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Der Patient H. M.

Eine wahre Geschichte von Erinnerung und Wahnsinn

AutorLuke Dittrich
VerlagHerbig
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl464 Seiten
ISBN9783776628395
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Im Sommer 1953 wird Henry G. Molaison, der schon seit vielen Jahren an heftigen epileptischen Anfällen leidet, im Alter von 27 Jahren von dem Chirurgen William Scoville operiert. Scoville möchte mit der Entnahme von zwei Dritteln des Hippocampus die Epilepsie heilen. Nach der Operation leidet Molaison bis zu seinem Tod 2008 stattdessen an schwerer Amnesie. Durch seine besondere Erinnerungsschädigung wird 'Patient H. M.', wie man ihn fortan nennt, zu einem hochbegehrten 'Versuchskaninchen' für die Disziplinen Gedächtnisforschung und Neuropsychologie - und zum am intensivsten untersuchten Forschungsobjekt aller Zeiten. Dies ist seine Geschichte und gleichzeitig die Geschichte des Chirurgen Scoville. Luke Dittrich enthüllt verstörende, lange geheim gehaltene Tatsachen aus Scovilles Leben als Wissenschaftler und Privatmann und gibt faszinierende Einblicke in die Geschichte der Hirn- und Gedächtnisforschung. Übersetzt von Pascale Mayer.

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Leseprobe

Kapitel Sechs

DER BISAMAPFELWEG

Da waren Leute im Keller. Großmutter konnte sie hören. Sie hatte gedacht, sie sei allein im Haus, allein mit ihren Kindern, die in ihren Zimmern schliefen. Aber nun schien es, als hätte sie sich geirrt. Die Kinder schliefen, während meine Großmutter es nicht konnte. Allerdings konnte sie jemanden im Keller hören.

Sie hatte schreckliche Angst.

Ende Januar 1944. Ein gemütliches Einfamilienhaus in der Frankland Street in Walla Walla, Washington. Mein Großvater war, wie immer, bei der Arbeit. In dieser Nacht hatte er Nachtdienst am U. S. Army’s McCaw General Hospital, wo er Leiter der Neurochirurgie war. Am Tag zuvor war er gerade erst von einer einwöchigen Konferenz in Spokane zurückgekehrt. Meine Großeltern waren seit zehn Jahren verheiratet, und so war es schon immer gewesen: Seine Arbeit hatte ihn von zu Hause weggerissen.

Die Hochzeit hatte am letzten Tag seines Praktikums am Hartford Hospital stattgefunden, und 1935 zogen meine Großeltern von Hartford, Connecticut, nach Ithaca, New York, wo mein Großvater Assistenzarzt der Psychiatrie an der Cornell University wurde. Von dort zogen sie um nach Manhattan, wo er seine Facharztausbildung in Neurologie am Bellevue Hospital abschloss. Kurz darauf folgte eine Stelle als Assistenzarzt der Neurochirurgie am Massachusetts General Hospital, und von dort ging es ziemlich schnell hintereinander in drei andere Krankenhäuser und Kliniken, von Baltimore bis Boston, wo er unter James Poppen und Walter Dandy, zwei der besten Neurochirurgen ihrer Zeit, seine Fähigkeiten weiterentwickelte, bevor er 1939 wieder nach Hartford zurückging und die neurochirurgische Abteilung des Hartford Hospitals gründete. Die Neurochirurgie war längst mehr als eine Arbeit für ihn – sie war zu seiner Berufung geworden. »Die Neurochirurgie war mein großer Traum«, hat er Jahre später geschrieben. »Ich konnte die damalige Grübelei in der Neurologie und Psychiatrie nicht ausstehen. Die technische Perfektion Poppens und ein Sommer mit Dandy haben mich total begeistert. Wie konnte jemand etwas anderes als sein Fachgebiet wählen als die Neurochirurgie?! Herzchirurgie? Nur eine Pumpe! Thoraxchirurgie? Nur ein Beatmungsgerät! Orthopädische Chirurgie? Solche plumpen Geräte! Urologie? Ein Kanalsystem, das die morbideren unter den Freud-Anhängern anspricht!« Er machte sich die Gehirnchirurgie zu Eigen – dieses schwierigste, anspruchsvollste und folgenschwerste aller medizinischen Fachgebiete. Und er tat es von ganzem Herzen.

Seit fünf Jahren hatte er Neurochirurgie praktiziert, seitdem die U. S. Army ihn in den aktiven Dienst berufen und ihn zum Major der Sanitätstruppe gemacht hatte. Er begann seine militärische Laufbahn am Walter Reed General Hospital in Washington, D. C., machte allerdings oft Hausbesuche, die ziemlich weit entfernt waren. Einmal flog man ihn beispielsweise in einem Bomber zum arktischen Luftwaffenstützpunkt in Goose Bay, Labrador, Kanada, wo er im tiefsten Winter eine Kopfverletzung behandelte. 1943 schickte die Army ihn an die Westküste der Vereinigten Staaten, nach Walla Walla, Washington. Dort behandelte er die übel zugerichteten Soldaten, die aus dem Südpazifik heimgekehrt waren. Er machte sein Arbeit gut. Seine Arbeit gab ihm Energie, und sie erhöhte ihn. Die Selbstzweifel aus Schulzeiten waren längst verflogen. An ihre Stelle war eine neue Selbstsicherheit getreten sowie eine ironische, optimistische Lebensauffassung. In diesem Jahr, als Yale alle Studenten des Jahrgangs 1928 dazu aufrief, einen zusammenfassenden Satz ihrer Lebensphilosophie einzuschicken, schrieb mein Großvater Folgendes: »Wir sind nichts anderes als eine hochgezüchtete Ausgabe von kleinen Blumen und Fischen, und wir sollten uns darüber nicht so aufregen, wie Hitler es tut.«

In der Zwischenzeit schmiss meine Großmutter den Haushalt. Während ihr Mann seinen Lebensinhalt gefunden hatte und eine steile Karriere hinlegte, versuchte sie, sich den Anforderungen einer Mutter anzupassen, die ihre Kinder fast fünftausend Kilometer entfernt von zu Hause großziehen musste. Sie hatten drei Kinder bekommen, im Abstand von jeweils zwei Jahren. 1944 war das älteste, Barrett, acht Jahre und das jüngste, Peter, vier Jahre alt. Meine Mutter, Lisa, war das mittlere Kind und sechs Jahre alt. Mein Großvater war Herr seiner Operationssäle, und meine Großmutter war Herrin im Haushalt. Sie kümmerte sich um alles, was tagein, tagaus erledigt werden musste: Schulangelegenheiten, Mahlzeiten, Putzen. Sie kam zurecht, aber mit jedem Kind wurde es etwas schwieriger, und das letzte Jahr war das schwierigste gewesen. Mein Großvater war zwei Monate vor ihr nach Walla Walla aufgebrochen, sodass sie sich ganz alleine um den Umzug an die Westküste kümmern musste. Schließlich fuhr sie mit den Kindern in einem Lincoln Convertible quer durchs Land. Dann richtete sie sich in ihrem neuen Leben ein, einem neuen Haus, und kümmerte sich praktisch alleine um meine Mutter und meine beiden Onkel, wie sie es auch schon zuvor getan hatte, nur dass sie es jetzt ohne die Unterstützung ihrer Familie und Freunde tun musste. In den letzten Monaten war ihr Gewicht von neunundvierzig auf knapp vierzig Kilo gesunken. Sie war schon immer schlank und zierlich gewesen, aber jetzt war sie ein Hauch von Nichts.

Und jetzt waren da Leute im Keller. Oder – das wurde ihr klar – die Leute waren im Keller gewesen. Aber sie waren nach oben gezogen und jetzt hörte sie sie plötzlich hinter einer der verschlossenen Türen. Sie erkannte die Stimmen. Sie gehörten den einzigen Menschen, mit denen sie hier Freundschaft geschlossen hatte. Es waren Leute aus der Nachbarschaft, nicht weit entfernt. Was machten die hier? Sie lauschte den Stimmen und bemühte sich, zu verstehen, was sie sagten. Sie konnte nur einige wenige Wortfetzen verstehen, aber es war genug, um sie davon zu überzeugen, dass etwas Schreckliches bevorstand. Man plante irgendein Komplott gegen sie und ihren Mann. Ihre Freunde, die in ihr Haus geschlichen waren, flüsterten. Sie traute sich nicht, die Tür zu öffnen. Die Nacht verstrich nur langsam.

Als sie am nächsten Morgen erwachte, fragte sie sich, ob sie geträumt hatte. Da waren doch keine Leute im Haus gewesen, oder? Um 06:00 Uhr, bevor die Kinder aufwachten, schlich sie aus dem Haus, sprang auf ihr Fahrrad und fuhr ein paar Straßen weiter zu dem Haus eines flüsternden Freundes. Sie klingelte und wartete, bis jemand ihr öffnete, um sicherzugehen, dass ihre Freunde auch da waren und sich nicht irgendwo in ihrem Haus versteckten. Als sie die Tür öffneten, sagte sie, dass sie in Eile sei und gleich wieder gehen müsse, nicht bleiben könne, und dann sprang sie wieder auf ihr Rad und fuhr zurück nach Hause, um Frühstück zu machen. Es war Samstag, und die Kinder hatten schulfrei, also musste sie sich um sie kümmern.

Im Laufe des Morgens rief sie dreimal ihren Mann an. Jedes Mal wurde ihr gesagt, dass er beschäftigt sei, eine Operation durchführte, und sie erst später zurückrufen könne. Aber eine innere Stimme sagte ihr, dass das eine Lüge war. Die logen sie an. Ihr Mann war nicht im Operationssaal, ihr Mann war im Gefängnis. Er war vors Militärgericht gestellt worden. Sie hatten ihn!

Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Aber etwas musste sie doch tun. Sie versuchte, sich zu beschäftigen. Sie ging die Treppe rauf, sie ging die Treppe runter. Sie sah ihren Kindern beim Spielen zu. Ihr fiel auf, dass der Jüngste, Peter, nicht mitspielte. Er spielte nicht und sah sie an. Er sah sie an und machte Handbewegungen. Er versuchte, ihr ohne Worte etwas mitzuteilen. Genau wie in der Nacht zuvor, als sie versucht hatte, die geflüsterten Wortfetzen hinter der Tür zu entschlüsseln, versuchte sie nun, Peters Handbewegungen zu interpretieren. Zuerst verstand sie nichts. Aber plötzlich verstand sie doch, und sie wusste, was sie zu tun hatte.

Sie kochte den Kindern Mittagessen und schickte sie dann zum Spielen zu Freunden. Als sie fort waren, ging sie zum Haus eines Nachbarn und betrat dessen Garage. Es stand ein Auto darin, und sie krabbelte darauf. Sie zog ihre Bluse aus. Sie begann, die Bluse in lange Stoffstreifen zu zerreißen und knotete die einzelnen Teile aneinander. Das war es, was Peter ihr hatte sagen wollen. Das war es, was sie tun sollte.

Als sie mit dem Aneinanderknoten der Stofffetzen fertig war, nahm sie das eine Ende des Seils, das sie gerade selbst gemacht hatte, und band es an einen Balken im Garagendach. Dann nahm sie das andere Ende mit der Schlinge und legte sie sich um den Hals.

Ein Nachbar hat meine Großmutter gefunden, wie sie da stand, halb nackt, und versuchte, sich mit einem selbst gemachten Seil zu erhängen. Der Nachbar machte einen Telefonanruf. Mein Großvater kam etwa um 15:00 Uhr nach Hause, und meine Großmutter erzählte ihm alles. Alles über das Komplott und das Militärgericht und die flüsternden Freunde. Was sie versucht hatte zu tun, wäre doch im Sinne aller gewesen. Es war doch der einzige Weg, zu verhindern, dass sich diese Dunkelheit weiter ausbreiten würde. Er hörte ihr zu, schockiert. Es hatte keinerlei Anzeichen gegeben. Jedenfalls keine, die er bemerkt hatte. Keine, die irgendjemand bemerkt hatte. Es war, als hätten seine Frau und er ihr ganzes Leben lang dieselbe Welt bewohnt, und nun, ohne Vorwarnung, war sie in eine neue Welt gezogen. Eine Welt, die vollkommen unsichtbar für ihn war.

Sie gingen zusammen ins Krankenhaus. Ein Psychiater befragte sie. Sie wurde auf einer offenen Station untergebracht. In dieser Nacht blieb mein Großvater bei ihr, er schlief bei ihr im Krankenbett, während jemand zu Hause die Kinder betreute. Sie war zärtlich, streichelte ihn, bat ihn, sie zu lieben, aber dann wurde sie unruhig,...

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