sie mich zumindest. Denn Roland Vardanjan hatte mir zuvor ausführlich davon berichtet, wie er sich in seinem ersten Studienjahr an der Organisation einer illegalen Massendemonstration zum 50. Jahrestag des armenischen Genozids im Stadtzentrum Eriwans beteiligt hatte. Zehntausende Demonstranten forderten damals nicht nur den Monopolanspruch der Partei Lenins über den öffentlichen Raum heraus. Mit ihren Rufen nach einer offiziellen Anerkennung des Genozids und der Rückgabe ?armenischer? Territorien stellten die Demonstranten darüber hinaus die kaukasische Territorialordnung, den sowjetisch-türkischen Grenzverlauf und die Weisungsmacht Moskaus in Frage. Mit ihren Forderungen legten sie zudem den Konflikt mit der Nachbarrepublik Azerbajd?an als ?Besetzerin? von Nagornyj Karabach und Nachi?evan und damit auch die Probleme der Umsetzung von Lenins Vision einer freundschaftlichen Annäherung und letztendlichen harmonischen Verschmelzung der sowjetischen Nationalitäten offen. Roland Vardanjan zeigte sich als Enkel einer Genozidüberlebenden nicht nur euphorisch über die Demonstration, die für ihn eine 'Erleuchtung' (ozarenie) war. Der Sohn eines sowjetischen Militärärztepaares berichtete auch darüber, wie die Partei armenische Schriftsteller und Intellektuelle aus Karabach 'vertrieb'. Er konstatierte die unterschiedlichen Prioritäten von 'ideologiegläubigen Parteimitgliedern' und dem 'Volk mit seinen nationalen Interessen'. Ebenso unterstrich er, dass der 'sowjetische Totalitarismus' noch nicht seine gebührende Verurteilung gefunden habe und bezeichnete das sowjetische System als 'absurd' und 'Unsinn'. Zugleich erklärte er rundheraus seinen 'Nationalstolz'. Roland Vardanjan gerierte sich als freundlicher, aufgeschlossener und gleichwohl bestimmter Nationalist, der im Gegensatz zu seinen ?typisch sowjetischen? Eltern politisch dachte. Dennoch betrachtete er ausgerechnet Lenin, den Begründer des ersten sozialistischen Staates, der seine Subjekte in eine sowohl klassen- wie nationslose Zukunft führen sollte, als grundsätzliche und aktuelle Autorität.

Doch für Roland Vardanjan wie für viele andere meiner Gesprächs- und Interviewpartner war das weder paradox noch widersprüchlich. Im Gegenteil, es passte ihrer Ansicht nach sehr gut zusammen. Selbst dann, wenn ein und dieselbe Person Lenin als ?starken und mächtigen? Organisator bewunderte, um den Revolutionsführer später als ?Syphilitiker? zu verspotten. Diese Koexistenz von nationalistischen und antisowjetischen Narrativen mit der Verehrung sowjetischer Symbolfiguren wirft die Frage nach dem Sinn, der Kohärenz und der Genese von Ordnungsvorstellungen auf, in denen Nationalismus und Leninverehrung feste Größen darstellen - und das heute noch. Denn die selbstverständliche Präsenz Lenins in den Ausführungen ehemaliger Sowjetbürger verweist über deren Bedeutung im Kontext der post-sozialistischen Krise hinaus so sehr auf den Erfolg wie auf das Scheitern des leninschen Projekts in der multiethnischen Sowjetunion.

Der Zusammenhang von Erfolg und Scheitern des leninschen Projekts an der nationalen Peripherie des einst so mächtigen Sowjetreiches steht im Zentrum dieser Arbeit. Dabei ist mit ?Scheitern? nicht schlicht der Zusammenbruch eines Vielvölkerreiches gemeint, über dessen handfeste ökonomische und politische Ursachen wir immer noch mehr wissen als über seine sozialen und kulturellen Wurzeln. Auch der ?Erfolg? bezieht sich hier nicht allein auf die immerhin 70-jährige Existenz der multiethnischen Sowjetunion. Vielmehr geht es um den Erfolg der von Lenin und seinen Nachfolgern angestrebten Visionen, die Sprache, Handeln und Ordnungsvorstellungen sowjetischer Generationen so nachhaltig geprägt haben, dass sie für diese auch 15 Jahre nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Staates Geltung haben. Darin, wie sich Sowjetbürger diese Visionen zu Eigen machten, liegt der Kern sowohl des Erfolgs wie des Scheiterns dieses Projekts.

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