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E-Book

Punkt und Linie zu Fläche

Analyse der malerischen Elemente

AutorWassily Kandinsky
Verlage-artnow
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl83 Seiten
ISBN9788026867685
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis1,99 EUR
Dieses eBook: 'Punkt und Linie zu Fläche' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Kandinsky besaß eine außergewöhnliche bildnerische Intelligenz und hatte ein ausgeprägtes Empfinden für Farbe und Form. - 'Der Punkt ist Urelement, Befruchtung der leeren Fläche. Die Horizontale ist kalte, tragende Basis, schweigend und 'schwarz'. Die Vertikale ist aktiv, warm, 'weiß'. Die freien Geraden sind beweglich, 'blau' und 'gelb'. Die Fläche selbst ist unten schwer, oben leicht, links wie 'Ferne', rechts wie 'Haus'.' - Wassily Kandinsky: Punkt und Linie zu Fläche (1926) Wassily Kandinsky (1866-1944) war ein russischer Maler, Grafiker und Kunsttheoretiker, der auch in Deutschland und Frankreich lebte und wirkte. Kandinsky war ein Künstler des Expressionismus und einer der Wegbereiter der abstrakten Kunst. Er wird häufig nach eigenen Angaben als Schöpfer des ersten abstrakten Bildes der Welt genannt.

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Leseprobe

PUNKT


Geome trischer Punkt


Der geometrische Punkt ist ein unsichtbares Wesen. Er muß also als ein unmaterielles Wesen definiert werden. Materiell gedacht gleicht der Punkt einer Null.

In dieser Null sind aber verschiedene Eigenschaften verborgen, die „menschlich“ sind. In unserer Vorstellung ist diese Null — der geometrische Punkt — mit der höchsten Knappheit verbunden, d. h. mit der größten Zurückhaltung, die aber spricht.

So ist der geometrische Punkt in unserer Vorstellung die höchste und höchst einzelne Verbindung von Schweigen und Sprechen.

Deshalb hat der geometrische Punkt seine materielle Form in erster Linie in der Schrift gefunden — er gehört zur Sprache und bedeutet Schweigen.

Schrift


In der fließenden Rede ist der Punkt das Symbol der Unterbrechung, des Nichtseins (negatives Element), und zur selben Zeit ist er eine Brücke von einem Sein zum anderen (positives Element). Das ist in der Schrift seine innere Bedeutung.

Äußerlich ist er hier bloß ein Zeichen in einer zweckmäßigen Verwendung, die das Element des „Praktisch-Zweckmäßigen“ in sich trägt, das wir schon als Kinder kennenlernen. Das äußere Zeichen wird zur Gewohnheit und verschleiert den inneren Klang des Symbols.

Das Innere wird durch das Äußere zugemauert.

Der Punkt gehört zum engeren Kreis der Gewohnheitserscheinungen mit ihrem traditionellen Klang, der stumm ist.

Schwelgen


Der Klang des mit dem Punkt gewohnheitsmäßig verbundenen Schweigens ist so laut, daß er die anderen Eigenschaften vollkommen übertönt.

Alle traditionell gewohnten Erscheinungen werden durch ihre einseitige Sprache stumm. Wir hören nicht mehr ihre Stimme und sind vom Schweigen umgeben. Dem „Praktisch-Zweckmäßigen“ unterliegen wir tödlich.

Stoß


Manchmal ist eine außergewöhnliche Erschütterung imstande, uns aus dem toten Zustand zu einem lebendigen Empfinden herauszureißen. Nicht selten vermag aber auch das kräftigste Rütteln nicht, den toten Zustand in einen lebendigen zu verwandeln. Die von außen kommenden Erschütterungen (Krankheit, Unglück, Kummer, Krieg, Revolution) reißen mit Gewalt für kürzere oder längere Zeit aus dem Kreise der traditionellen Gewohnheiten heraus, werden aber in der Regel bloß als ein mehr oder weniger gewaltiges „Unrecht“ empfunden. Dabei überwiegt alle anderen Gefühle der Wunsch, so bald wie möglich zu dem verlassenen Zustand der traditionellen Gewohnheit zurückzukehren.

Von innen


Die von innen kommenden Erschütterungen sind anderer Art — sie werden vom Menschen selbst verursacht und haben also in ihm selbst einen geeigneten Boden. Dieser Boden ist nicht die Fähigkeit, die „Straße“ bloß durch die „Glasscheibe“ zu beobachten, die hart, fest, aber leicht zerbrechlich ist, sondern die Fähigkeit des Sichindiestraßebegebens. Das offene Auge und das offene Ohr führen die geringsten Erschütterungen zu großen Erlebnissen. Von allen Seiten strömen Stimmen zu, und die Welt klingt.

Wie ein Forscher, der sich in neue, unbekannte Länder vertieft, macht man Entdeckungen im „Alltäglichen“, und die sonst stumme Umgebung fängt an, eine immer deutlichere Sprache zu sprechen. So werden die toten Zeichen zu lebenden Symbolen, und so wird das Tote lebendig.

Natürlich kann auch die neue Kunstwissenschaft nur dann entstehen, wenn die Zeichen zu Symbolen werden und das offene Auge und das offene Ohr den Weg vom Schweigen zum Sprechen ermöglichen. Wer dies nicht kann, der lasse lieber die „theoretische“ und die „praktische“ Kunst in Frieden — seine Bemühungen um die Kunst werden nie zu einer Brücke führen, sondern sie werden die heutige Spalte zwischen Mensch und Kunst nur immer mehr erweitern. Gerade solche Menschen sind heute bemüht, hinter das Wort Kunst einen Abschlußpunkt zu stellen.

Herausreißen


Durch das allmähliche Herausreißen des Punktes aus dem engen Kreis seines gewohnten Wirkens bekommen seine bis jetzt schweigenden inneren Eigenschaften einen immer mehr wachsenden Klang.

Diese Eigenschaften — innere Spannungen — kommen eine nach der anderen aus der Tiefe seines Wesens heraus und strahlen ihre Kräfte aus. Und ihre Wirkungen und Einflüsse auf den Menschen überwinden immer leichter die Hemmungen. Kurz — der tote Punkt wird zum lebenden Wesen.

Unter vielen Möglichkeiten sollen zwei typische Fälle erwähnt werden:

Erster Fall


1. Der Punkt wird aus dem praktisch zweckmäßigen Zustand in einen unzweckmäßigen, also in einen alogischen versetzt.

Heute gehe ich ins Kino.

Heute gehe ich. Ins Kino

Heute gehe. Ich ins Kino

Es ist klar, daß es im zweiten Satz noch möglich ist, die Versetzung des Punktes als eine zweckmäßige aufzufassen — Unterstreichen des Ziels, Nachdruck der Absicht, Posaunenklang.

Im dritten Satz ist die reine Gestalt des Alogischen in Tätigkeit, was aber als Druckfehler erklärt werden kann — der innere Wert des Punktes blitzt einen Augenblick heraus und wird sofort gelöscht.

Zweiter Fall


2. Der Punkt wird dadurch aus seinem praktisch zweckmäßigen Zustand versetzt, so daß er außerhalb der Reihenkette des laufenden Satzes zu stehen kommt.

Heute gehe ich ins Kino

In diesem Falle muß der Punkt eine größere freie Umgebung um sich herum haben, damit sein Klang eine Resonanz erhält. Trotzdem bleibt aber dieser Klang zart, bescheiden und wird von der ihn umgebenden Schrift übertönt.

Weitere Befreiung


Bei Vergrößerung der freien Umgebung und der Größe des Punktes selbst vermindert sich der Klang der Schrift und der Klang des Punktes gewinnt an Deutlichkeit und Kraft (Fig. 1).


Fig. 1

So entsteht ein Zweiklang — Schrift-Punkt — außer dem praktisch- zweckmäßigen Zusammenhang. Es ist ein Balancieren von zwei Welten, das nie zum Ausgleich kommen kann. Dies ist ein zweckloser revolutionärer Zustand — die Schrift wird durch einen Fremdkörper erschüttert, der in keinen Zusammenhang mit ihr gebracht werden kann.

Selbständiges Wesen


Aber trotzdem ist der Punkt aus seinem Gewohnheitszustand herausgerissen worden, und so nimmt er den Anlauf zum Sprung aus einer Welt in eine andere, wo er sich von der Unterordnung, vom Praktisch- Zweckmäßigen befreit, wo er als ein selbständiges Wesen zu leben anfängt und wo seine Unterordnung sich zu einer innerlich-zweckmäßigen verwandelt. Dies ist die Welt der Malerei.

Durch Zusammenstoß


Der Punkt ist das Resultat des ersten Zusammenstoßes des Werkzeuges mit der materiellen Fläche, mit der Grundfläche. Papier, Holz, Leinwand, Stuck, Metall usw. können diese materielle Grundfläche bilden. Das Werkzeug kann Bleistift, Stichel, Pinsel, Feder, Nadel usw. sein. Durch diesen ersten Zusammenstoß wird die Grundfläche befruchtet.

Begriff


Der äußere Begriff des Punktes in der Malerei ist unpräzis. Der materialisierte unsichtbare geometrische Punkt muß eine gewisse Größe bekommen, die eine gewisse Fläche der Grundfläche in Anspruch nimmt. Außerdem muß er gewisse Grenzen — Umrisse — haben, die ihn von der Umgebung abtrennen.

Dies ist selbstverständlich und scheint erst sehr einfach. Aber auch in diesem einfachen Falle stößt man sofort auf Unpräzisitäten, die auf den ganz embryonalen Zustand der heutigen Kunsttheorie hinweisen.

Die Größen und die Formen des Punktes ändern sich, wodurch sich auch der relative Klang des abstrakten Punktes mitverändert.

Äußerlich kann der Punkt als die kleinste Elementarform bezeichnet werden, was aber nicht genau ist. Es ist schwer, die genauen Grenzen des Begriffes ,, kleinste Form“ zu ziehen — der Punkt kann wachsen, zur Fläche werden und unbemerkt die ganze Grundfläche bedecken — wo wäre dann die Grenze zwischen Punkt und Fläche?

Hier sind zwei Bedingungen zu berücksichtigen:

  1. das Verhältnis des Punktes zur Grundfläche in bezug auf die Größe und
  2. das Größenverhältnis zu den übrigen Formen auf dieser Fläche. Was noch immer als Punkt auf der sonst leeren Grundfläche gelten kann, das muß als Fläche bezeichnet werden, wenn z. B. eine sehr dünne Linie auf die Grundfläche hinzukommt (Fig. 2).

Fig. 2

Ein Verhältnis der Größen in dem ersten und in dem zweiten Falle bestimmt den Begriff des Punktes, was aber heute nur gefühlsmäßig abgewogen werden kann — der genaue Zahlenausdruck fehlt.

An der Grenze


Abstrakte Form

So sind wir heute imstande, bloß gefühlsmäßig auch das Herantreten des Punktes an seine äußere Größe zu bestimmen und zu werten Dieses an die äußere Grenze Herantreten, ja ein gewisses Überschreiten dieser Grenze, das Erreichen des Augenblickes, zu dem der Punkt als solcher zu verschwinden anfängt und an seiner Stelle die Fläche embryonal zu leben beginnt, ist ein Mittel zum Ziel. Dieses Ziel ist in diesem Falle die Verschleierung des absoluten Klanges, die Auflösungsbetonung, der Unpräzisitätsklang in der Form, die Unstabilität, die positive (bzw. auch negative) Bewegung, das Flimmern, die Spannung, die Unnatürlichkeit in der Abstraktion, das Wagnis der inneren Überschneidung (die inneren Klänge des Punktes und der Fläche prallen zusammen, überschneiden sich und prallen zurück), der Doppelklang in einer Form, d. h. das Bilden des Doppelklanges durch eine Form. Diese Mannigfaltigkeit und Kompliziertheit im Ausdruck der „kleinsten“ Form — erzielt durch doch geringe Veränderungen seiner Größe—bieten auch dem Unbefangenen ein plausibles Beispiel der Ausdruckskraft...

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