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16:9 - Fürs Fernsehen in die Ferne

Reportagen vom Filmemachen

AutorElke Werry
VerlagMühlbeyer Filmbuchverlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl237 Seiten
ISBN9783945378465
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Inspirierende Einblicke in den Entstehungsprozess von Dokumentarfilmen, notiert aus der Perspektive einer Filmemacherin: Elke Werry erzählt in diesem Buch von Filmreisen zu Drehorten, die jenseits der üblichen Reiserouten liegen. Sie schildert die Dreharbeiten, die unter oft abenteuerlichen Umständen vonstatten gingen, und berichtet von ihren persönlichen Eindrücken über die Länder und die Menschen, denen sie begegnet. Die Geschichten spielen an staubigen Pisten in der Mongolei, bei den Konso in Äthiopien, im Hinterland von Ghana, im arktischen Eis, im unbekannten Libyen, Turkmenistan und sogar in Nordkorea. '16 : 9 - Fürs Fernsehen in die Ferne' beschreibt, wie die Alltagsrealität am Set aussieht, was beim Drehen daneben gehen kann oder welche Probleme Kamerafrauen in arabischen Ländern haben. Zugleich gibt die Autorin Einblicke in Geschichte und Gegenwart der Reiseziele, in die Schönheiten der Natur und die Bedeutung von Weltkulturerbestätten. Ein Buch, das Fernweh weckt, hinter die Kulissen von Fernsehproduktionen blicken lässt und dazu anregt, sich über Dokumentarfilme Gedanken zu machen.

Elke Werry studierte Kunstgeschichte und Germanistik in Heidelberg. (Sie liebt Bewegtbilder, Fernsehen und Kino.) Schon während des Studiums (unheilbar) mit dem Dokumentarfilmvirus infiziert, zog sie es vor, nach Abschluss ihrer Promotion nicht als Kunsthistorikerin im Museum zu arbeiten, sondern Filme zu machen. Seit mehr als 30 Jahren realisiert sie Dokumentationen, vor allem für Fernsehanstalten. Das Buch '16:9 - Fürs Fernsehen in die Ferne' erzählt über ihre Arbeit an Drehorten in der fernen Welt, vom Aufprall auf die Wirklichkeit und von der Macht der Bilder.

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Leseprobe

Durch das Tor zum gelben Drachen Chinas


Nein, wir haben nichts verpasst. Noch immer ist das Nachmittagslicht über dem Himmelstempel in der chinesischen Hauptstadt blau. So tiefblau, wie es einige Jahre später nicht mehr sein wird. Stativ und Kamera stehen, wir haben noch Blende 8 bei zwei Graufiltern. Das Mittagessen der großen Delegation dauerte wie immer ziemlich lange, aber es klappt noch alles mit den Filmaufnahmen. Wir stehen im Oktober 1987 drehbereit vor einem wunderschönen und gut restaurierten Tempel, der früher den Kaisern der Ming- und Qing-Dynastie als Opferstätte nach guten Ernten diente. Meditierend und fastend verbrachten sie hier die Nacht der Wintersonnenwende, umgeben von ihrem ganzen Hofstaat. Vor dem Tempelaltar sollen sie sich sogar niedergeworfen haben. Aber seit China eine Republik ist und der Glaube keine Rolle mehr spielt, verlor auch der Himmelstempel seine religiöse Funktion. Seitdem ist er nur noch überwältigend schön und ein Wahrzeichen Pekings. 38 Meter hoch ragt er aus einer dreistufigen Marmorterrasse auf, und für die Filmaufnahmen kadrieren wir den Himmelstempel so, dass er diagonal ins Bild passt. Monumentaler geht nicht mehr. Gebühren für die Dreharbeiten werden für uns zum Glück noch keine fällig, aber das soll sich ändern. 1998 wird der Himmelstempel zum Unesco-Weltkulturerbe ernannt, wie kurz zuvor die Verbotene Stadt, die größte Palastanlage der Welt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt erfährt das baugeschichtliche Erbe Chinas internationale Wertschätzung, und wer dieses filmen will, wird dafür kräftig zur Kasse gebeten.

Wir sind im Herzen Chinas. Stehen vor der Verbotenen Stadt, dem ehemaligen Kaiserpalastkomplex. Drehen die obligatorischen Peking-Aufnahmen am Platz des Himmlischen Friedens, auf dem damals noch keine Uhrenverkäufer stehen, die für 10 Dollar schlechte Rolex-Kopien anpreisen. Und auch keine Polizisten und Soldaten. Aber es liegt bereits ein frischer Wind nach Veränderung in der Luft. Zwei Jahre nach unserer Drehreise werden auf diesem Platz des Himmlischen Friedens Barrikaden und Panzer stehen, Schüsse fallen und Blut fließen. Vielleicht hätte man es damals schon ahnen können, dass die zaghaften Versuche nach mehr Demokratie blutig niedergeschlagen werden und als Tian'anmen-Massaker in die Weltgeschichte eingehen. Wie ein Wächter der alten Zeiten hängt am Eingang zur Verbotenen Stadt ein überlebensgroßes Porträt des großen Steuermanns Mao Zedong. Die meisten Besucher lassen sich hier fotografieren, bevor sie das weitläufige Gelände der Verbotenen Stadt mit unzähligen Gebäuden und Pavillons betreten. 9999,5 Räume sollen die kaiserlichen Söhne des Himmels bewohnt haben, ein halber Raum weniger als den Göttern des Himmels zustand.

Wir fangen Blicke ein von durchschnittlichen chinesischen Bürgern, die sich ebenso staunend und ehrfurchtsvoll wie wir durch den »Palast der irdischen Ruhe«, die »Halle der Harmonie«, die »Halle der Vollendung« oder die Gemächer der Konkubinen bewegen. Seit 1924 sind die Tore zu der Verbotenen Stadt des ehemaligen Kaiserpalastes für die normale Bevölkerung geöffnet. Aber nicht nur die Bauern aus der Provinz klopfen an fein geschnitzte Marmorbalustraden, an große Bronzelöwen, edelsteinverzierte Opfergefäße und löwenähnliche Türknäufe des großen chinesischen Kaiserreiches, als müssten sie sich versichern, dass dies keine Fata Morgana ist. Alle tun das. Auch wir. Und jeder geht nach Hause mit einem eigenen Film im Kopf von den alten Zeiten, der zweitausendjährigen Herrschaft der Kaiser in China.

Am Nachmittag quält sich unser Bus durch Tausende von Fahrrädern in die Innenstadt von Peking, wir filmen das neue China im Aufbruch. Baustellen und Betonburgen, jetzt fängt es an. Überall sehen wir Plakate, die zeigen, wie es einmal aussehen soll: schöner, moderner, größer. Das Land versucht, den kommunistischen Mief zu vertreiben und wirbelt alles durcheinander. Deng Xiaoping, der Führer der kommunistischen Partei Chinas, hat dem Land Reformen verordnet. China ist auf dem Weg zu der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaft der Welt. Es modernisiert sich in den 80er Jahren grundlegend, vom Westen fast unbemerkt und leicht belächelt. Noch. Bei der Umgestaltung nimmt Peking die Vorreiterrolle ein, ist eine Art Leitstern in die Moderne. In schnellem Tempo werden Gebäude abgerissen und neue errichtet, die Hauptstadt braucht akzeptable und zeitgemäße Wohnungen für die rund 6,5 Millionen Bewohner. Neue Fabrikgebäude, Büros, Hotels für Touristen und Geschäftsleute werden hochgezogen. Dafür werden ganze Stadtviertel mit niedrigen Wohnhäusern ohne private Wasserversorgung plattgewalzt, auf historische Bausubstanz wird keine Rücksicht genommen. In den 1940er Jahren besaß Peking noch fast 8.000 Tempel und religiöse Denkmäler im Stadtbereich, in den 1980er Jahren sind es nur noch 150.

Unsere offiziellen Begleiter lassen uns ihren Stolz spüren, dass ihr Land den Anschluss an die modernen Zeiten gefunden hat. Alles Neue finden sie gut. Alles, was groß ist und das menschliche Maß sprengt, das gefällt ihnen. Unser Hauptbegleiter, abgestellt von der staatlichen Reiseorganisation CITS, kommt aus dem Zeigen gar nicht mehr heraus und wundert sich, dass wir nicht jedes Hochhaus aufnehmen wollen. Er ist ein lustiger Bursche, der die Angewohnheit hat, uns zu bespaßen und alles mit Sprüchen zu kommentieren. Sein Repertoire reicht von umfangreichen Konfuzius-Zitaten bis hin zu allgemeinen Lebensweisheiten wie: »Ist eine Sache einmal passiert, dann rede nicht darüber, denn es ist schwer, verschüttetes Wasser wieder zu sammeln«. Diesen Spruch gebraucht er vorzugsweise, wenn sich unser Busfahrer wieder mal verfährt. Gerne gibt er uns auch kleine Rätsel auf, die etwa so lauten: »Wie nennt man einen chinesischen Polizisten?« – »Langfingfang«. »Hahaha«. Es ist schwer, ihn zum Schweigen zu bringen, wenn Ton-Atmos aufgenommen werden sollen. Die Betreuung einer Filmcrew ist neu für ihn, normalerweise reist er ausschließlich mit Touristengruppen durchs Land. Aber nach einigen Tagen des gegenseitigen Beschnupperns kehren freundschaftliche Routinen im Team ein. Nach und nach wird es selbstverständlich, dass der Fahrer, wenn er gerade nichts zu tun hat, seine weißen Fahrerhandschuhe aus Baumwolle auszieht und unser Stativ trägt.

Was heute nur mit allergrößtem Sicherheitsaufwand filmbar wäre, wird uns damals bedenkenlos genehmigt. Die Landung eines Flugzeuges aus Europa auf dem Pekinger Flughafen und das Filmen der Passkontrolle bei der Einreise am Zoll. 77 Millionen Fluggäste werden dort heute pro Jahr abgefertigt. 1987 ist der Flugverkehr noch so gering, dass man einem Filmteam erlaubt, zu Fuß mit dem Equipment vom Terminal aus auf das Rollfeld zu spazieren, dort eine halbe Stunde rumzustehen, um auf einen Landeanflug der Lufthansa zu warten. Und diesen aus nächster Nähe aufzunehmen. Dennoch wird es für uns kein guter Drehtag. Das Flugzeug wirbelt bei der Landung ziemlich viel Staub auf. Dieser dringt in die Kamerakassette ein und verschrammt dabei eine halbe Filmrolle Negativmaterial. Es trifft genau die Aufnahmen an der Passkontrolle, die wir nur zweimal gedreht haben, weil alles so schön klappte. Aber es lässt sich später ausbessern, in der Postproduktion wird die Szene mit dem Wärterhäuschen und dem Abstempeln des Passes etwas vergrößern, so dass die Schramme außerhalb des Bildrandes bleibt.

Am nächsten Morgen sitzt unser Begleiter und Dolmetscher nachdenklich am Frühstückstisch. »Was ist?«, frage ich ihn. »Ich mache mir Sorgen, dass ihr unsere chinesischen Speisen nicht mögt, dass es euch zu fremd ist, aber wir haben hier kein europäischen Frühstück«, sagt er in bestem Deutsch, das er auf der Pekinger Universität gelernt hat. In der Tat ist das Frühstück durch und durch chinesisch, denn auf europäische Gäste ist man hier noch nicht eingestellt. Es gibt Hunderte von Dim Sum, gedämpfte Häppchen im Bambuskörbchen, gefüllt mit leckeren, aber undefinierbaren Köstlichkeiten, die auf einem Rollwagen von einer beschürzten Serviererin durch den Frühstücksraum gefahren werden. Dazu diverse Suppen, Reis und Nudeln. Es riecht nach Frittiertem und Fisch, nach Zimt und Haferschleim. Ich finde das alles großartig und probiere mich morgens um halb sieben durch das ganze Sortiment. Was mir viel mehr Sorgen bereitet, ist die Tatsache, dass wir nur die schönen Seiten Chinas vorgeführt bekommen und auch nur diese filmen sollen. Wir fühlen uns rundum gepampert und kontrolliert. Themen wie Minderheiten, Konflikte, Armut, Landflucht oder Umweltverschmutzung dürfen in dem Film keine Rolle spielen. Jede Frage danach ist schon eine Zumutung. Das neue, schöne China will sich präsentieren, aber manchmal gelingen uns im Laufe der Reise dann doch Bilder, die nicht der offiziellen Propaganda entsprechen. Und noch nicht in den neuen, bunten Reisekatalogen zu finden sind.

Noch bevor der Berufsverkehr beginnt, fahren wir mit dem Produktionsbus zum Pekinger Hauptbahnhof. Wir wollen dort drehen und im Anschluss mit dem Zug weiter fahren nach Schanghai. Vor dem Hauptbahnhof sitzen schon etwa 300 Leute auf ihren Gepäckstücken und Kisten, auch im Inneren des Bahnhofs herrscht enormes Gedränge. Als Alleinreisender ohne Sprachkenntnisse kann man sich hier nicht zurecht finden, es gibt kein einziges Schild auf englisch, auch alle Zugfahrpläne existieren damals nur auf chinesisch.

Unser Konzept des Filmes besteht aus einer »subjektiven Kamera«, die stellvertretend für einen Chinareisenden stehen soll, der sich durch das Land bewegt. Wir wollen deshalb eine kleine Szene in der Pekinger Bahnhofshalle drehen, in der die subjektive Kamera radebrechend nach dem Weg fragt, sich zu orientieren versucht und schlussendlich das Gleis nach Schanghai findet....

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