Sie sind hier
E-Book

Konversion und Systemtheorie

Religiöse Erfahrung und biografische Diskontinuität aus systemtheoretischer Perspektive

AutorFrancis Müller
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl148 Seiten
ISBN9783640671205
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis31,99 EUR
Masterarbeit aus dem Jahr 2009 im Fachbereich Soziologie - Religion, Note: 5.75, Universität Luzern (Soziologie), Sprache: Deutsch, Abstract: Der Theorierahmen der Arbeit bildet die Frage der Emergenz von Religiosität und letztlich auch von Religion innerhalb von säkularen, funktional differenzierten Gesellschaften. Die Religion, so die Annahme, verlagert sich in der Moderne in eine eigene 'Wertsphäre', um es mit Max Weber zu sagen. Im empirischen Teil der Arbeit werden zwei Erzählungen von Probanden mit transzendenten Erfahrungen, die eine dramatische biografische Diskontinuität zur Folge haben, nach der Methode des narrativen Interview von Fritz Schütze ausgewertet. In einem Fall handelt es sich um eine erfolgreiche Konversion mit sekundärer Sozialisation in einer charismatischen Gruppierung, im anderen um eine misslungene Konversion, die nachträglich als Psychose umgedeutet wird. Die Arbeit basiert erstens auf der Husserl'schen Annahme, dass Bewusstseinssysteme von der Welt ausgeschlossen sind und sich folglich nicht ausdrücken können und zweitens, dass die Erfahrung grundsätzlich intrinsische Qualität ist -und erst in einem (nachträglichen) Deutungsrahmen religiös, mystisch oder auch psychotisch eingeordnet wird. Innerhalb der Auswertung wird unter Einbezug der Theorie von George Herbert Mead ein theoretisches Modell gebildet, das mit der Unterscheidung des 'I' und 'Me' operiert, wobei letzteres die semantischen Rahmenbedingungen liefert, um transzendente Erfahrungen einzuordnen und auf einer sozialen, kommunikativen Ebene plausibel zu machen. In einem folgenden Theoriekapitel unter systemtheoretischen Gesichtspunkten weiterentwickelt wird, wobei davon ausgegangen wird, dass die kommunikative Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz als Kernmerkmal der Religion gilt. In Absprache mit den Probanden werden nur die ausgewerteten Stellen der transkribierten Interviews veröffentlicht, und nicht der gesamte Anhang.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

2  Empirischer Teil: Methodologie des


  narrativen Interviews

 

Bei den Schilderungen von Konversionen haben wir es grundsätzlich mit dem Problem der in der Einleitung erwähten Ineffabilität zu tun, zumal religiöse und mystische Erfahrung sprachlich nicht mitteilbar ist (vgl. Ulmer 1988: 22), aber doch mitgeteilt wird. Diese Ineffabilität ist bei Ulmer, wie wir in der Einleitung gesehen haben, nicht phänomenologisch oder systemtheoretisch begründet, sondern sie bezieht sich auf das Ausseralltägliche: "Während in den meisten biographischen Erzählungen ein mehr oder weniger wichtiges Ereignis aus der alltäglichen Erfahrungswelt rekonstruiert wird, steht bei Darstellungen der eigenen Konversion ein ausseralltägliches Geschehen im Mittelpunkt" (Ulmer 1990: 288).[48]

 

Als empirisches Datenmaterial dienen die transkribierten Interviews, die aus Gesprächen mit zwei Betroffenen (von jeweils ca. 90 Minuten) entstanden sind und die sich im Anhang befinden (Seite 101-149). Die Biografien der zwei Probanden sind gänzlich unterschiedlich: Erzähler E. (*1979) war ein religiös Suchender (vgl. Lofland/Stark 1965: 864ff.), der erst vergeblich bei verschiedenen religiösen Gruppierungen Anschluss suchte, und – nach mystischen Erfahrungen und Depressionen – der 1990 in Zürich gegründeten charismatischen Gemeinde ICF (International Christian Fellowship)[49] beitrat (transkribiertes Interview Seite 102-122). Erzähler A.[50] (*1966) erlebte aufgrund einer Erfahrung mit LSD eine blitzartige Transzendenzerfahrung und Gotteserkenntnis, worauf er Auto und Geld verschenkte und mit dem Predigen begann. Es folgten ein mehrmonatiger Versuch der Selbstexklusion[51] in Form eines Rückzugs in eine Höhle und zahlreiche Aufenthalte in einer psychiatrischen Klinik (transkribiertes Interview Seite 123-149).

 

Die Gespräche sind dem narrativen Interview von Fritz Schütze angelehnt, sie wurden folglich sehr offen geführt und nach seiner Methode ausgewertet, die er wie folgt definiert:

 

"Das autobiografische narrative Interview erzeugt Datentexte, welche die Ereignisverstrickungen und die lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung des Biographieträgers so lückenlos reproduzieren, wie dies im Rahmen systematischer sozialwissenschaftlicher Forschung überhaupt nur möglich ist. Nicht nur der 'äusserliche' Ereignisablauf, sondern auch die 'inneren Reaktionen', die Erfahrungen des Biographieträgers mit den Ereignissen und ihre interpretative Verarbeitung in Deutungsmustern, gelangen zur eingehenden Darstellung" (Schütze 1983: 5f.).

 

Das narrative Interview ist in den Sechzigerjahren aus verschiedenen soziologischen amerikanischen Theorien und Methodologien heraus entstanden; aus der phänomenologisch orientierten Wissenssoziologie von Alfred Schütz, der Chicago School und dem symbolischen Interaktionismus, der Ethnomethodologie, der Konversionsanalyse  und der Grounded Theorie (vgl. Küsters 2006: 18). Es handelt sich um mikrosoziologisch und qualitativ orientierte Theorien, die Positionen gegen den in den Fünfziger- und Sechzigerjahren dominierenden Strukturfunktionalismus einnahmen (vgl. Schütze/Bohnensack/Meinefeld/Weymann 1976: 35ff.). Blumer etwa plädierte für eine "Rückkehr zur empirischen sozialen Welt" (Blumer 1973: 116) und das narrative Interview darf als Resultat dieser Forderung betrachtet werden. Das narrative Interview fokussiert zeitliche Strukturen.[52] "Dabei kann es sich um einzelne Ereignisse bzw. Geschichten handeln oder um längere Zusammenhänge, ja ganze Lebensgeschichten" (Knoblauch 2003: 123).

 

Das narrative Interview fokussiert weniger das Was, sondern das Wie. Nämlich wie die Biografie erzählt wird; welche Rahmenschaltelemente verwendet werden und wie Zeitlichkeit strukturiert wird.[53]

 

"[…] die Lebensphase, die in den zeitlichen Grenzen der so gestalteten Erzählstruktur dargestellt wird, soll 'Prozessstruktur des Lebenslaufes' genannt werden. Prozessstrukturen des Lebenslaufes sind mithin die systematischen  elementaren Aggregatszustände der Verknüpfungen von Ereigniserfahrungen, die in der Erzählkette berücksichtigt werden – Aggregatzustände der Erfahrungs- und Aktivitätswelt des Biographieträgers, die in der Stegreiferzählung voneinander durch geordnete Verfahren der Einleitung und Ausleitung abgetrennt sind und komplexe Binnenstrukturierungen aufweisen" (Schütze 1984: 93).

 

Schütze vertritt den Ansatz, dass sich autobiografische Stegreiferzählungen an kognitiven Figuren der Erfahrungsrekapitulation ausrichten: "Biographie- und Ereignisträger nebst der zwischen ihnen bestehenden bzw. sich verändernden sozialen Beziehung; Ereignis- und Erfahrungsverkettung; Situationen, Lebensmilieus und soziale Welten als Bedingungs- und Orientierungsrahmen sozialer Prozesse; sowie die Gesamtgestalt der Lebensgeschichte" (Schütze 1984: 81).

 

Das sozialwissenschaftliche Interview ist eine künstliche soziale Situation, die auf natürliche Weise, also in der Alltagskommunikation, so nicht stattfände. Wie die Beichte und das psychoanalytische Gespräch kann das sozialwissenschaftliche Interview als "extraterritorialer Bezirk" (vgl. Hahn/Kapp 1987: 16) bezeichnet werden. Wollten wir nun Konversionserzählungen untersuchen, die quasi aus sich selbst heraus entstehen, dann müssten wir zum Beispiel klassische literarische Konversionsberichte ansehen.[54] Auch wäre die teilnehmende Beobachtung innerhalb religiöser Gruppen eine Möglichkeit, wo Mitglieder ihre Konversionserfahrungen untereinander austauschen (vgl. Baumann 1998: 18-27; Knoblauch 2003: 72-109). Die Kritik, dass der Stimulus und die künstliche Situation im Interview die Erzählung verfälschen, ist ontologisch gedacht und impliziert, dass es so etwas wie eine authentische Biografie gibt, die in einer authentischen Erzählung kommunizierbar ist. Die Erzählung wäre also eine Spiegelung des Erlebten. "Die Thematisierung [in der Biografie] darf nicht als Spiegelung verstanden werden. Die Spiegelmetapher suggeriert ja, dass die Gesamtheit des Gegebenen missverstanden wiedergegeben würde […] Biographien stellen folglich stets selektive Vergegenwärtigungen dar" (Hahn 1995: 140).

 

Schütze weist darauf hin, dass auch bei schriftlichen Kommunikationsformen, die sich an nicht bekannte Adressaten des Textproduzenten richten (Tagebücher, literarische Texte etc.), der Geschichtenerzähler mit Notwendigkeit allgemeinste Reaktionstypen der möglichen Empfänger antizipieren muss (vgl. Schütze 1976: 10f.).[55] Ebenfalls ist die Darstellungsstruktur der Erfahrungsrekapitulation in der Stegreiferzählung nicht aus der Interaktionsdynamik der Kommunikationssituation ableitbar, solange der Erzählvorgang unabhängig von Interaktionsstimuli vor sich geht (vgl. Schütze 1984: 80). Das würde bedeuten, dass die künstlich evozierte Erzählung im Interview mit einer autobiografischen Erzählung ohne äussere Aufforderung genauso ihre Legitimation haben in Hinblick auf die Auswertung – wenn auch die spezifischen Umstände der Äusserungen reflektiert werden müssen.[56]

 

Das Interview kann als "Biographiegenerator"[57] verstanden werden, als der soziale Ort, "an dem biographische Identität zum Ereignis wird" (Bohn/Hahn 1999: 35). Dies kann selbstverständlich an anderen Orten geschehen, in der bereits erwähnten Beichte und Psychoanalyse, in Talkshows und Internetforen.[58] Es stellt sich weiter die Frage, ob ein sozialwissenschaftliches Interview wissenschaftliche oder alltägliche Kommunikation ist. Aus Sicht des Probanden ist es zumindest nicht wissenschaftliche Kommunikation, wenn er sie wohl auch – im Gegensatz zur Alltagskommunikation – als introspektiv erlebten dürfte. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht sieht dies anders aus: "Forschungskommunikation bedeutet nicht Introspektion, sondern Fremdverstehen" (Schütze/Meinefeld/Springer/Weymann 1973: 490).

 

Das narrative Interview besteht idealtypisch aus drei Teilen: aus einer autobiografisch orientierten Erzählaufforderung, dem spezifischen Nachfragen des Interviewers[59] und der Aufforderung zur abstrahierenden Beschreibung von Zuständen (vgl. Schütze 1983: 285ff.). Im Idealfall beginnt es mit einer einzigen Initialfrage, die den Erzähler zur freien Stegreiferzählung stimulieren soll.[60] Zugleich muss der Interviewer eine gewisse Präsenz im Gespräch markieren, um den Erzählfluss aufrecht zu halten. Wie stark diese Präsenz sein soll, auch darüber herrscht innerhalb der Sozialwissenschaften kein Konsens. Girtler plädiert bei seinem "ero-epischen" Gespräch für Natürlichkeit zwischen den zwei Gesprächspartnern, was sich etwa darin zeigt, dass der Befragte auch den Forscher über seine Tätigkeit ausfragt: "Es bringt sich also jeder in das Gespräch ein. Beide sind also Lernende" (vgl. Girtler 2001: 147).[61]

 

Zur Transkription: Grundsätzlich lassen sich Interviews auf vier verschiedene Arten transkribieren: Standardorthografie, literarische Umschrift, eye...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Soziologie - Sozialwissenschaften

E-Learning

E-Book E-Learning
Einsatzkonzepte und Geschäftsmodelle Format: PDF

Der vorliegende Band ist dem Lernen und Lehren auf der Basis moderner Informations- und Kommunikationstechnologien gewidmet. Das Buch fasst die wichtigsten Ansätze zur Einführung, Umsetzung und…

E-Learning

E-Book E-Learning
Einsatzkonzepte und Geschäftsmodelle Format: PDF

Der vorliegende Band ist dem Lernen und Lehren auf der Basis moderner Informations- und Kommunikationstechnologien gewidmet. Das Buch fasst die wichtigsten Ansätze zur Einführung, Umsetzung und…

E-Learning

E-Book E-Learning
Einsatzkonzepte und Geschäftsmodelle Format: PDF

Der vorliegende Band ist dem Lernen und Lehren auf der Basis moderner Informations- und Kommunikationstechnologien gewidmet. Das Buch fasst die wichtigsten Ansätze zur Einführung, Umsetzung und…

E-Learning

E-Book E-Learning
Einsatzkonzepte und Geschäftsmodelle Format: PDF

Der vorliegende Band ist dem Lernen und Lehren auf der Basis moderner Informations- und Kommunikationstechnologien gewidmet. Das Buch fasst die wichtigsten Ansätze zur Einführung, Umsetzung und…

E-Learning

E-Book E-Learning
Einsatzkonzepte und Geschäftsmodelle Format: PDF

Der vorliegende Band ist dem Lernen und Lehren auf der Basis moderner Informations- und Kommunikationstechnologien gewidmet. Das Buch fasst die wichtigsten Ansätze zur Einführung, Umsetzung und…

E-Learning

E-Book E-Learning
Einsatzkonzepte und Geschäftsmodelle Format: PDF

Der vorliegende Band ist dem Lernen und Lehren auf der Basis moderner Informations- und Kommunikationstechnologien gewidmet. Das Buch fasst die wichtigsten Ansätze zur Einführung, Umsetzung und…

Lernen zu lernen

E-Book Lernen zu lernen
Lernstrategien wirkungsvoll einsetzen Format: PDF

Wer wirkungsvoll lernen will, findet in diesem Buch bestimmt die richtige Lernmethode für seinen Lernstoff. Jede Lerntechnik wird so beschrieben, dass man sie direkt anwenden kann. In der 7. Auflage…

Lernen zu lernen

E-Book Lernen zu lernen
Lernstrategien wirkungsvoll einsetzen Format: PDF

Wer wirkungsvoll lernen will, findet in diesem Buch bestimmt die richtige Lernmethode für seinen Lernstoff. Jede Lerntechnik wird so beschrieben, dass man sie direkt anwenden kann. In der 7. Auflage…

Lernen zu lernen

E-Book Lernen zu lernen
Lernstrategien wirkungsvoll einsetzen Format: PDF

Wer wirkungsvoll lernen will, findet in diesem Buch bestimmt die richtige Lernmethode für seinen Lernstoff. Jede Lerntechnik wird so beschrieben, dass man sie direkt anwenden kann. In der 7. Auflage…

Lernen zu lernen

E-Book Lernen zu lernen
Lernstrategien wirkungsvoll einsetzen Format: PDF

Wer wirkungsvoll lernen will, findet in diesem Buch bestimmt die richtige Lernmethode für seinen Lernstoff. Jede Lerntechnik wird so beschrieben, dass man sie direkt anwenden kann. In der 7. Auflage…

Weitere Zeitschriften

FESTIVAL Christmas

FESTIVAL Christmas

Fachzeitschriften für Weihnachtsartikel, Geschenke, Floristik, Papeterie und vieles mehr! FESTIVAL Christmas: Die erste und einzige internationale Weihnachts-Fachzeitschrift seit 1994 auf dem ...

bank und markt

bank und markt

Zeitschrift für Banking - die führende Fachzeitschrift für den Markt und Wettbewerb der Finanzdienstleister, erscheint seit 1972 monatlich. Leitthemen Absatz und Akquise im Multichannel ...

Card-Forum

Card-Forum

Card-Forum ist das marktführende Magazin im Themenbereich der kartengestützten Systeme für Zahlung und Identifikation, Telekommunikation und Kundenbindung sowie der damit verwandten und ...

küche + raum

küche + raum

Internationale Fachzeitschrift für Küchenforschung und Küchenplanung. Mit Fachinformationen für Küchenfachhändler, -spezialisten und -planer in Küchenstudios, Möbelfachgeschäften und den ...

SPORT in BW (Württemberg)

SPORT in BW (Württemberg)

SPORT in BW (Württemberg) ist das offizielle Verbandsorgan des Württembergischen Landessportbund e.V. (WLSB) und Informationsmagazin für alle im Sport organisierten Mitglieder in Württemberg. ...

ea evangelische aspekte

ea evangelische aspekte

evangelische Beiträge zum Leben in Kirche und Gesellschaft Die Evangelische Akademikerschaft in Deutschland ist Herausgeberin der Zeitschrift evangelische aspekte Sie erscheint viermal im Jahr. In ...

rfe-Elektrohändler

rfe-Elektrohändler

rfe-Elektrohändler ist die Fachzeitschrift für die CE- und Hausgeräte-Branche. Wichtige Themen sind: Aktuelle Entwicklungen in beiden Branchen, Waren- und Verkaufskunde, Reportagen über ...