Sie sind hier
E-Book

Betriebe auf der Grenze

Integrationsfirmen und Behindertenwerkstätten zwischen Markt- und Sozialorientierung

AutorManfred Gehrmann
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl488 Seiten
ISBN9783593430249
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis41,99 EUR
Intellektuell und psychisch beeinträchtigte Menschen werden am Arbeitsmarkt stark benachteiligt. Für die Ersteren wurden in den 1960er-Jahren Werkstätten für behinderte Menschen gegründet, für die Letzteren in den 1980er-Jahren Integrationsfirmen für psychisch Kranke. Manfred Gehrmann zeigt, dass beide Teilhabeformen am Arbeitsleben marginale Arbeitsorganisationen darstellen, die ständig das Spannungsverhältnis zwischen Markt- und Sozialorientierung ausbalancieren müssen. Unter Berücksichtigung des soziologischen Konzepts der Marginalität und seiner aktuellen sozialtheoretischen Diskussion wird die Geschichte der stetigen Verbreitung von Werkstätten und Integrationsfirmen rekonstruiert.

Manfred Gehrmann, Dr. phil., studierte Soziologie und forscht zur beruflichen Integration von behinderten Menschen.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe
1. Einleitung: Zum Spannungsverhältnis zwischen der Ökonomisierung von sozialen Dienstleistungen und der aktuellen Inklusions-Emphase

Der im August 2013 vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) herausgegebene Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen nennt zum Auftakt folgende Zahlen: 'Über 7 Millionen Menschen gelten in Deutschland als schwerbehindert, rund 17 Millionen Menschen im Alter von über 18 Jahren leben mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder chronischen Krankheiten, die sie im täglichen Leben einschränken. Das sind jede vierte Frau und jeder vierte Mann.' (BMAS 2013: 7) Die Teilmenge der als schwerbehindert anerkannten Personen entspricht 9 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland von etwa 82 Millionen (Statistisches Bundesamt 2013: 121). Dies ist absolut und prozentual ein deutlicher Anstieg seit der deutschen Wiedervereinigung. Ende 1991 betrug die Zahl der Schwerbehinderten noch 5,4 Millionen (Statistisches Bundesamt 1993: 519), was einem Anteil an der Bevölkerung von 6,6 Prozent entsprach. Nach der Definition im Neunten Sozialgesetzbuch Paragraph 2 Absatz 1 sind Menschen behindert, 'wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist'. Eine 'Schwerbehinderung' hat, wer einen entsprechenden Antrag beim Versorgungsamt stellt und von diesem einen Grad der Behinderung von mindestens 50 bis maximal 100 zuerkannt bekommt. Im Jahr 2011 lebten in Deutschland nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA 2013: 3) 3,27 Millionen Schwerbehinderte im erwerbsfähigen Alter.

Mehr als die Hälfte der Schwerbehinderten - knapp vier Millionen - sind 65 Jahre oder älter. Darin schlägt sich nieder, dass gesundheitliche Probleme mit voranschreitendem Alter zunehmen. Einzelne Beeinträchtigungen können sich während des Lebenslaufs kumulieren, bis der für die Schwerbehinderteneigenschaft erforderliche Grad der Behinderung von 50 erreicht ist. Das Statistische Jahrbuch 2013 nennt als die Ursache der schwersten Behinderung gut 300.000 angeborene Behinderungen (= 4,3 Prozent; Statistisches Bundesamt 2013: 121). Die allermeisten Behinderungen werden erst zu späteren Zeitpunkten im Laufe des Lebens erworben. Mehr als die Hälfte der amtlich anerkannten Schwerbehinderungen stellen mit gut 3,9 Millionen die verschiedenen körperlichen Funktionsbeeinträchtigungen (ohne Sinnesbehinderungen). Als Behinderungsursache wird für gut sechs Millionen Fälle eine 'allgemeine Krankheit' genannt (ebd.). Die meisten Schwerbehinderten sind demnach chronisch Kranke. Der Anstieg der Zahl der Schwerbehinderten geht also in erster Linie darauf zurück, dass der Anteil der chronischen gegenüber den akuten Krankheiten ansteigt. Doris Schaeffer schreibt, dass im Jahr 2006 schon 44 Prozent der gesetzlich Versicherten und 36,5 Prozent der privat Versicherten unter einer chronischen Erkrankung litten (2009: 7). Die höhere Quote der gesetzlich gegenüber den privat Versicherten ist ein weiteres Indiz für den lange bekannten Sachverhalt, dass die unteren Sozialschichten von chronischen Krankheiten weit häufiger betroffen sind als der Bevölkerungsdurchschnitt. Dieser Zusammenhang mit der sozialen Schichtung ist seit den siebziger Jahren auch für andere als körperliche Behinderungsarten bekannt. So weist etwa Walter Thimm in seinem Buch Mit Behinderten leben (1977: 52) darauf hin, dass die Schüler der Sonderschulen für Lernbehinderte 'fast ausschließlich aus unteren sozialen Schichten' stammen. In weniger stark ausgeprägtem Maße trifft dies auch auf seh- und hörbehinderte Schüler/innen zu (ebd.: 62-70).

1.1 Integrationsfirmen und Werkstätten für behinderte Menschen als marginale Arbeitsorganisationen im chronischen Zwiespalt zwischen Markt- und Sozialorientierung

Von den gut drei Millionen Schwerbehinderten im erwerbsfähigen Alter nimmt nur etwa die Hälfte am Arbeitsleben teil. Laut dem Teilhabebericht erhielten im Jahr 2010 knapp 1,6 Millionen Menschen Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (BMAS 2013: 131). Eine Erwerbsminderung oder -unfähigkeit ist in den meisten Fällen mit der Anerkennung der Behinderteneigenschaft verbunden. Im Jahr 2010 gab es gut 1,2 Millionen schwerbehinderte Erwerbspersonen (abhängig Beschäftigte und Arbeitslose). Von diesen waren ungefähr 175.000 arbeitslos (ebd.: 142) und gut eine Million in Beschäftigung (ebd.: 134).

In den amtlichen Angaben über die Zahl der schwerbehinderten Beschäftigten werden irreführender Weise die ihnen rechtlich 'gleichgestellten' Personen mitgezählt. Eine Gleichstellung erfolgt auf Antrag der betroffenen Person durch die Arbeitsagentur. Die rechtlichen Grundlage dafür ist Paragraph 2 Absatz 3 des Sozialgesetzbuches IX, der besagt: 'Schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden sollen behinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, '[...] wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz [...] nicht erlangen oder nicht halten können [...].' In diesem Text wird der Ausdruck Behinderte als Bezeichnung für das gesamte Spektrum der Menschen mit einem amtlich anerkannten Grad der Behinderung verwendet, schließt also die Schwerbehinderten mit ein. Das ist im formal-logischen Sinne korrekt, im Unterschied zur üblichen umgekehrten Praxis, von der Teilmenge der Schwerbehinderten zu reden und eigentlich eine größere Menge zu meinen, in der auch die 'nur' Gleichgestellten mit eingeschlossen sind.

Zu den arbeitenden Behinderten gehören außer denjenigen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch gut 300.000 Beschäftigte in 684 Werkstätten für behinderte Menschen (im Folgenden: Werkstätten). Diese Werkstattbeschäftigten haben nur ein (erst seit 1996 rechtlich kodifiziertes) 'arbeitnehmerähnliches' Verhältnis zur Werkstatt und sind damit keine Erwerbspersonen. Sie gelten im Sinne von Paragraph 43 Absatz 2 Sozialgesetzbuch VI als 'voll erwerbsgemindert', da sie 'wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein'. Gleichwohl arbeiten die meisten Werkstattbeschäftigten in Vollzeit, wobei sie im Jahr 2010 im Durchschnitt ein monatliches Entgelt von 180 Euro erzielten.

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Vorwort10
1. Einleitung: Zum Spannungsverhältnis zwischen der Ökonomisierung von sozialen Dienstleistungen und der aktuellen Inklusions-Emphase12
1.1 Integrationsfirmen und Werkstätten für behinderte Menschen als marginale Arbeitsorganisationen im chronischen Zwiespalt zwischen Markt- und Sozialorientierung14
1.2 Die sozialpolitische Forderung nach mehr »Inklusion« unter den Bedingungen voranschreitender »Exklusion«23
1.3 Die Umsetzung von Inklusion als Testfall für »gesellschaftliche Selbststeuerung« im Sinne von Amitai Etzioni29
1.4 Ausblick32
2. Sozialtheoretischer Bezugsrahmen: Zur Bewältigung von marginalen Situationen im Lebenslauf36
2.1 Die Zweck-Mittel-Relation in der soziologischen Handlungstheorie36
2.2 Inspirationsquellen von Robert Parks Konzept der Marginalität44
2.3 Das psychologische Konzept der Ambivalenz57
2.4 Zur frühen Chicago School of Sociology58
2.5 Marginalität, sozialer Wandel und die Konflikttheorie69
2.6 Ausgewählte interaktionistische Beiträge zur Rehabilitationssoziologie79
2.7 Gesellschaftliche Individualisierung im »Zeitalter der Kontingenz«90
3. »Zwischen den Welten« – die Firmen für psychisch Kranke der achtziger Jahre99
3.1 Die Firmen für psychisch Kranke als ungeplante Nebenfolge der Psychiatriereform103
3.2 Marginalität bei Psychiatern124
3.3 Die Verringerung der »sozialen Distanz« zwischen Beschäftigten mit und ohne Behinderung in Firmen für psychisch Kranke127
3.4 Die erste Annäherung an den allgemeinen Arbeitsmarkt131
3.5 Das Konzept der »sozialen Welten« bei Tamotsu Shibutani und Anselm Strauss136
4. Das Konzept der Marginalität: Zwiespältige Identität als Folge von doppelter und partieller Assimilation142
4.1 Zur begrifflichen Präzisierung des Marginalitätskonzepts142
4.2 Zur Ausweitung des Marginalitätskonzepts auf Kollektive, Institutionen und Organisationen148
4.3 Aktuelle Beispiele von Marginalität in Deutschland154
4.4 Analysen des Zusammenhangs von Marginalität und Behinderungen bei vier Autoren159
4.5 Marginalität bei intellektuell beeinträchtigten Menschen179
5. Behinderte Menschen auf und vor dem allgemeinen Arbeitsmarkt204
5.1 Das System von Beschäftigungspflichtquote und Ausgleichsabgabe und die Grenzen seiner Wirksamkeit204
5.2 Mobbing am Arbeitsplatz als Folge oder Ursache von Behinderungen222
5.3 Psychisch beeinträchtigte Menschen230
5.4 Intellektuell beeinträchtigte Menschen242
6. Die Assimilation der Integrationsfirmen an den allgemeinen Arbeitsmarkt277
6.1 Die Erschließung zusätzlicher Geschäftsfelder279
6.2 Die offizielle Anerkennung als Teil des allgemeinen Arbeitsmarkts284
6.3 Marginalität bei Beschäftigten von Integrationsfirmen287
6.4 Übergänge von behinderten Beschäftigten aus Integrationsfirmen in Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarkts328
7. Werkstätten für behinderte Menschen als marginale Arbeitsorganisationen335
7.1 Zur Geschichte der Werkstätten336
7.2 Die steigende Relevanz der Funktion der Werkstätten als Auffangbecken für die am allgemeinen Arbeitsmarkt nicht (mehr) Konkurrenzfähigen347
7.3 »Abkühlung« als Voraussetzung der Werkstattmitgliedschaft365
7.4 Marginalität bei Werkstattbeschäftigten373
7.5 Ausgelagerte Werkstattarbeitsplätze als potenziell marginale Positionen380
7.6 Marginalität beim nicht behinderten Werkstattpersonal387
7.7 Eine kritische Gesamtbetrachtung der Werkstätten390
8. Die gegenseitige Annäherung von Integrationsfirmen und Werkstätten398
8.1 Der steigende Anteil von psychisch beeinträchtigten Menschen in Werkstätten398
8.2 Der sinkende Anteil von psychisch beeinträchtigten Menschen in Integrationsfirmen411
8.3 Ausgründungen von Integrationsfirmen aus Werkstätten414
8.4 Der hohe Anteil von schwerbehinderten Beschäftigten in vielen Integrationsfirmen417
9. Personen und Betriebe in marginalen Situationen: Zusammenfassung und offene Fragen422
9.1 Zur sozialtheoretischen und gegenwartsdiagnostischen Einordnung des Konzepts der Marginalität422
9.2 Behinderte Personen in marginalen Situationen431
9.3 Marginale Arbeitsorganisationen438
9.4 Offene Fragen und Probleme446
Literatur455

Weitere E-Books zum Thema: Wirtschaftspolitik - politische Ökonomie

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Weitere Zeitschriften

Atalanta

Atalanta

Atalanta ist die Zeitschrift der Deutschen Forschungszentrale für Schmetterlingswanderung. Im Atalanta-Magazin werden Themen behandelt wie Wanderfalterforschung, Systematik, Taxonomie und Ökologie. ...

Bibel für heute

Bibel für heute

BIBEL FÜR HEUTE ist die Bibellese für alle, die die tägliche Routine durchbrechen wollen: Um sich intensiver mit einem Bibeltext zu beschäftigen. Um beim Bibel lesen Einblicke in Gottes ...

bank und markt

bank und markt

Zeitschrift für Banking - die führende Fachzeitschrift für den Markt und Wettbewerb der Finanzdienstleister, erscheint seit 1972 monatlich. Leitthemen Absatz und Akquise im Multichannel ...

DSD Der Sicherheitsdienst

DSD Der Sicherheitsdienst

Der "DSD – Der Sicherheitsdienst" ist das Magazin der Sicherheitswirtschaft. Es erscheint viermal jährlich und mit einer Auflage von 11.000 Exemplaren. Der DSD informiert über aktuelle Themen ...

DULV info

DULV info

UL-Technik, UL-Flugbetrieb, Luftrecht, Reiseberichte, Verbandsinte. Der Deutsche Ultraleichtflugverband e. V. - oder kurz DULV - wurde 1982 von ein paar Enthusiasten gegründet. Wegen der hohen ...

e-commerce magazin

e-commerce magazin

PFLICHTLEKTÜRE – Seit zwei Jahrzehnten begleitet das e-commerce magazin das sich ständig ändernde Geschäftsfeld des Online- handels. Um den Durchblick zu behalten, teilen hier renommierte ...

building & automation

building & automation

Das Fachmagazin building & automation bietet dem Elektrohandwerker und Elektroplaner eine umfassende Übersicht über alle Produktneuheiten aus der Gebäudeautomation, der Installationstechnik, dem ...

F- 40

F- 40

Die Flugzeuge der Bundeswehr, Die F-40 Reihe behandelt das eingesetzte Fluggerät der Bundeswehr seit dem Aufbau von Luftwaffe, Heer und Marine. Jede Ausgabe befasst sich mit der genaue Entwicklungs- ...