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E-Book

Als wir zum Surfen noch ans Meer gefahren sind

AutorBoris Hänßler
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783462315585
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Eine nostalgische, liebevolle Rückschau auf das Leben vor dem Internet Tagträumen, sich überraschen lassen, allein sein? Das Internet hat unser Leben zwar aufregender, bunter, schneller gemacht, aber wir haben auch vieles verloren. Boris Hänßler lädt den Leser in diesem Buch zu einer komischen und melancholischen Reise in die Zeit vor dem Internet ein. Er erinnert daran, wie wir ohne Navi Auto gefahren sind, im Urlaub Hotels vor Ort gesucht haben, vor rätselhaften Kinoplakaten standen und dabei die große Liebe getroffen haben. Das Buch führt uns den Ärger vor Augen, wenn mal wieder ein Falkplan zerriss, und die Freude, wenn ein handgeschriebener Brief ankam oder ein Mixtape überreicht wurde. Boris Hänßler erzählt anekdotenreich und komisch, wie sich der Alltag in kurzer Zeit dramatisch verändert hat, ohne dass wir es richtig mitbekommen hätten. Und er wagt beherzt die Frage, ob nicht die Renaissance von Plattenläden und Buchhandlungen darauf hindeuten könnte, dass es eine neue Lust auf Echtes gibt, auf Ungeplantes und auf Zeiten der Unerreichbarkeit.

Boris Hänßler, geboren 1973, arbeitet als freier Journalist und schreibt insbesondere über die Auswirkungen der Informationstechnik auf unsere Gesellschaft. Seine Artikel erscheinen u.a. in der Technology Review, Focus, Psychologie Heute und Süddeutsche Zeitung.

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Leseprobe

Kapitel 2: Viele Grüße, bis NÄCHSTES JAHR


Mein Arbeitstag beginnt mit Facebook. Ich schaue, was es Neues gibt in meinem Freundeskreis und manchmal klicke ich auf »Freunde finden«, dann zeigt mir Facebook Personen an, die ich vielleicht kenne. Zu meiner Überraschung ist meine ehemalige Schulfreundin Tania dabei, die ich aus den Augen verloren habe, daher klicke ich fröhlich auf »Freundin hinzufügen«.

Die Arbeit ruft, aber dreißig Minuten später kehre ich zu Facebook zurück, um zu schauen, ob Tania und ich inzwischen befreundet sind. Nach weiteren fünfzehn Minuten schaue ich noch einmal. Und nach zehn. Schließlich ertappe ich mich dabei, wie ich eine Nachricht aufsetze mit der unsinnigen Frage, ob Tania meine Anfrage nicht gesehen habe.

Nun bin ich über mein Verhalten ehrlich entsetzt, denn ich komme mir wie Mark Zuckerberg vor – dem aus dem Film »Social Network«, der in der Schlussszene über Facebook eine Nachricht an die Frau schickt, in die er sich verliebt hat, um dann zweimal pro Sekunde auf den Aktualisierungsbutton zu klicken. In meiner Kommunikation bin ich ebenfalls ein solcher Drängler geworden. Aber das überrascht mich nicht wirklich.

Früher ging der Schriftverkehr über die Post, heute kommt er mit einer Verzögerung von wenigen Millisekunden an. Außer, wenn man wie ich bei einem Billiganbieter seinen Mailaccount hat, dann kommen Mails manchmal nach drei Stunden an, weil der Anbieter Baustellen im E-Mail-Netzverkehr aufgestellt hat, auf denen Bauarbeiter rumstehen, Leberwurstbrote essen und dem stockenden Mailverkehr böse Blicke zuwerfen. Aber ansonsten rasen die Mails so schnell durch die Welt, dass unterwegs Sinn und Orthografie verloren gehen.

Erst gestern schrieb ich einen Forscher an, weil ich ihn zu einem Interview bewegen wollte. Er antwortete flugs: »Ich sitze gerade auf Tagung. Mit Klamm schicke ich Ihnen Information.« Er ist übrigens ein deutscher Muttersprachler.

Ich habe das Wort »Klamm« gegoogelt. Eine Klamm ist laut Wikipedia eine enge Schlucht im Gebirge mit überhängenden Felswänden. Ich warte heute noch darauf, dass der Mann mir mit dieser Klamm eine Information schickt. Vielleicht wirft er einen Zettel in die Schlucht, in der Hoffnung, dass die Botschaft als Mail bei mir ankommt. Kann ja sein. Wir verstehen schon länger nicht mehr, wie moderne Technik funktioniert. Vermutlich hat ihm aber auch nur die Schreibhilfe des Smartphones das Wort »im Anhang« durch »mit Klamm« ersetzt. Schreibhilfen wollen ja schlauer sein als wir.

Briefe abschicken oder in den Briefkasten werfen hatte einst tatsächlich etwas von »in die Schlucht werfen«. Ich warf sämtliche schriftliche Korrespondenz in diese bedrohlich aussehenden Briefkastenschlitze, bei denen ich immer die Hand schnell zurückzog, weil ich Angst hatte, sie beißen hinein. Sobald ein Brief unterwegs war, dauerte es Tage, Wochen, manchmal Monate, bis ich eine Reaktion bekam, wenn überhaupt.

Ich weiß noch, dass mich meine Englischlehrerin in der sechsten Klasse dazu ermunterte, Brieffreundschaften zu suchen, damit ich ein besseres Alltagsenglisch lerne, zumal Mary und Peter in meinem englischen Lehrbuch ziemlich hirnlose Gespräche führten.

»Hello«, says Peter. »How are you?«

»I’m fine«, says Mary. »And how are you?«

»I’m fine, too«, says Peter. »What’s your name?«

»My name is Mary«, says Mary. »What’s yours?«

Es gab damals eine Organisation, die weltweit Brieffreunde vermittelte, den International Youth Service. Er wurde 1952 in Finnland gegründet. Unsere Englischlehrerin übergab uns von dieser Einrichtung ein buntes Formular, das mit den Flaggen aller Länder dieser Erde eingerahmt war, jedenfalls aller relevanten Länder, die einer gesunden wirtschaftlichen Beziehung zu den noch relevanteren Ländern, in denen wir lebten, aufgeschlossen gegenüberstanden. Ansonsten sah das Formular aus wie ein Steuerformular.

Ich beantwortete wahrheitsgemäß die Fragen nach Hobby, Geschlecht und Alter und schickte den fertigen Bogen ab.

Er ging weit, weit weg. In Finnland, bei minus 33 Grad, auf einem verschneiten Gipfel, zu dem nur eine alte, wacklige Seilbahn führte, saßen fünf sanftmütige Menschen mit langen, grauen Bärten, Geschwister des heiligen Nikolaus, tranken heißen Grog, aßen Himbeerkuchen und studierten in aller Ruhe bei knisterndem Feuer und draußen tobenden Schneestürmen die nervös hingekrickelten Träume junger Menschen aus aller Welt. Sie überlegten lange, wer zu wem passen könnte. Da ich Englisch lernte und cool sein wollte, suchte ich eine Brieffreundschaft aus den USA. Die sanften Finnen kratzten sich am Bart und vermittelten mir eine Brieffreundin in Malaysia.

Ich ging zur Post, um mir Umschläge für Luftpost zu besorgen. Dort sagte ich zu dem Beamten am Schalter: »Ich möchte sehr gerne einen Flugpostbrief haben – das wäre alles, was zu meiner Seligkeit fehlt.«

Das waren ungefähr die Worte von Fähnrich Edwin Müller, dem bekanntesten Philatelisten Österreichs. Er ist berühmt für seine Briefmarkensammlung und weil er den zitierten Satz auf die Rückseite eines Luftpostbeleges aus dem Jahre 1918 schrieb. Er musste hohe »Luftpostbeförderungsgebühren« in Kauf nehmen und ging dafür in die Geschichte ein.

Der Begriff »Luftpostbeförderungsgebühr« erinnert mich wieder daran, dass bei der Post früher Beamte arbeiteten. Das Gute daran war, dass sie kein Interesse daran hatten, einem ein schlecht verzinstes Postbank-Spar-Girokonto oder Strom aus deutscher Kernspaltung anzudrehen. Im Gegenteil: Betrat ich die Amtsstube, fühlte ich mich unmittelbar wohl. Dort wurde verwaltet, es roch nach Kartons, Schreibmaschinenbändern und Klebstoff, und ich hatte das Gefühl, als müsste ich einen Antrag einreichen, damit man mir den Kauf einer Briefmarke genehmigte.

Ich kaufte Umschläge und dieses hauchdünne, bläuliche Luftpostbriefpapier mit vorgedruckten Linien, die verhindern sollten, dass man quer schrieb, was vermutlich gegen die Beförderungsrichtlinien der Deutschen Post verstoßen hätte. Das Problem mit Briefpapier war, dass es furchtbar unsportlich war, es nicht bis in den letzten Winkel vollzuschreiben. Eine E-Mail kann ich ohne schlechtes Gewissen so tippen: »Hi, meld’ dich.« Ein Brief braucht Anrede, viele, viele Zeilen Text, Schlusswort und ein Postskriptum.

Das Briefschreiben war also Handwerk. Dazu musste ich einen Füller zwischen Zeigefinger und Daumen klemmen und blaue Tinte auf das Blatt quetschen. Nach drei Zeilen tat die Hand weh, nach fünf Zeilen bekam ich einen Krampf. Heute habe ich so ein V-förmiges Sportgerät aus Stahl auf meinem Schreibtisch liegen, das ich gelegentlich in die Hand nehme und zwecks Muskelaufbau mit aller Kraft zusammendrücke – für den Fall, dass ich eines Tages wieder einen Brief schreiben muss.

Damals schwitzte ich beim Schreiben und verwischte die Tinte einmal quer über das Papier, sodass die Buchstaben aussahen, als wären ihnen Flügel gewachsen, nicht die von Engeln, sondern eher von Astaroth, dem Dämon mit fauligem Atem, der über 40 Legionen in der Hölle herrscht. Laut dem Mönch Sébastien Michaëlis verführt Astaroth jährlich im August bevorzugt Männer zu Faulheit, Eitelkeit und Mathematik. Ein bewährtes Gegenmittel war der Tintenkiller – ich liebte dieses Wort. Damit konnte ich die verschmierten Dämonen auf meinem Brief ermorden, sodass der Brief aussah, als wären überall Blutflecken, wenn auch in der Farbe von Milch.

Gelegentlich schrieb ich mit Kuli oder Bleistift. Bei einem Kuli nahm ich statt des Tintenkillers den TippEx-Mörder, der ursprünglich für Schreibmaschinen entwickelt wurde. Ich tunkte einen Pinsel in eine weiße, medizinisch aussehende Flüssigkeit, die in der Giftnotrufzentrale als Lösungsmittel 1,1,1-Trichlorethan bekannt ist. Sie wirkte hervorragend, wenn man auf gereizte Schleimhäute stand.

Die eingepinselten Stellen auf dem Briefpapier wurden mit der Zeit hart und bröselig. Sie sahen aus wie Mörtel, den man bei falsch gebohrten Löchern aus der Tube in die Wand drückt.

Bleistifte hatten gegenüber Kulis den Vorteil, dass aufmerksame Menschen bei der Post die Briefe nicht gut lesen konnten, indem sie die Umschläge vor eine Lampe hielten.

Ich schrieb in meinem allerersten Brief auf Englisch, wie viele Brüder ich hatte, welche Bücher ich las (keine), dass ich gerne Sport machte (gelogen) und in einer deutschen Metropole mit 900 Einwohnern lebte. Der Brief endete mit »und was machst Du so?«

Ich brachte den Brief zur Post und wartete.

Und wartete.

Briefe wurden auch damals nur einmal täglich ausgeliefert. Ich wartete an schulfreien Tagen sehnsüchtig darauf, dass der Postbote um die Ecke gefahren kam. Als er einen leeren Briefkasten und ein trauriges Kindergesicht hinterließ, war es aus und vorbei – ich konnte nichts mehr tun. Der Rest des Tages war hundertprozentig lieferungsfrei. Ich konnte hüpfen, fluchen, dem Boten laut »Aktualisierung« hinterherschreien – es kam nichts mehr.

Das Schöne war, dass Briefe durch ihre Seltenheit einen unbeschreiblichen Wert hatten. Ich vergaß das Geschriebene nie, weil ich mir Mühe gegeben und einem Menschen meine Zeit und meine Gedanken geschenkt hatte. Und ich durfte darauf hoffen, dass dieser Mensch mir ebenfalls etwas von sich schenkte, was nur für mich gedacht war.

Im Internet schreibe ich manchmal eine Nachricht, während eine zweite eintrifft, sodass ich die erste unterbreche, um die zweite zu beantworten. Es kommt extrem selten vor, dass jemand denkt, oh, dieser Mailschreiber...

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