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Kein Vaterland, nirgends

Wir produzieren Verlierer am laufenden Band. Ob Alte oder Jugendliche, ob Frauen, Ausländer oder Arbeitslose - immer mehr Menschen werden abgewertet. Wir haben soviel Abstiegsangst wie nie zuvor. Die Ausgrenzung trifft Deutschland ins Herz.

AutorBirand Bingül
VerlagVerlagsgruppe Droemer Knaur
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783426555101
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Der soziale Kitt ist brüchig, der unser Land zusammenhält. Ob Alte oder Jugendliche, ob Frauen, Ausländer oder Arbeitslose - immer mehr Menschen werden abgewertet, immer mehr Gruppen aus der Mitte der Gesellschaft an den Rand gedrängt. Was geschieht da? Und mit welchen Konsequenzen? Birand Bingül hält unserem Land den Spiegel vor: Wir haben uns immer über Ausgrenzung definiert, haben Ausländer ausgegrenzt, sozial Schwache, ältere Menschen, Hauptschüler, kinderreiche Familien. Motto: Hauptsache, uns geht's gut. Doch seit geraumer Zeit funktioniert das Prinzip Ausgrenzung nicht mehr; anstatt die Gesellschaft zu stabilisieren, zieht es ihr den Boden unter den Füßen weg. Mitten durchs Land geht ein Riss, und der wird immer tiefer. Wir aber reden von Integration und meinen immer nur die Zuwanderer. Dabei ist es höchste Zeit, von uns allen zu sprechen. Ein überfälliger Weckruf, der die viel zu lange verdrängte Frage nach unserer Identität stellt: Was ist unser Vaterland? Kein Vaterland, nirgends von Birand Bingül: als eBook erhältlich!

Birand Bingül, geboren 1974, lebt in Köln und ist Redakteur beim WDR. Er arbeitet als Inlandskorrespondent für Tagesschau und Tagesthemen in der ARD.

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Leseprobe

Wir können die Probleme nicht mit demselben Denken lösen, das sie hervorgebracht hat.

ALBERT EINSTEIN

I.


Kein Vaterland, nirgends

Wer draußen bleibt


Ausgrenzung war nach dem Krieg lange ein Werkzeug der Mächtigen und Etablierten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Sie funktionierte als Strategie, um Machtstrukturen zwischen Gruppen wie Deutschen und Ausländern oder Männern und Frauen zu bewahren, Leistungsstarke von Leistungsschwachen zu trennen, um die Gesellschaft effizient zu halten, sowie Probleme zu bewältigen, indem sie ausgeklammert wurden. Die Ausgrenzung war ein einflussreiches Werkzeug, ein Herrschaftsinstrument, prägend und maßgeblich.

Die klassisch ausgegrenzten Gruppen in der Bundesrepublik werden »A-Bevölkerung« genannt: Arbeitslose, Ausländer, Alleinerziehende. Nehmen wir noch die Behinderten dazu, sind die guten alten Randgruppen beisammen. Zum einen ist aber die Zahl der Menschen mit einer entsprechenden Ausgrenzungserfahrung in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen – ob Hartz-IV-Empfänger oder davon Bedrohte, Migranten oder Alleinerziehende. Zum anderen sind weitere Gruppen ins Blickfeld geraten oder neu hinzugekommen. So werden viele Kinder mangels früher Förderung schon abgehängt, bevor sie überhaupt in die erste Klasse kommen. Die Schule sortiert früh und ungerecht aus. Viele Jugendliche blicken ängstlich in die Zukunft. Das sind nicht mehr nur die Schulabbrecher und weite Kreise der Hauptschüler – selbst für Realschüler ist es teilweise schwierig geworden, einen direkten Einstieg in den Ausbildungs- oder Arbeitsmarkt zu finden. Ein Praktikum ist kein Job.

Manuel ist achtzehn, hat einen mittelmäßigen Realschulabschluss und das Talent zum Tischler. Aber er bekommt keine Lehrstelle. »Mein Leben geht einfach nicht los. Ich hänge fest in einer Warteschleife. Ich hätte gerne eine Lehrstelle. Mehr Geld. Eine eigene Wohnung.«

Fünf Millionen Menschen sind jüngst aus der Mitte der Gesellschaft abgestiegen. Das hat es nach dem Krieg noch nie gegeben in Deutschland.

Mit fünfundfünfzig gehört man sowieso zum alten Eisen. Martina sagt: »Ich möchte nicht nur zu Hause vor dem Fernseher rumsitzen und irgendwelche dummen Talkshows ansehen. Da bin ich innerlich noch nicht bereit dafür. Da müssten sie mir beide Beine amputieren.« Die Siebenundvierzigjährige ist gut ausgebildet, hat sogar studiert und findet trotz großer Anstrengungen seit Jahren keinen richtigen Job. Auskunft auf dem Arbeitsamt: Ab vierzig sei man eben schwer vermittelbar.

Und nicht nur der Begriff Hartz IV ist zum Stigma geworden, sondern auch »Aufstocker« – gemeint sind Menschen, die so wenig mit ihrer Arbeit verdienen, dass sie zusätzlich noch Sozialhilfe bekommen.

Ostdeutsche fühlen sich immer noch fremd im eigenen Land, Muslime gelten als potentielle Terroristen.

Frauen verdienen bei gleicher Arbeit deutlich weniger als Männer. »Wenn ich eine gute Leistung bringe und die wird letztlich nicht honoriert, ist das für mich verletzend, weil ich denke: Ich bin ein Mensch zweiter Klasse. Das ist es, was ich dabei ganz klar empfinde. Ich werde als Frau diskriminiert.«

Das sagt Silke K. Sie ist Abteilungsleiterin Personal in einem großen Unternehmen und beklagt, dass sie trotz jahrelanger gleichwertiger Arbeit deutlich weniger verdiene als ihr männlicher Kollege.

Eine einzige Frau gibt es in dreißig Dax-Vorständen.

Mit anderen Worten: Das Phänomen der Ausgrenzung in Deutschland hat sich stark ausgedehnt. Es wächst nach wie vor.

Der Soziologe Heinz Bude beschreibt die Ausgrenzung in seinem Buch Die Ausgeschlossenen wie folgt: Ausgrenzung »ist weder auf gesellschaftliche Benachteiligung zu reduzieren noch durch relative Armut zu erfassen. Sie betrifft vielmehr die Frage nach dem verweigerten oder zugestandenen Platz im Gesamtgefüge der Gesellschaft. Sie entscheidet darüber, ob Menschen das Gefühl haben, dass ihnen Chancen offenstehen und dass ihnen ihre Leistung eine hörbare Stimme verleiht, oder ob sie glauben müssen, dass ihnen ihre Anstrengung und Mühe niemand abnimmt. Für die Exkludierten gilt der meritokratische Grundsatz ›Leistung gegen Teilhabe‹ nicht mehr.«

Was Bude aus der Sicht der Betroffenen formuliert, haben seine Kollegen Wilhelm Heitmeyer und Reimund Anhut mit ihrer »Desintegrationstheorie« als Kritik an Staat und Gesellschaft verarbeitet. Desintegration, also Ausgrenzung, betone »die nicht eingelösten Leistungen von gesellschaftlichen Institutionen und Gruppen, in der Gesellschaft existentielle Grundlagen, soziale Anerkennung und persönliche Unversehrtheit zu sichern«. Laut dieser Definition trifft die Ausgrenzung viele deutsche Gruppen, quer durch alle Schichten. Sie alle sitzen in einem Boot. Verschiedenste Menschen leiden an ein und demselben Phänomen.

Den Blick hierfür zu weiten und zu schärfen ist für mich fundamental.

Bis zur Wende funktionierte die Ausgrenzung solide und zuverlässig. Die Wirtschaft florierte, die überwältigende Mehrheit der Menschen hatte am Wohlstand teil, auch die wenig gebildeten Hilfsarbeiter und die meist ungelernten Zuwanderer. Solange möglichst viele Menschen Teil und Nutznießer der ökonomischen Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik waren und von sich sagen konnten, dass sie das Land mit aufbauten, war der Blick verstellt für soziale, kulturelle und andere Ausgrenzungen am Rande der Gesellschaft. Konflikte wurden verdeckt. Ausgrenzungen mussten nicht immer brutal und offen durchgesetzt werden. In Deutschland fand Ausgrenzung letzten Endes auch viel Rückhalt und Zustimmung, da Ausgrenzung zu Wohlstand und Aufschwung beizutragen schien. Das Prinzip Ausgrenzung – Wissenschaftler sprechen von »Exklusion« – erzeugte stabile (macht)politische Verhältnisse. Im Kern blieb in Deutschland alles beim Alten, wie gewünscht.

Martin Kronauer von der Fachhochschule Berlin hat es auf den Punkt gebracht: »Gerade weil Ausgrenzung in Deutschland so gut funktionierte, musste sie nicht thematisiert werden. Die gesellschaftliche Mitte war von ihr kaum berührt.«

Und heute? Die Mittelschicht – Rückgrat und Zentrum jedes westlichen Landes – ist in die Defensive geraten. Sie will verschont bleiben, nicht hinabgleiten in unsichere Verhältnisse oder gar ins Prekariat. 2004, als es besonders schlecht aussah auf dem deutschen Arbeitsmarkt, hat sie aber erfahren müssen, dass es auch ganz schnell sie treffen kann, beruflich wie sozial. Die Mittelschicht ist geschrumpft, laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung von (viele Jahre lang stabilen) 62 Prozent auf 54 Prozent im Zeitraum 2000 bis 2006. Betroffen sind fünf Millionen Menschen. Geringe Lohnsteigerungen, die Inflation und die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten machen es Teilen der Mittelschicht schwer, die gesellschaftliche Position zu halten. Mit dem leichten Aufschwung der Jahre 2007 und 2008 verschwanden die Abstiegsängste nicht von der Tagesordnung. Fast jeder zweite Deutsche meint, es gebe keine Mitte mehr, nur noch oben und unten.

Petra Böhnke vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung schreibt nach eingehender empirischer Analyse, der Trend zur Verunsicherung der Mittelschichten sei an den subjektiven Bewertungen der Lebensumstände und der Befüchtung, deklassiert zu werden, ablesbar. Zwar seien Ängste und Sorgen nach wie vor am stärksten bei sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen verbreitet, doch zugenommen hätten sie im Lauf der letzten Jahre am deutlichsten bei den Mittelschichten.

Und während Ausgrenzung weiter stattfindet, scheitert sie auch. Begonnen hat ihr schleichender Niedergang nach der Wende. Sie brachte zwar völkerrechtlich die Wiedervereinigung zweier Staaten, aber Deutschland ist bis heute emotional zweigeteilt. Die sich beschleunigende Globalisierung erzeugte massive Konkurrenz auf den Weltmärkten. Deutschland wandelte sich schnell von der Industrie- zur Dienstleistungs- und heute zur Wissensgesellschaft. Die Lebensformen und -vorstellungen haben eine Vielfalt erreicht, die das Land vorher nicht erlebt hat. Zudem verschärften sich in Deutschland die Verhältnisse, stieg die Arbeitslosigkeit. Der allgemeine Wohlstand sank zwischen 1995 und 2005 spürbar. Die hohe Belastung der Sozialsysteme, an denen sich der Stand der Ausgrenzung unter anderem ablesen lässt, raubte dem Bund, aber auch so manchem Land und den meisten Kommunen phasenweise die Handlungsfähigkeit. Auch das Image Deutschlands litt, als Schulstudien wie PISA plötzlich Bildungsverlierer in den Blickpunkt rückten.

Natürlich verkürze ich hier hochkomplizierte Vorgänge. Vereinfacht lässt sich sagen: Es kommt zu einer Wirkungsumkehr. Deutschland hat zu lange zu viele Menschen ausgeschlossen, ohne sie mit den üblichen Mitteln auffangen oder wieder einbinden zu können. Gegenwärtig kippt das Prinzip Ausgrenzung um. Die Ausgrenzungsfalle schnappt in dem Moment zu, in dem das große Versprechen der Bundesrepublik »Wohlstand für alle« erkennbar nicht mehr für alle gilt.

Damit kein Missverständnis entsteht: Die Ausgrenzung in unserem Land erfolgt auf vergleichsweise hohem Niveau. Selbstverständlich ist die existentielle Armut in Deutschland sehr gering, und im weltweiten Vergleich geht es uns sogar immer noch ziemlich gut. Das ändert aber nichts an den Ängsten, Sorgen und Schicksalen von vielen Millionen Menschen, an der Verunsicherung im Land.

Es macht die Diskussion nicht ungültig oder gar überflüssig, denn die übermäßigen...

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