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Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint

Eine Reise in die Welt der Quantengravitation

AutorCarlo Rovelli
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783644052512
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Was ist Wirklichkeit? Existieren Raum und Zeit tatsächlich, wenn wir uns anschicken, die elementarsten Grundlagen unserer Existenz zu erforschen? Wie viel davon können wir überhaupt verstehen? Carlo Rovelli beschäftigt sich seit vielen Jahren damit, die Grenzen unseres Verstehens zu erweitern. In diesem Buch nimmt er uns mit auf eine Reise, die von dem Realitätsverständnis der griechischen Klassik bis zur Schleifenquantengravitation führt. Ein großer Physiker unserer Zeit macht sich auf, uns ein neues Welt-Bild zu zeichnen: mit einem physikalischen Universum ohne Zeit, einer Raumzeit, die aus Schleifen und Körnchen besteht und in der Unendlichkeit nicht existiert. Einer Kosmologie, die ohne Urknall und Paralleluniversen auskommt und hier zum ersten Mal von einem ihrer «Erfinder» für ein breites Publikum einfach und ausführlich erklärt wird. Ein Buch über «die großen Herausforderungen der gegenwärtigen Naturwissenschaften, die all unser Wissen über die Natur in Frage stellen» (Rovelli).

Carlo Rovelli, geboren 1956 in Verona, ist seit 2000 Professor für Physik an der Universität Marseille. Zuvor forschte und lehrte er unter anderem am Imperial College London, der Universität Rom, der Yale University, an der Universita dell' Aquila und an der University of Pittsburgh. 1998/99 war er Forschungsdirektor am Zentrum für Theoretische Physik (CPT) in Luminy. Er hat die italienische und die amerikanische Staatsbürgerschaft Zusammen mit Lee Smolin entwickelte er die Theorie der Schleifenquantengravitation, die international als verheißungsvollste Theorie zur Vereinigung von Einsteins Gravitationstheorie und der Quantentheorie gilt. 

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Leseprobe

2. Die Klassiker


Isaac und der kleine Mond


Sollte ich im vorangegangenen Kapitel den Eindruck erweckt haben, dass Platon und Aristoteles der Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens nur geschadet hätten, so muss ich dies hier sogleich zurechtrücken. Die Untersuchungen des Aristoteles zur Natur – zum Beispiel zur Botanik und Zoologie – sind hervorragende wissenschaftliche Werke, die auf einer genauen Beobachtung der Natur beruhen. Mit seiner begrifflichen Klarheit, seiner Aufmerksamkeit für die natürliche Vielfalt, seiner beeindruckenden Intelligenz und seinem weitgespannten Horizont blieb Aristoteles über Jahrhunderte als Philosoph maßgebend. Die früheste systematische Physik, die wir kennen, ist die des Aristoteles und alles andere als eine schlechte.

Aristoteles präsentierte seine Physik in einem Buch mit ebendiesem Titel. Dabei erhielt seine Physik ihren Titel nicht nach dem Fachgebiet, sondern umgekehrt gab dieser Titel dem Fachgebiet seine Bezeichnung. Und so funktionierte Aristoteles’ Physik: Wichtig war vor allem die Unterscheidung zwischen Himmel und Erde. Der Himmel besteht aus konzentrischen Kristallsphären, die sich ewig um eine kugelförmige Erde drehen, die reglos im Mittelpunkt des Universums steht. Auf der Erde ist dagegen zwischen der erzwungenen und der natürlichen Bewegung zu unterscheiden. Die zuerst genannte wird von einem Anstoß verursacht, mit dem zusammen sie ausläuft. Dagegen verläuft die natürliche Bewegung vertikal, je nach Substanz, nach oben oder nach unten. Jede Substanz hat ihren «natürlichen Ort», eine ihr eigene Ebene, auf die sie stets zurückkehrt: Dieser Ort ist bei der Erde ganz unten, beim Wasser ein wenig darüber, bei der Luft noch weiter oben und beim Feuer ganz in der Höhe. Wenn wir einen Stein anheben und ihn fallen lassen, kehrt er aus natürlichem Antrieb auf seine Ebene zurück. Dagegen streben Luftblasen im Wasser oder Flammen in der Luft nach oben, stets ihrem natürlichen Ort zu.

Obwohl häufig belächelt oder bespöttelt, verdient diese Physik das beste Zeugnis: Sie beschreibt genau und korrekt die Bewegung von Körpern, die in eine Flüssigkeit eingetaucht oder der Schwerkraft oder Reibung ausgesetzt sind, wie es praktisch bei allen Körpern aus unserer Erfahrungswelt der Fall ist. Mitnichten handelt es sich, wie häufig behauptet, um eine physikalische Irrlehre. Sie liefert vielmehr eine annähernde Beschreibung der tatsächlichen Verhältnisse. Auch Newtons Physik sollte nur eine Annäherung darstellen, wenn man die Allgemeine Relativitätstheorie zum Maßstab nimmt. Und wahrscheinlich sind auch sämtliche heutigen Erkenntnisse nur Annäherungen an das, was wir bislang noch nicht wissen. Die aristotelische Physik machte etwas grobe, wenig quantitative Aussagen (Berechnungen waren unüblich), war aber sehr kohärent, rational und in der Lage, richtige qualitative Vorhersagen zu treffen. Nicht umsonst blieb sie über Jahrhunderte hinweg ein Modell für das Verständnis der Bewegung.

Wohl noch bedeutender für die künftige Entwicklung der Wissenschaft wirkte Platon. Er erkannte die Tragweite der großen Einsicht des Pythagoras (um 570–nach 510) und der Pythagoreer: Den Schlüssel zum Fortschritt und zur Überwindung des Denkens von Milet bildete die Mathematik. Pythagoras kam auf Samos, einer Insel vor Milet, zur Welt. Seine antiken Biographen, so Iambichos von Chalkis und Porphyrios, berichten, dass der junge Pythagoras Schüler des betagten Anaximander gewesen sei. Alles beginnt mit Milet. Pythagoras unternahm ausgedehnte Reisen, wahrscheinlich nach Ägypten und Babylonien, und ließ sich schließlich im süditalienischen Kroton (heute Crotone) nieder, wo er eine religiös-politisch-naturphilosophische Sekte gründete. Diese sollte auf die städtische Politik bedeutenden Einfluss ausüben und der ganzen Welt ein wesentliches Erbe hinterlassen: die Entdeckung der theoretischen Bedeutung der Mathematik. Pythagoras werden die Worte zugeschrieben: «Die Zahl beherrscht die Formen und Ideen.»

Platon befreite das pythagoreische Denken von seinem sperrigen und nutzlosen mystischen Ballast und filterte die nützliche Botschaft heraus: Die geeignete Sprache, um die Welt zu verstehen und zu beschreiben, ist die Mathematik. Diese Intuition war von gewaltiger Tragweite und bildete einen Grund für den Erfolg der abendländischen Wissenschaft. Der Legende nach liess Platon in die Eingangstür zu seiner Schule den Satz einschnitzen: «Ohne Kenntnis der Geometrie soll keiner eintreten.»

Angetrieben von dieser Überzeugung, warf Platon die schicksalhafte Frage auf, aus der über einen langen Umweg die moderne Wissenschaft hervorgehen sollte: Nach welchen mathematischen Gesetzen zogen die wahrnehmbaren Himmelskörper ihre Bahnen? Venus, Mars und Jupiter waren am Nachthimmel gut sichtbar und schienen sich inmitten der übrigen Sterne irgendwie zufällig vor und zurück zu bewegen: Platon forderte seine Schüler auf, eine Mathematik zu entwickeln, mit denen sich ihre Bewegung beschreiben und vorhersagen ließ.

Dank dieser Übung, die Eudoxos von Knidos (zwischen 397 und 390–345 und 338 v. Chr.) in Platons Schule einführte und die in den nachfolgenden Jahrhunderten von den bedeutendsten Astronomen, so Aristarch und Hipparchos, weiterentwickelt wurde, erreichte die antike Astronomie höchstes wissenschaftliches Niveau. Bekannt sind ihre glanzvollen Leistungen dank der einzigen Schrift, die dazu erhalten blieb: der Almagest des Ptolemäus. Claudius Ptolemäus (um 100–nach 160 n. Chr.) lebte relativ spät, im Alexandria der Römerzeit, in der das wissenschaftliche Denken schon im Niedergang begriffen war. Angeschlagen vom Zusammenbruch der hellenischen Welt und von der nachfolgenden Christianisierung des römischen Reichs erdrückt, verschwand es schließlich vollends.

Ptolemäus’ Schrift ist ein gewaltiges Wissenschaftswerk. Auf genauer Beobachtung beruhend und komplex, präsentiert es ein System mathematischer Astronomie, das in der Lage ist, die scheinbar zufälligen Bewegungen der Planeten am Himmel mit fast absoluter Treffsicherheit vorherzusagen, soweit es die Beobachtungsfähigkeit des menschlichen Auges zulässt. Der Almagest belegt, dass die Eingebung des Pythagoras tatsächlich funktioniert. Mathematik macht es möglich, die Welt zu beschreiben und die Zukunft vorauszusagen. Die scheinbar ziellosen und unregelmäßigen Bewegungen der Planeten sind vorhersagbar dank mathematischer Formeln, die Ptolemäus systematisch und meisterhaft anhand der zusammengefassten Ergebnisse darlegt, die griechische Astronomen über Jahrhunderte zusammengetragen haben. Noch heute kann man mit etwas Mühe die Techniken aus Ptolemäus’ Werk erlernen und berechnen, in welcher Position zum Beispiel der Mars zu einem künftigen Zeitpunkt am Himmel steht – noch zweitausend Jahre nach deren Formulierung. Die Einsicht, dass eine solche Zauberei tatsächlich möglich ist, bildet die Grundlage der modernen Wissenschaft. Und diese Basis verdanken wir zu einem bedeutenden Teil Pythagoras und Platon.

Nach dem Untergang der antiken Wissenschaft war rund um das Mittelmeer niemand mehr in der Lage, Ptolemäus’ Schrift und die wenigen anderen bedeutenden Werke der antiken Naturforschung nachzuvollziehen, die, wie Euklids Elemente, die Katastrophe überdauert hatten. Noch immer studiert und verstanden wurden sie dagegen in Indien, wohin das griechische Wissen als Teil eines regen kulturellen Austauschs über die Handelswege gelangt war. Von Indien aus kehrte dieses Wissen dank persischer und arabischer Gelehrter, die sich mit ihm auseinandersetzten und es pflegten, ins Abendland zurück. Gleichwohl trat die Entwicklung der Astronomie über tausend Jahre fast auf der Stelle.

Ungefähr zu der Zeit, als Poggio Bracciolini das Manuskript des Lukrez wiederentdeckte, ließ sich von der Aufbruchsstimmung des italienischen Humanismus und von der Begeisterung für antike Schriften auch ein junger Pole anstecken, der zum Studium nach Bologna und später nach Padua gekommen war. Er unterschrieb mit seinem latinisierten Namen: Nicolaus Copernicus. Der junge Kopernikus (1473–1543) studierte den Almagest und verliebte sich in ihn. Er beschloss, sein Leben der Astronomie zu widmen und in die Fußstapfen des großen Ptolemäus zu treten.

Jetzt ist die Zeit reif: Über ein Jahrtausend nach Ptolemäus setzt Kopernikus zu einem Sprung an, den Generationen von indischen, arabischen und persischen Astronomen nicht geschafft hatten: Anstatt das ptolemäische System nur zu erlernen, anzuwenden und auszufeilen, wird er es gründlich verbessern. Er bringt den Mut auf, es im Einzelnen von Grund auf zu verändern. Anstatt Himmelskörper zu beschreiben, die um die Erde kreisen, verfasst Kopernikus eine Art überarbeitete, korrigierte Version von Ptolemäus’ Almagest – jetzt mit der Sonne im Mittelpunkt, um die sich, mit den übrigen Planeten, die Erde dreht.

Auf die Art – so hoffte Kopernikus – sollten die Berechnungen bessere Ergebnisse liefern. Um die Wahrheit zu sagen, fielen sie allerdings kaum genauer aus als bei Ptolemäus und am Ende sogar ein wenig schlechter. Aber der Ansatz war gut. Es brauchte einen Johannes Kepler (1571–1630) in der nachfolgenden Generation, um das System des Kopernikus vollends auf die Beine zu stellen. Kepler, der in geduldiger Kleinarbeit wie ein Kartäuser neue präzise Beobachtungen der Planetenbewegungen auswertet, führt vor, dass wenige neue, einfache mathematische Gesetze genügen, um die Bahnen der Planeten um die Sonne exakt zu beschreiben....

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