Die Bedeutung von Neugier für den beruflichen Erfolg (S. 139-140)
Patrick Mussel
1 Wozu ein neues Konstrukt?
Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitsvariablen und beruflichem Erfolg wurden bis Mitte der 80er Jahre in einer Vielzahl von Einzelstudien untersucht, die Skalen verschiedener Instrumente mit Maßen beruflichen Erfolgs korrelierten. Wie Guion und Gottier (1965, S. 159) zusammenfassten, zeigte sich dabei “no gene-ralizable evidence that personality measures can be recommended as good or practical tools for employee selection”. Für diese Auffassung zeichnet das Fehlen eines Klassifikationssystems zur Entwicklung, Aggregation und Kommunikation über bedeutende Konstrukte ebenso verantwortlich wie mangelnde theoretische Fundierung, beispielsweise durch Anforderungsanalysen (Hurtz & Donovan, 2000). Die Einigung auf die „Big Five“ als Klassifikationssystem (Digman, 1990, Tupes & Christal, 1961) sowie die Entwicklung der Metaanalyse haben die damalige Sichtweise so grundlegend verändert, dass die Bedeutsamkeit der Persönlichkeit für berufliches Verhalten heute nicht mehr angezweifelt wird (Barrick, Mount & Judge, 2001).
Dennoch blieb die an den Big Five orientierte personalpsychologische Forschung nicht ohne Kritik. Im Rahmen der Bandwidth-Fidelity-Diskussion wurden die Big Five dabei als zu breit diskutiert (Rothstein & Goffin, 2006, Schneider, Hough & Dunnette, 1996, Tett & Christiansen, 2007, 2008). Von anderer Seite wurde die Defizienz der Big Five für die Prognose beruflichen Erfolgs moniert. Entsprechend wurde von Lee und Ashton (2004) ein sechsfaktorielles Modell vorgeschlagen. Der zusätzliche Faktor „Honesty-Humility“ ist eng verwandt mit Integrität, und besitzt daher Bedeutsamkeit für Kriterien kontraproduktiven Verhaltens (Ones & Viswesvaran, 2001). Hough (1992) postuliert ein neundimensionales Modell, das unter anderem die zusätzlichen Dimensionen „Rugged Individualism“ (Maskulinität) und „Locus of Control“ (Kontrollüberzeugungen) aufnahm. Letzteres wurde auch von Judge, Erez, Bono und Thoresen (2003) aufgegriffen. Ihre „Core-Self- Evaluation“-Skala erfasst ebenfalls Konstrukte, die einerseits durch die Big Five nicht adequat repräsentiert werden und andererseits für beruflichen Erfolg relevant sind.
Die Etablierung eines neuen Konstrukts in der personalpsychologischen Forschung und Praxis muss wenigstens zwei Kriterien genügen: Theoretische Fundierung sowie eine valide Vorhersage relevanter Kriterien, insbesondere beruflichen Erfolgs, über die Big Five hinaus. Der vorliegende Artikel untersucht das Konstrukt Neugier in Bezug auf diese Aspekte, beginnend mit einer Übersicht über vorliegende konzeptionelle Arbeiten. Dabei wird deutlich, dass Neugier sich als bedeutsames Konstrukt für die Vorhersage einer Reihe unterschiedlicher Kriterien etabliert hat, wobei der Zusammenhang mit Kriterien beruflichen Erfolgs bislang in nur einer Studie untersucht wurde. Im empirischen Teil werden diese Zusammenhänge repliziert sowie, nach Kenntnisstand des Autors, erstmals inkrementelle Validitäten über die Big Five hinaus untersucht.
2 Definition und Theorie
Collins (2001) definierte Neugier als “multifaceted enduring trait that motivates seeking and exploring a broad spectrum of novel stimuli“ (S. 590). Bereits in den ersten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Neugier wurde dabei eine Unterscheidung bezüglich des Gegenstandes vorgenommen, auf den sich die Neugier bezieht. William James (1890/1950) grenzte dabei wissenschaftliche Neugier, die von erlebter Inkonsistenz oder einem Wissensdefizit herrührt, von einer eher unspezifischen „susceptibility for being excited and irritated by the mere novelty of (...) the environment“ (S. 430) ab. Diese Unterscheidung wurde von Daniel Berlyne (1960, 1978) aufgegriffen und weiter ausgearbeitet. Berlyne unterschied dabei epistemische Neugier, die sich auf das Verlangen nach Wissen und damit auf rein menschliche Phänomene bezieht, von perzeptueller Neugier, die durch die bloße Anwesenheit neuartiger Stimuli induziert wird und bei anhaltender Exponierung erlischt. Perzeptuelle Neugier diente vor allem der Kategorisierung von Ergebnissen aus Tierexperimenten, wie beispielsweise das Explorationsverhalten einer Ratte in einem Labyrinth, wobei inzwischen auch menschliche Phänomene wie Freizeitverhalten (Collins, Litman & Spielberger, 2004) oder Sensation Seeking nach Zuckerman (1994) der perzeptuellen Neugier zugerechnet werden (z. B. Reio, Petrosko, Wiswell & Thongsukmag, 2006).
Eine zweite Unterscheidung führte Berlyne (1978) mit spezifischer und diverser Neugier ein. Spezifische Neugier bezieht sich auf das Verlangen nach einer konkreten Information, wie beispielsweise die Suche nach einem bestimmten Puzzleteil. Im Gegensatz dazu beschreibt diverse Neugier eine eher unspezifische Suche nach Stimulation, die durch Langeweile ausgelöst wird. Der theoretische Ansatz von Berlyne hat die Forschung nachhaltig beeinflusst, wurde durch eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien bestätigt (z. B. Boyle, 1983, Byman, 2005, Day, 1971, Kreitler & Kreitler, 1994, Reio, Petrosko, Wiswell & Thongsukmag, 2006) und findet sich in einer Reihe von Testverfahren wieder (Collins, Litman & Spielberger, 2004, Litman, Collins & Spielberger, 2005, Naylor, 1981, Spielberger et al., 1980).