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Das Leben

Eine kritische Gebrauchsanweisung

AutorDidier Fassin
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl150 Seiten
ISBN9783518754146
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR

Das Leben gilt, in Adornos Worten, seit der Antike als der eigentliche Bereich der Philosophie, die nach dem richtigen und guten Leben fragt. Seit etwas mehr als einem Jahrhundert ist das Leben aber auch zu einem Gegenstand der Sozialwissenschaften geworden. Der renommierte französische Mediziner, Anthropologe und Soziologe Didier Fassin regt in seinem faszinierenden Buch nun zu einem kritischen Dialog zwischen Philosophie und Sozialforschung an.

Zur Debatte stehen dabei drei Konzepte: Die »Formen des Lebens« untersucht Fassin angesichts der widersprüchlichen Interpretationen von Ludwig Wittgensteins Begriff der Lebensform. Mit der »Ethik des Lebens« beschäftigt er sich unter Bezug auf Walter Benjamins Idee der Heiligkeit des Lebens als höchstem Gut. Und die »Politik des Lebens« erkundet Didier Fassin im Anschluss an Michel Foucaults Konzept der Biopolitik. Gestützt auf zahlreiche ethnografische Fallstudien, die zeigen, wie Leben in verschiedenen kulturellen und historischen Kontexten betrachtet und erfahren wird, entwickelt Fassin eine kritische Ethnologie gegenwärtiger Gesellschaften.



<p>Didier Fassin, geboren 1955, ist James D. Wolfensohn Professor of Social Science am Institute for Advanced Study in Princeton und Studiendirektor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Zuvor war er Vizepräsident von Ärzte ohne Grenzen und ist gegenwärtig Präsident des französischen Comité Médical pour les Exilés (COMEDE). Für sein Werk hat er zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten, zuletzt 2016 die Goldmedaille der Schwedischen Gesellschaft für Anthropologie und Geografie.</p>

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Leseprobe

Vorrede
Minima Theoria


Erfüllte Leben geradenwegs seine Bestimmung,
so würde es sie verfehlen. […] Der Gedanke
wartet darauf, daß eines Tages die Erinnerung
ans Versäumte ihn aufweckt und ihn in die
Lehre verwandelt.

Theodor W. Adorno, Minima Moralia, 1951

In den ersten Zeilen der »Zueignung« der zu weiten Teilen während des Zweiten Weltkriegs im US-amerikanischen Exil verfassten Minima Moralia an seinen Freund und Kollegen Max Horkheimer erinnert Theodor W. Adorno mit Bitterkeit und Wehmut an das, »[w]as einmal für den Philosophen Leben hieß«.[1] In den modernen Gesellschaften, fährt er fort, habe nämlich der materielle Produktionsprozess jenes Leben »zur ephemeren Erscheinung« herabgestuft, die Konsumsphäre biete nur noch einen »Schein des Lebens« oder vielmehr ein »Zerrbild wahren Lebens«. Unter diesen Bedingungen beziehe sich »[d]ie traurige Wissenschaft« der Denker seiner Zeit, wie er seinen Text in ironischer Bezugnahme auf das berühmte Buch von Nietzsche bezeichnet, »auf einen Bereich, der für unvordenkliche Zeiten als eigentliches Gebiet der Philosophie galt«, mittlerweile aber »der intellektuellen Nichtachtung, der sententiösen Willkür und am Ende der Vergessenheit verfiel: die Lehre vom richtigen Leben.« Erwähnenswert ist übrigens an dieser Stelle, dass der deutsche Ausdruck »das richtige Leben« im Englischen mit »good life« übersetzt wird. Das liegt daran, dass er die Doppelbedeutung von »gutem Leben« und »richtigem Leben« hat und damit ein Beispiel für das semantische Spannungsverhältnis abgibt, das im Zentrum der Moralphilosophie zwischen der ethischen Beziehung zu sich selbst und der ethischen Beziehung zu anderen Menschen besteht.

Wie dem auch sei: Die pessimistische Bilanz des immer noch bedeutendsten Vertreters der ersten Generation der Frankfurter Schule und in dieser Eigenschaft eines der Begründer der »kritischen Theorie der Gesellschaft« läutet die Totenglocke für das, was einmal das Leben in seiner ganzen moralischen Fülle war — ob er es nun als wahr, gerecht oder gut bezeichnet. Davon bleibt nur eine »entfremdete Gestalt«, deren Sackgassen er sich in einer Reihe von kurzen und düsteren Meditationen über ganz alltägliche Phänomene und ganz gewöhnliche Gegenstände der heutigen Welt zu zeigen bemüht. Diese Meditationen bieten mithin, was Rahel Jaeggi »eine Kritik des Kapitalismus als Lebensform« nennt, das heißt nicht nur als ungleiches Produktionsverhältnis, sondern auch als herabwürdigende Daseinsweise: Jaeggi zufolge bringen sie gleichzeitig eine »Ethik und Ethikkritik« zum Ausdruck, die Möglichkeit eines anderen Lebens und zugleich die Unmöglichkeit, es herbeizuführen.[2] Adornos bewusst bruchstückhafte Überlegungen zu den kulturellen Praktiken der Männer und Frauen seiner Zeit werfen nämlich die Frage nach den gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen auf, die die Einrichtung einer, wie er es nennt, »menschenwürdigeren Ordnung« erlauben würden. Davon seien wir allerdings noch weit entfernt, räumt er ein, insofern der »Blick aufs Leben […] übergegangen [ist] in die Ideologie, die darüber betrügt, daß es keines mehr gibt«. Manifestation einer »Verzweiflung«, die durch das Schreiben im Schatten der Ruinen von Nazideutschland noch stärker hervortritt.

Seit dem Erscheinen dieses Textes sind 65 Jahre vergangen, und der Kapitalismus, den wir kaum noch beim Namen nennen — und mittlerweile lieber mit einem zweideutigen Euphemismus als »Liberalismus« bezeichnen —, scheint noch größere Triumphe zu feiern und noch unumstrittener zu sein als zu der Zeit, als Adorno sein Buch schrieb, während die tragischen Lehren des Zweiten Weltkriegs und seiner Völkermorde, aus denen sich das Denken seiner Zeitgenossen auf schmerzliche Weise speiste, anscheinend in dem Maße verblassen, wie sich Identitätsdiskurse Gehör verschaffen und autoritäre Versuchungen Bahn brechen: Die Gewaltsamkeit und Unsicherheit einer aus dem Gleichgewicht geratenen Welt werden zur Legitimation aller möglichen Formen von Ausschließung und Unterdrückung herangezogen. Dies sind beunruhigende Anzeichen für ein neues »Zeitalter der Angst«, um den Titel des im selben Zeitraum von dem britischen Schriftsteller W. ‌H. Auden geschriebenen Langgedichts wieder aufzugreifen, denn ein solches Auf und Ab des demokratischen Lebens belastet die Menschenleben auf grundverschiedene und oftmals ungleich starke Weise.[3] Das heißt, dass die Minima Moralia nichts von ihrer Klarsichtigkeit verloren haben, auch wenn es angebracht ist, ihre Analysen den heutigen Realitäten anzupassen, damit man von neuem über jenes »beschädigte Leben« nachdenken kann, von dem im Untertitel des Buchs die Rede ist. Diesbezüglich muss der paradoxe Charakter der Überlegungen unterstrichen werden, die Adorno anstellt. Angesichts des Ausmaßes der Katastrophe, die der Zweite Weltkrieg und die Vernichtungspläne des Naziregimes darstellen, wählt Adorno das, was Miguel Abensour die »kleine Form« nennt, die »wesensmäßig mit einer Rebellion gegen die Welt des Kriegs und des Schreckens verbunden ist«.[4] Daher der minimalistische Titel; daher die Rückführung der Perspektive auf das einzelne Individuum; daher die Forderung nach einer Philosophie, die für die Verteidigung des — wahren, richtigen oder guten — Lebens einschlägig ist.

Ich möchte meinen Ausführungen trotzdem eine andere Stoßrichtung geben, indem ich das Individuum wieder in die Gesellschaft und in die Welt hereinhole: in die Gesellschaft heißt in den relationalen Raum, der es konstituiert; in die Welt heißt in den globalen Raum, in dessen Rahmen es sich bewegt. Mehr als die Wechselfälle des ethischen Subjekts, denen Adorno seine Überlegungen widmet, versuche ich, die Nöte der politischen Gemeinschaft zu durchschauen. Eher als mit den kulturellen Entwicklungen, die er in Frage stellt, beschäftige ich mich mit der Entschlüsselung struktureller Phänomene. Und zu diesem Zweck beabsichtige ich, die Kritik der Lebensweisen, die er formuliert, durch eine Kritik des Umgangs mit dem und mit den Leben zu ersetzen. Nicht: Wie leben wir? Oder: Wie sollen wir leben? Sondern eher: Welchen Wert messen wir dem menschlichen Leben als abstrakter Vorstellung bei? Und auch: Wie bewerten wir Menschenleben als konkrete Realitäten? Jeder Spalt und erst recht jeder Widerspruch zwischen der Wertschätzung des Lebens im Allgemeinen und der Herabwürdigung mancher Leben im Besonderen ist dabei für eine moralische Ökonomie des Lebens in den Gesellschaften der Gegenwart von Bedeutung.

Unter moralischer Ökonomie verstehe ich die Produktion, Zirkulation, Aneignung und Leugnung von Werten, aber auch von Affekten im Zusammenhang mit einem Gegenstand, einem Problem oder, weiter gefasst, einem sozialen Phänomen — im vorliegenden Fall dem Leben. Dieser Begriff macht sowohl Anleihen bei der Analyse, die E. ‌P. Thompson vorgenommen hat, als er die Hungeraufstände im England des 18. Jahrhunderts mit Hilfe der moralischen Ökonomie der Bauern erklärte, das heißt mit Hilfe der Normen und sozialen Verpflichtungen, nach denen sich ihre Erwartungen und Praktiken richteten, als auch bei der Interpretation, die Lorraine Daston vorgelegt hat, als sie die Wissensproduktion im 17. Jahrhundert untersuchte und dabei die Rolle der moralischen Ökonomie der Wissenschaft unterstrich, das heißt der Werte und Affekte, die von den Gelehrten geteilt wurden.[5] Er rückt aber auch an mehreren wesentlichen Punkten davon ab. Im Unterschied zu Thompson begrenze ich die moralische Ökonomie nicht allein auf den Aspekt von Gütern und Dienstleistungen, sondern weite sie auf alle sozialen Konfigurationen aus, die für die Beschreibung des moralischen Zustands der Welt einschlägig sind: Die Art und Weise, wie das Leben betrachtet und wie mit den Leben umgegangen wird, ist dabei einer der stärksten Analysatoren. Im Unterschied zu Daston interessiere ich mich weniger für eine stabile Ordnung, um die herum sich ein Konsens bilden kann, als für die Schwankungen, denen die Werte und Affekte im Laufe der Zeit unterliegen, und für die Art und Weise, wie sie dabei in ein Spannungs- oder Konkurrenzverhältnis treten: Die Entwicklungsschritte und Widersprüche der abstrakten Wertschätzung des Lebens und der konkreten Bewertung von Leben sind wesentlich für...

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