Das erste Phänomen, das ich behandeln werde, ist die aktuelle Entwicklung der FDP. Wie bereits dargestellt, hat sie bei der Bundestagswahl im September 2009 ihr bisher bestes Ergebnis erreicht. Sie lag mit 14,6 Prozent klar vor den anderen beiden „kleinen“ Parteien Die Grünen und Die Linke an dritter Stelle hinter SPD und Union. Damit konnte sie das eher schwache Ergebnis der Union von 33,8 Prozent ausgleichen, um die sowohl von der Union als auch der FDP favorisierte schwarz-gelbe Koalition zu bilden. Nach Eckhard Jesse übernahm die FDP damit wieder einmal die Rolle des „Schrittmachers“, da sie wie 1966 und 1969 einen Regierungswechsel zwischen den Lagern begünstigte. Damals wechselten die Liberalen selbst das Lager von der Union zur SPD, während sie diesmal durch ihre hohen Stimmengewinne einen Wechsel von Rot-Grün über die Große Koalition ab 2005 zu Schwarz-Gelb begünstigten (vgl. Jesse 2009: 400). Aber wie konnten sie diesen Erfolg ermöglichen? Um diese Frage zu klären, muss man sich die Geschichte der Partei besonders seit 2001 anschauen. Dort übernahm Guido Westerwelle das Amt des Parteivorsitzenden und richtete die Partei neu aus. Nach der Betrachtung der Bundestagswahl 2009 stellt sich dann die Frage, wie dieser Wahlerfolg vom September 2009 so schnell verspielt werden konnte. Schließlich ist die FDP in Umfragen und besonders bei der Landtagswahl im Mai 2010 deutlich in der Wählergunst gefallen. Ein Blick auf die Wähler soll hier etwas Klarheit verschaffen.
Als Guido Westerwelle 2001 den Vorsitz der FDP übernimmt, ist die Partei nur in fünf Landesparlamenten vertreten (vgl. Walter 2010: 52 f.). Zudem ist sie im Bund seit 1998 in der Opposition. Die Bundestagswahl 1998 hatte ihr mit 6,2 Prozent ähnlich wie 1994 kein gutes Ergebnis eingebracht[1]; diesmal musste sie aber das erste Mal seit dem Regierungsantritt 1969 in der Regierung Brandt und Scheel wieder in die Opposition. Vergleicht man die Situation der Partei 2001 mit der von 2009, so wird klar, wie schwierig die Lage damals für Westerwelle war. 2009 war die FDP in 15 Landesparlamenten vertreten. Westerwelle verfolgte von Anfang an ein Projekt, dass auf die Verbreiterung und strategische Neuausrichtung der Partei gemünzt war. Er wollte sie zu einer „[…] neuliberalen Identitätspartei [machen], die nicht allein in Honoratiorenresten des Landes verwurzelt bleibt, sondern zu einer eigenständigen Partei eines neuen Lebensgefühls mit einer konsistenten Programmatik werden sollte […]“. (Walter 2010: 53) Allerdings hatte diese Strategie in Bezug auf die inhaltliche Arbeit den Nachteil, dass sie zu einer programmatischen Verengung führte. Westerwelle wollte zwar die FDP aus der alten Lagerkonfiguration lösen, die gerade durch die lange Regierungszeit mit der CDU unter Helmut Kohl zementiert worden war, aber er erreichte eher das Gegenteil, nämlich die weitere Fixierung auf die Union. Das neue Lebensgefühl, das er mit seiner Strategie ansprechen und in die Partei integrieren wollte, konnte ein umfassendes und modernes politisches Programm nicht ersetzen. Dennoch hat er das Parteiprogramm von 1997, an dem er als Generalsekretär maßgeblich beteiligt war, bis heute nicht aktualisieren lassen, da er sein Projekt nach wie vor nicht als vollendet ansieht. Er hält also an den Programmzielen, die er 1997 mit formuliert hat, bis heute fest.
Sein zweites Ziel, die Partei in Bezug auf die Wähler breiter aufzustellen, ist ihm aber gelungen. So ist die Wählerbasis z.B. durch das „Projekt 18“ im Jahr 2002 breiter und stabiler geworden. Bei Wahlen ab 2002 konnte die FDP Zugewinne bei gering qualifizierten und jungen Wählern („Generation Golf“) verbuchen. Westerwelle wollte aber auch aus dem Zerfall der konservativen, vornehmlich christdemokratischen, Kernlager profitieren und hat dies teilweise ebenfalls geschafft. Ab 2005 wurden die eben genannten Zuwächse bei eher schwach qualifizierten Wählern, die zulasten der traditionellen Bürgerlichkeit gingen, durch Erfolge bei Selbständigen und Hochgebildeten ausgeglichen. Auch bei der Bundestagswahl 2009 setzte sich dieser Trend fort, indem 26 Prozent der Selbständigen die Liberalen wählten, was ein Plus von sieben Prozentpunkten gegenüber 2005 bedeutete. Bei dieser Entwicklung sammelten sie auch im neureichen Bürgertum durch die Steuersenkungsparolen besonders die Gegner des Steuerstaates ein (vgl. Walter 2010: 43, 53). Der Zerfall der christdemokratischen Wählerlager bezieht sich auch auf die Tendenz, die Vester bei der Frage der Krise der Repräsentation verdeutlicht hat (siehe Punkt 2.3). Gut sieben Prozent des konservativen Kernlagers konnten durch Modernisierungen in Sachen Bildung und Lebensstil schon in den 1990er Jahren nicht mehr von den Unionsparteien repräsentiert werden. Erfolg hatten die Liberalen auch bei der Mitgliederentwicklung: Die FDP war 2001 und 2002 die einzige der etablierten Parteien, die einen Mitgliederzuwachs verzeichnen konnte. Sie hat auch aktuell ca. 20.000 Mitglieder mehr als die Grünen. Auch im Altersdurchschnitt macht der Mitgliederbestand einen guten Eindruck, da die Mitglieder bis 29 Jahre einen Anteil von 11,5 Prozent ausmachen, was doppelt so viel ist wie bei CDU und SPD (vgl. Walter 2010: 52 f.).
Aber die Mitgliederentwicklung und die Erweiterung der Wählerbasis haben auch ihre Schattenseiten. Bei der Mitgliederentwicklung sind zwei Faktoren bedenklich: Die Großstädte und der Frauenanteil. Die Mitgliederzahlen sind besonders in den Großstädten seit 1990 stark rückläufig, so z.B. in Hamburg und Bremen um jeweils ein Drittel. Der Frauenanteil ist ebenfalls seit 1990 bei der FDP als einziger der etablierten Parteien rückläufig und liegt mit 22,8 Prozent auch noch niedriger als bei den anderen. Franz Walter macht in diesem Zusammenhang noch darauf aufmerksam, dass auch alle Landtagsfraktionen der Liberalen zurzeit von Männern angeführt werden (vgl. Walter 2010: 55). Die Bundestagsfraktion unter Führung von Birgit Homburger stellt dort also eine Ausnahme dar. Diese Schwachstellen in der Mitgliederstruktur spiegeln sich in Problemen bei der Repräsentation bestimmter Wählerlager wider. In vielen Großstädten wie München, Frankfurt oder Berlin ist die Partei von der Macht ausgeschlossen. In Hamburg, in der ein weltoffener Liberalismus eigentlich die besten Voraussetzungen habe, ist die FDP nicht einmal in der Bürgerschaft vertreten. Bei den kreativen und urbanen Milieus ist die Partei oftmals schwächer als die Grünen, die hier der Hauptkonkurrent sind. Daher ist es bezeichnend, dass in Hamburg die Grünen mit der CDU regieren. „Die Freien Demokraten Westerwelles reden zwar anklagend von der »vergessenen Mitte« in Deutschland. Doch zumindest im urbanen Raum hat der parteipolitische Liberalismus eben diese Mitte selbst folgenreich vernachlässigt.“ (Walter 2010: 55) Auf gravierende Weise ist dieses Defizit besonders bei den Frauen ab 35 Jahren in den Großstädten zu beobachten. Während in den Klein- und Mittelstädten, die gerade in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg die Hochburgen der FDP darstellen, die Frauen weniger erwerbstätig sind als in den Großstädten, stehen sie hier unter einem viel größeren beruflichen und familiären Druck. Und diese urbanen Frauen hätten in der FDP kaum einen thematischen Widerhall (vgl. Walter 2010: 55). An dieser Stelle mischt sich also das Defizit in den Großstädten mit der Repräsentation moderner Lebensführung und modernen Anforderungen an die Lebensführung, die leider oftmals ein weibliches Problemfeld darstellt. Die starke Betonung der Leistungsorientierung bei den Liberalen mag hier ein zwiespältiges Gefühl auslösen, das neben der betonten Weltoffenheit und Toleranz der Liberalen bei den gut qualifizierten Frauen einen bitteren Beigeschmack haben kann, wenn eben Leistungsbereitschaft in Beruf und Familie nicht so einfach zu vereinbaren ist.
Die aktuelle FDP setzt hier ganz auf den Primat der Ökonomie und lässt ihre traditionell versöhnende und vermittelnde liberale Gangart seit dieser Priorisierung ruhen. Dadurch fehlt es ihr laut Walter an Balance und kultureller Empathie für die Spannungslinien in der Gesellschaft, die gerade für Frauen oftmals von Bedeutung seien. Dabei wären gerade die gut ausgebildeten jungen Akademikerinnen mit einem leistungsorientierten Individualismus, einer kulturellen Vielsprachigkeit und ökologischer Ernsthaftigkeit ein erfolgsversprechendes Wählerpotential (vgl. Walter 2010: 56 f.). Doch die Liberalen unter Westerwelle setzen seit 2001 andere Schwerpunkte. Walter schreibt, dass sich die ab 2001 neu erschlossenen Milieus der jungen, sich (angeblich) individualisierenden Menschen aber schon gewandelt hätten, während die FDP bis heute bei ihrer programmatischen und strategischen Ausrichtung von damals stehen geblieben sei. Die Funktionäre und Delegierten der Partei würden im Gros dieser Ausrichtung entsprechen, wobei sie die Individualisierung auf die Spitze getrieben hätten: „Auch sonst stellt man als Beobachter von außen verblüfft fest, wie sehr einige der gängigen Klischees über die Freidemokraten, gerade der jüngeren Generation, tatsächlich zutreffen: maßgeschneiderte Anzüge, randlose Brillen, Gelfrisuren, sauber gereinigte Lackschuhe […]“ (Walter 2010: 57). Hier herrsche immer noch das „anything goes“ aus den 1990er Jahren vor, das sich im Programm von 1997 manifestierte. Der Gemeinsinn des Bildungsbürgertums sei diesen Leuten verloren gegangen. Dagegen hätten sich die...