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Mein Weg zur Kunst

Vollständige Ausgabe

AutorMonika Hunnius
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl345 Seiten
ISBN9783849628369
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Monika Adele Elisabeth Hunnius war eine deutschbaltische Schriftstellerin. Sie gehört zu den bekanntesten deutschen Autorinnen des Baltikums im 20. Jahrhundert. Dies ist ihre Autobiographie.

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Leseprobe

 


Meine Arbeit mit Stockhausen blieb schön und reich. Er war gütig gegen mich und interessierte sich für mein Talent. Ich erlebte ihn nie ungeduldig oder ungerecht, wie ich es in anderen Stunden sah. "Er wird dich schon fassen," sagten meine Freundinnen, "deine Stunde wird auch schlagen." Und meine Stunde schlug.

 

Stockhausen empfand einen gewissen Zwang in meiner Stimme. "Es ist etwas Unnatürliches in Ihrem Singen," sagte er, "als sängen Sie in einer falschen Lage." Er hatte die Gewohnheit, in besonderen Fällen seine Schülerinnen zum Halsarzt zu senden, um sich von diesem genau über den Bau des Kehlkopfes informieren zu lassen. Er schickte mich jetzt zu Dr. Schmidt, der durch seine Behandlung Kaiser Friedrichs berühmt geworden war. Dieser untersuchte meine Kehle und sagte sofort: "Sie haben eine sehr tiefe Stimme; nicht wahr?"

 

"Nein," war meine erstaunte Antwort, "ich habe einen hohen Sopran."

 

"Dem widerspricht der Bau Ihres Kehlkopfes," sagte er entschieden, "Sie benützen Ihre Stimmbänder nicht in ihrer ganzen Spannungsmöglichkeit. Entwickeln Sie Ihre Tiefe und Ihre Stimme wird eine vollständig andere werden. Sie haben ja bisher gar keine Ahnung gehabt von den Kräften, die in Ihnen liegen."

 

Stockhaufen triumphierte. Das war ein Fall, der ihn interessierte. Er nahm sofort meine tiefen Töne vor, die, wie bei einem Sopran, hell und leicht waren. Er trieb und jagte mich, bis plötzlich ein Ton aus der Tiefe meiner Brust kam, wie ich ihn nie zuvor gehabt. Er war gewaltig und stark – dunkel und schwer –, aber roh und unschön. Vor Entsetzen verschloß ich mit beiden Händen meinen Mund. Stockhausen aber jauchzte. "Es liegen gewaltige Kräfte in Ihnen verborgen," sagte er immer wieder, "wir werden Großes erleben." Der Ton versagte, stellte sich aber wieder ein, und mit einem Male hatte ich fünf Töne in der Tiefe zubekommen. Aber sie paßten nicht zu den anderen Tönen, und mit sehr geteilten Gefühlen ging ich diesesmal, von Stockhausens Segenswünschen begleitet, nach Hause.

 

Stockhausen erzählte mir in dieser Stunde, daß er dieselbe Erfahrung mit Hermine Spies, seiner berühmtesten Schülerin gemacht habe. Als hoher Koloraturensopran war sie zu ihm gekommen, aber durch die Entwicklung der Bruststimme, die er entdeckte, hatte ihre Stimmlage und Stimmart sich völlig verändert. Als Stockhausen sie entließ, gehörte sie zu den ersten Altstimmen Deutschlands. Das tröstete mich.

 

Nun begann eine bitterschwere Zeit für mich, die nur durch Stockhausens glühendes Interesse erhellt wurde. Es zeigte sich aber bald auch bei mir, daß er kein Pädagoge, sondern ein Forscher und Künstler war. Es war und blieb eine Trennung zwischen den tiefen Tönen und meiner sonstigen Stimme. Sobald ich zu meinen neugewonnenen Tönen kam, fiel die Stimme wie in einen Abgrund. Mit äußerster Vorsicht und Geduld und feinster Pädagogik hätte dies überbrückt werden müssen. Das aber war nicht Stockhausens Art. Auch das Wachsen mußte bei ihm schnell vor sich gehen. Ich war wie in eine neue Welt geraten, in der ich mich nicht zurechtfinden konnte. Im Chor wurde ich aus dem höchsten Sopran in den tiefsten Alt versetzt. Ich bekam Lieder in den tiefsten Altlagen. Es war mir alles so ungewohnt, unbehaglich und widerwärtig, daß die Freudigkeit beim Studium mich zu verlassen anfing. Eins aber konnte ich festhalten, und das tröstete mich: Ich fühlte, daß die Lage, in der ich nun sang, gesünder für meine Stimme war, als die frühere. Ich konnte auf diese Art viel länger singen wie bisher, ohne zu ermüden. Eine Aussprache mit Stockhausen, zu der ich mich endlich entschloß, beruhigte mich auch ein wenig; doch wurde eins mir dabei völlig klar: daß mit einem Studienjahr nichts zu erreichen wäre.

 

Meine Kolleginnen standen mir zur Seite, tröstend, helfend und mit mir arbeitend. Sie halfen mir über die schwerste Zeit hinweg in treuster Kameradschaft. Ohne sie wäre ich ganz elend geworden; denn Stockhausens Geduld mit mir hatte plötzlich ein Ende, "er hatte mich gefaßt," wie es unter uns hieß. Noch eins hielt mich aufrecht; das waren die großen, künstlerischen Erkenntnisse, die mir durch Stockhausen wurden, und die mein Leben trotz allem schön und reich machten. Mein Singen war früher aus dem Gefühl heraus vollkommen unbewußt gewesen. Ich stürzte mich in ein Lied und gab es so wahr und stark, wie ich es empfunden, wieder, jedes Wort so ausdrucksvoll wie möglich aussprechend. Stockhausen lehrte mich den künstlerischen Drüberstand finden. Den "Wortausdruck" nannte er dilettantisch. "Der Sänger muß einmal geweint und gelacht haben beim Studieren des Liedes," sagte er, "aber wenn er vor dem Publikum steht, muß sein Kopf kühl geworden sein, und er muß das Lachen und Weinen nun so schildern, daß jeder es ihm glaubt." Er verlangte, daß ein Kunstwerk, losgelöst vom Ausübenden, gleichsam in eine höhere Sphäre gerückt werde. "Sie müssen als Künstler die Leidenschaften gefühlt haben, von denen Sie sprechen. Die Empfindungen, von denen Sie singen, müssen einmal erlebt gewesen sein. Stehen Sie aber auf dem Podium, so müssen Sie immer über Ihrem Schaffen stehen; sonst können Sie nie ein Kunstwerk gestalten."

 

Ich war voll Erstaunen. Das war für mich eine ganz neue Welt, und diese Anschauung wollte mir zuerst nicht einleuchten. "Sie denken noch wie ein Dilettant," sagte Stockhausen.

 

Aber es kamen auch mir allmählich die künstlerischen Erkenntnisse in der Atmosphäre, in der ich atmen durfte. Stockhausen zog eine feine Linie zwischen Konzert- und Operngesang. "In der Oper müßt ihr das Publikum davon überzeugen, daß ihr das wirklich seid, was ihr vorstellt; denn da muß der schöne Schein als Wirklichkeit festgehalten werden; da verwirklicht ihr mit eurer ganzen Persönlichkeit das, was ihr singt. Im Konzertgesang müßt ihr mit eurer Person vollständig zurücktreten; da seid ihr nichts anderes als die Interpreten vom Dichter und Komponisten."

 

Unerbittlich wachte er über jede Bewegung, die wir unwillkürlich beim Singen machten, wenn uns der Ausdruck hinriß. Er verbot sogar ein zu starkes Mienenspiel. "Das gehört auf die Bühne," sagte er herrisch, "auf dem Konzertpodium dürfen nur Mund und Augen sprechen."

 

Es kamen schwere Zeiten für mich; denn ich konnte mich lange nicht in meine neue Stimmlage finden. Ich mußte alles umdenken und umfühlen und war in meinem Singen nicht mehr zu Hause. Aber den Glauben an Stockhausen verlor ich keinen Augenblick. Beim Üben mußte ich eine unermeßliche Geduld aufbringen; oft war ich der Verzweiflung nahe.

 

Es gab nichts als technische Übungen und abermals technische Übungen, die gewiß interessant hätten gestaltet werden können, doch das lag Stockhausen nicht. Er war wechselnd in meinen Stunden: manchmal voller Güte und Geduld; dachte sich immer wieder neue Übungen aus, um den Riß in meinen Registern zu überbrücken; dann aber kam die Ungeduld über ihn und er kränkte und quälte mich maßlos.

 

Eines Tages empfing er mich mit folgenden Worten: "Sie sind Slavin und darum schlaff. Wären Sie eine Deutsche, so hätten Sie die Hindernisse in Ihrer Stimme längst überwunden. Die Slaven haben keine Kraft."

 

"Ich bin eine Deutsche," rief ich empört, "und nicht ein Tropfen slavisches Blut fließt in meinen Adern."

 

"Sie sind doch Russin," sagte er, steckte seine Hände in die Taschen und sah mich spöttisch an.

 

"Wie kommen Sie nur darauf?" rief ich außer mir. "Wissen Sie denn wirklich nicht, was wir Balten sind?"

 

Da nahm er seine Hände aus den Taschen und lachte: "Der heilige Zorn steht Ihnen gut," sagte er.

 

Es gab auch Tage, wo der Übergang zwischen den Registern ausgeglichener war; das gab mir immer wieder Mut und Hoffnung. Meine Stimme veränderte sich und wurde schöner und stärker, aber ich hatte noch kein Verhältnis zu ihr.

 

Ich schrieb von der Veränderung meiner Stimme an meine alte Lehrerin in Riga, berichtete ihr von meinen Übungen und sprach ihr meinen festen Glauben an Stockhausens richtige Führung aus. Ich bekam einen empörten Brief von ihr, in dem sie mir den Untergang meiner Stimme prophezeite. Sie fürchtete für ihren Ruf als Lehrerin und sah die ganze Umänderung meiner Stimme als Schädigung und Undankbarkeit von meiner Seite an. Der Brief war in sehr beleidigender Form gehalten und zerriß das letzte Band, das mich an sie fesselte. Manchmal wundere ich mich jetzt, zurückblickend auf diese Zeit, wie stark mein Vertrauen zu Stockhausen im Grunde doch war. So schwer ich litt, so mühselig oft die Arbeit war, so gern ich die Entwicklung meiner Stimme beschleunigt hätte, an der Richtigkeit meines Weges habe ich nie gezweifelt.

 

Übergang ins Konservatorium


 


Im Frühsommer dieses Jahres trat eine große Veränderung in unser aller Leben: Stockhausen wurde als Professor an Dr. Hochs Konservatorium berufen. Bernhard Scholz übernahm das Direktorat und hatte Stockhausens Berufung verlangt. Die Herren des Kuratoriums sollen gezögert haben, auf diese Bedingung einzugehen, denn Stockhausen war durch seine Schwierigkeit im Zusammenarbeiten bekannt; er konnte eben nur Alleinherrscher sein. Aber Clara Schumann, die auch am Konservatorium unterrichtete, setzte mit Bernhard Scholz seine Berufung durch. Stockhausen forderte seine ganze Schule auf, mit ihm ins Konservatorium überzusiedeln. Mit sehr geteilten...

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